Meditation und ihr philosophischer Gehalt

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Mi 15. Apr 2020, 06:44

Als kleine serviceleistung des Personals habe ich hier mal eine Krone Abteilung eingerichtet > viewtopic.php?t=835




herbert clemens
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Sa 18. Apr 2020, 14:43

Persönliche Mails gehen bei mir vor, so dass ich es wieder noch nicht geschafft habe, für Dialogos Gedanken aufzuschreiben. Einer an Meditation interessierten Freundin schrieb ich folgendes und hoffe damit gleichzeitig ein wenig philosophischen Hintergrund für das Meditationsgespräch zu geben,
„bevor ich eine PC-Aktivität angehe, noch einmal inne zu halten.
Als erstes schaue ich auf meine Befindlichkeit.
Müde nach schlechtem Schlaf.
J.s Vorwurf aufgrund meiner letzten Mail hat mich immer wieder beschäftigt und drängt mich zu antworten.
Wir lesen ja beim Morgenkaffee u.a. Caddy.
Ein Ausschnitt zum 18.4.; “Vergeude keine Zeit damit, dich um das Chaos und die Verwirrung in der Welt zu kümmern, sondern fang an, die Dinge in Dir selbst in Ordnung zu bringen. ...
Der Friede hat seinen Ursprung im Innern....
Sei still ...”
Ist meine Schlaflosigkeit ein Zeichen, dass ich zu wenig, in die Stille gehe?
Es ist, wie es ist. Diese Vergangenheit ist vergangen.
Im Sinne von Thich Nhat Hanh kann ich dieses Gefühl nur liebevoll umarmen und
Beobachter dieses Gedankens werden.
Mein höheres Selbst ist in der Lage das biographische Ich als Zeuge zu betrachten
und gewinnt Kraft darin, sich in der geistigen Dimension der Wirklichkeit beheimatet zu finden.
(In manchen Gedichten von Rilke poetisch zum Ausdruck gebracht.)
Ist es eine Frage der Zeit, wie lange ich in der Stille verharre, um zu einem guten “Ergebnis” zu kommen?
Wohl nicht, obwohl es wohl auch einer gewissen Zeit der Ruhe bedarf um zu sich, zum Göttlichen in mir, zum Selbst zu finden.
Und dann wieder im Hier und Jetzt des Alltags einzutauchen.
Ich öffne das Fenster,
genieße das Atmen der frischen Luft
die Knospen des Apfelbaumes sind weiter aufgegangen
rosa-weiß strahlt es mir entgegen
ich hoffe, du konntest mit meinen Innesein etwas anfangen
ich fange jetzt hurtig mit meinem Alltag an.“
(Ich habe nicht vergessen, dass ich nicht verantwortungslos bin, was Corona angeht. Doch meine persönlichen Beziehungen lassen es jetzt noch nicht zu, all diese Gedanken aufzuschreiben, Bis bald)




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Jörn Budesheim
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Di 11. Aug 2020, 08:57

Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 11. Aug 2018, 12:55
Irgendwelche Vorstellungen über Meditation haben die meisten Menschen, viele haben Meditation irgendwann mal probiert.

Eine Einführung in das Thema könnte dieser Text sein:
psyheu hat geschrieben : Aller Anfang ist schwer – Meditation (1)

Ich hatte vielleicht einfach Glück, mein erstes Mal in Meditation war schön. Es war eine geführte Meditation, aus der Konserve, damals noch mit Kassette. Mit einem „Klack“ war es dann nach einer halben Stunde vorbei. Als ich danach die zweite Seite hörte, wusste ich am Ende, dass ich etwas Besonderes erlebt hatte. Ausgestattet mit Sendungsbewusstsein wollte ich meiner Mitwelt das Erlebnis auch zukommen lassen, das Ergebnis war, dass ich erkennen musste, dass niemand in meinen näheren Umfeld das wohl auch nur annähernd so wie ich empfand. Doch seitdem war wenigstens mein Interesse für das Thema Meditation geweckt, bis heute.

Was das für ein Empfinden war, vermochte ich anfangs noch nicht zu fassen, doch nach einiger Zeit war klar, dass es eine Art Heimatgefühl war, das ich mit der Meditation verband. Der Vorteil der geführten Meditation war ganz einfach deren Unkompliziertheit. Hinlegen, Augen schließen, zuhören, fertig.

Doch der Anfang kann auch anders sein. Die häufigere Vorstellung und vielleicht auch häufigere Praxis der Mediation ist die des Sitzens mit überkreuzten Beinen. Technisch ist das weitaus anspruchsvoller, der Rücken gerade, die Schultern aber entspannt und dann aufpassen, dass man nicht zusammensackt. Dann soll man noch auf den Atem achten, je nach Schule ganz bewusst oder mit geringer Aufmerksamkeit, gleichzeitig gibt es die Anweisung einfach alles was auftaucht mit Gleichmut zu betrachten, kommen und wieder gehen zu lassen und wenn man sich eines zu Anfang nicht gut vorstellen kann, dann, dass das irgendwen entspannt und jemals klappen könnte.

Das tut es dann auch zuverlässig bei den meisten nicht, wenn doch, ist man vermutlich ein Naturtalent für Meditation. Der Anfang ist eher so, dass man unruhig wird, vielleicht sogar leicht überfordert ist, von all den Anweisungen, die man erhält, man muss an dies, das und jenes denken, aber das ist wie Fahrrad- oder Autofahren, irgendwann Routine. Doch auch die muss man sich erst erwerben und das geht nur, wenn man sich wieder und wieder hinsetzt und das oft auftretende Feuerwerk des Körpers und der Empfindungen aussitzt. Viele Neulinge haben nach dem erstem Mal Sitzen klitschnasse Hände gehabt und das wohl, weil in der Meditation ein wesentlicher Impuls von uns bewusst unterdrückt wird, sofort zu reagieren. Wir sind es in aller Regel gewohnt, auf Einfälle, Empfindungen und körperliche Signale direkt einzugehen, sie zu agieren. Neuerdings kommt noch das Phänomen hinzu, eventuell aufkommende Langeweile sofort mit dem Smartphone zu bekämpfen. Alle paar Minuten durchbricht eine neue Nachricht unsere Alltagsverrichtungen und wir gewöhnen uns an das immer Neue (und sei dies auch noch so banal). Stille, Ruhe, Bewegungslosikgeit und keine Nachrichten, das kennen manche heute kaum noch.

In der Meditation reagiert man idealerweise auf nichts. An sich etwas Schönes in einer Zeit, in der viele Menschen über Überforderung klagen. Doch mit dieser Anweisung konfrontiert, dreht das Bewusstsein bei Vielen von uns ein wenig durch. Auf einmal scheint es das Wichtigste der Welt zu sein, dass man sich bewegt. Die Position noch mal ändert, korrigiert, dann kratzt es hier, zieht da, es schmerzt, kurz, man ist unentspannt, bis gerädert.

Quelle und mehr ...
Letztlich soll es aber um mehr gehen, nämlich die Frage, was am Ende von all dem zu halten ist. Sind das jetzt nur Hirngewitter?
Haben meditative Erfahrungen irgendeine objektive oder gesellschaftliche Releveanz, oder sind es lediglich rein subjektive Erfahrungen?
Wie hoch oder weit geht es hinuas oder nach innen, oder vielleicht tatsächlich in andere Welten? Was spricht für deren Existenz, was dagegen?
Ist das vielleicht nur ein biologischer Stand by Modus, der konstruktivistisch von A bis Z erklärt werden kann?
Kann man aus Meditationen echte Erkennntnisse ableiten und falls ja, welche wären das?
Stimmt es, dass man über Meditationserfahrungen nicht reden kann?
Was lehrt uns Meditation über das Verhältnis von Innen und Außen, sowie, über das Ich?
Dieser Beitrag ist vor zwei Jahren geschrieben worden. Das ist für mich ein kleines Jubiläum, denn so lange (oder so kurz) meditiere ich jetzt :-)




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Jovis
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Fr 14. Aug 2020, 18:08

Dieser Beitrag ist vor zwei Jahren geschrieben worden. Das ist für mich ein kleines Jubiläum, denn so lange (oder so kurz) meditiere ich jetzt :-)
Bewundernswert! Das scheint ja auf sehr fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Ich meditiere jetzt mehr oder weniger regelmäßig seit einem Vierteljahr, mal schauen, wie lange das anhält.

Ich habe die ersten zehn oder so Seiten dieses Themas gelesen, da hast du ja immer mal wieder berichtet, wie die Meditation auf dich gewirkt hat, das fand ich spannend. Kannst du jetzt nach zwei Jahren was dazu sagen? Würde mich interessieren, ob und wie sich das entwickelt hat.




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Jörn Budesheim
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Sa 15. Aug 2020, 07:28

Ich meditiere nach wie vor täglich. Alles ist sehr undramatisch und einfach :) ich habe keine höheren Ansprüche dabei, ich setze mich einfach auf mein Bänckchen mache 25 Minuten die Augen zu und was dann passiert, passiert. Viel mehr ist fast nicht. Ich versuche, eine gewisse Präsenz zu bewahren. Wenn die Gedanken anfangen zu kreisen und ich darin verschwinde, dann hole ich mich vorsichtig wieder zurück :)

Ansonsten kommen natürlich immer Gedanken durch die Tür rein, ich glaube, das kann man nicht wirklich ändern. Oft versuche ich, einfach "ganz Ohr" zu sein und alles durch diesen Sinn reinzulassen: das Rauschen der Autos, das Singen der Vögel, das Ticken der Uhr, das Knarren des Hauses und so weiter.

Manchmal kommen mir in der Meditation Ideen für Zeichnungen oder Gedichte ... im Grunde finde ich das ganz schön - Dann frage ich mich aber, ob das überhaupt noch Meditation ist, was ich da mache :)

Literatur dazu lese ich fast gar nicht mehr, aber das ist vielleicht einfach nur so eine Phase, vielleicht ändert sich das bald wieder.




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Jovis
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Sa 15. Aug 2020, 10:26

Das hört sich nach der perfekten Zen-Meditation an: "Offene Weite, nichts Besonderes." :)

Zu Geräuschen: Heute Morgen beim Meditieren regnete es leicht, ein wunderschönes Geräusch (Klang?), und ab und zu rauschte es lauter, wenn ein Auto vorbeifuhr. Und zum ersten Mal verstand ich plötzlich ein wenig, was es damit auf sich haben könnte, dass es im Idealzustand (Erleuchtung?) kein "ICH höre dies" (Subjektseite) noch ein "Ich höre DIES" (Objektseite) gibt, sondern einfach nur HÖREN. Ein Geräusch ist per Definition etwas, was gehört werden kann; aber wenn da kein Ohr ist, um zu hören, gibt es auch kein Geräusch, was auch immer in der phänomenalen Welt gerade passiert. Ich stellte mir den Jupiter vor, auf dem es vermutlich einen Höllenlärm gibt in den Wirbelstürmen. Aber ist dort wirklich "Lärm"? Wird es zu Lärm nicht erst in dem Moment, wo ein Ohr da ist um zu hören? Und wird ein Ohr nicht erst in dem Moment zum Ohr, da es etwas zu hören gibt? Ich bekam plötzlich eine Ahnung von dem, was im Buddhismus mit der wechselseitigen Abhängigkeit gemeint sein könnte.




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Jovis
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Sa 15. Aug 2020, 17:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 15. Feb 2020, 08:33

Ich überlege gerade, wo ich jetzt stehe. Ich habe vor längerer Zeit mal einen Interview mit ABT MUHÔ gelesen. Da hat er mit einer sehr schönen Metapher gearbeitet. Die Gedanken, die durch unseren Geist ziehen, sind in dieser Metapher Schäfchen auf einer Wiese. Zu Beginn seiner meditativen Praxis hat er diese Schäfchen gleichsam von oben betrachtet, wie ein kleiner Adolf Hitler, wie er sich selbst ausgedruckt hat. Er hat dann versucht, von oben (vom Himmel) herab Ordnung in die Sache zu bringen. Unnötig zu sagen, dass dies zu nichts geführt hat. Dann hat er erläutert, dass er die Schäfchen in seiner jahrzehntelangen meditativen Praxis im Grunde nie losgeworden ist. Nur hat er jetzt ein anderes Verhältnis zu ihnen gewonnen. Er blickt jetzt nicht mehr von oben herab, mit dem Ziel alles in den Griff zu bekommen, sondern er empfindet sich selbst gleichsam als die Wiese, auf der die Schafe grasen. Ich meine, er hat davon gesprochen, dass er die Bühne ist, auf der sich das alles abspielt.

Dieses Bild gefällt mir ganz gut. Allerdings kann ich mich nur schwer selbst darauf einordnen. Ziemlich sicher bin ich nicht mehr im Hitler Stadium :) aber auch die Wiese bin ich noch nicht ...
Ich habe das auch mal von ihm gehört, und zwar in dem Film "Blueprint for Zen-Practice" https://www.youtube.com/watch?v=EPtFy1tzFpM, der auf youtube zu sehen ist (2 Std. 9 min). Das sind Auszüge aus Gesprächen mit diversen europäischen Zenmeistern, denen allen dieselben 9 Fragen gestellt wurden. Das kompette Interview mit Muho ist auch auf Youtube zu finden https://www.youtube.com/watch?v=MgD3N8D89tE (46 min).

Mich hat seitdem besonders das Bild der Bühne beschäftigt. Wir sind demnach nicht die Schauspieler und nicht die Zuschauer in unserem Leben und schon gar nicht der Regisseur. Sondern "nur" die Bühne, auf der sich dies alles abspielt. Nicht ich lebe mein Leben, sondern das Leben lebt mich, sozusagen. Ich empfinde diese Vorstellung als befreiend und beängstigend zugleich. Das Leben lebt quasi durch mich hindurch. (Was ist das allerdings, dieses "Leben"?)

Ich war neulich mit meiner Tochter und ihrer Familie in einem Tierpark, und überall wuselten Kinder und Eltern und Großeltern umher (mit mehr oder weniger Corona-Abstand), und ich hatte plötzlich, noch unter dem Eindruck von Muhos Bild, das Gefühl, als seien all diese Menschen Bühnen, auf denen, ohne dass sie es richtig wissen, dieses merkwürdige Stück namens Leben gespielt wird. Wir alle (denn ich will mich da nicht ausschließen) hatten das Gefühl, etwas zu TUN - mit den Kindern lachen, auf sie aufpassen, sich unterhalten, gucken ... - aber in Wirklichkeit GESCHAH einfach alles. Das war sehr merkwürdig.




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Jörn Budesheim
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So 16. Aug 2020, 18:44



Ich poste das Interview einfach mal hier rein, vielleicht will es sich ja auch jemand anders ansehen, ich finde es sehr spannend, teilweise auch sehr witzig, bin ungefähr bei der Hälfte.




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Alethos
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So 16. Aug 2020, 22:29

Entspannend
ihm zuzuhören.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

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Friederike
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Mo 17. Aug 2020, 11:45

Jovis hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 17:02
Mich hat seitdem besonders das Bild der Bühne beschäftigt. Wir sind demnach nicht die Schauspieler und nicht die Zuschauer in unserem Leben und schon gar nicht der Regisseur. Sondern "nur" die Bühne, auf der sich dies alles abspielt. Nicht ich lebe mein Leben, sondern das Leben lebt mich, sozusagen. Ich empfinde diese Vorstellung als befreiend und beängstigend zugleich. Das Leben lebt quasi durch mich hindurch. (Was ist das allerdings, dieses "Leben"?)
Ich war neulich mit meiner Tochter und ihrer Familie in einem Tierpark, und überall wuselten Kinder und Eltern und Großeltern umher (mit mehr oder weniger Corona-Abstand), und ich hatte plötzlich, noch unter dem Eindruck von Muhos Bild, das Gefühl, als seien all diese Menschen Bühnen, auf denen, ohne dass sie es richtig wissen, dieses merkwürdige Stück namens Leben gespielt wird. Wir alle (denn ich will mich da nicht ausschließen) hatten das Gefühl, etwas zu TUN - mit den Kindern lachen, auf sie aufpassen, sich unterhalten, gucken ... - aber in Wirklichkeit GESCHAH einfach alles. Das war sehr merkwürdig.
@Jovis, vorhin habe ich dieses Bild versucht zu imaginieren - "merkwürdig" trifft mein Befinden dabei ausgezeichnet. Zuerst hat das Beängstigende dominiert, weil es mir so vorkam, als würde der zentrale Festhaltepunkt, der Punkt, der alles kontrolliert ... oder besser, der alles zusammenhält, also mein "Ich" verschwinden. Da ist auf einmal gar nichts mehr. Eigentlich auch nichts mehr von mir, was die Person Friederike und wie sie sich als Bühne erlebt, beobachtet. Das befreiende Moment kam später erst, obwohl "befreiend" mir zu groß scheint; eher trifft es die "Empfindung von Weite". Es geschieht einfach, das Leben geschieht, ohne mich :lol: - das ist wirklich eine total unvertraute Vorstellung, aber schön.




Nauplios
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Jovis hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 17:02

Nicht ich lebe mein Leben, sondern das Leben lebt mich [...] aber in Wirklichkeit GESCHAH einfach alles. Das war sehr merkwürdig.
Friederike hat geschrieben :
Mo 17. Aug 2020, 11:45

Es geschieht einfach, das Leben geschieht, ohne mich :lol: - das ist wirklich eine total unvertraute Vorstellung, aber schön.
In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird diese merkwürdige Inversion von Aktiv und Passiv auf essayistische Weise ausgestaltet. Mit "Seinesgleichen geschieht" ist der entsprechende Teil des Romans überschrieben. Über Ulrich, den Protagonisten des Romans, schreibt Musil einmal, er sei kein Philosoph. "Philosophen waren für ihn Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie sie in ein System sperren." -

Was Du mit dem Ausdruck "Das Leben lebt mich" und "In Wirklichkeit GESCHAH einfach alles", Jovis, ansprichst, ist das Musil'sche "Seinesgleichen geschieht" oder wie Du es beschreibst, Friederike: "Das Leben geschieht". - Der Philosophie setzt Musil das entgegen, was er "Essayismus" nennt als Reflektionsform der Moderne. Ich denke, daß sich für den Begriff "Leben" hier Anknüpfungspunkte ergeben, die geeignet sind, jenes "Merkwürdige" zu entschlüsseln, was im "Geschehen" beschlossen liegt. -




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Jörn Budesheim
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Di 18. Aug 2020, 13:35

Interessant: die "Wiederbelebung" des Fadens und das Interview hat tatsächlich einen kleinen Einfluss auf meine Praxis. Die Frage, ob ich es "richtig" mache, meldet sich wieder an :-) Ich hatte mich zwar schon vorher manchmal gefragt, ob das überhaupt "im strengen Sinn" Meditation ist, aber irgendwie war es mir egal. Witzig. Bei dem Interview ist mir am meisten in Erinnerung geblieben, dass er gar keinen besonders starken Fokus aufs Atmen gelegt hat, während es bei vielen anderen geradezu das Zentrum der Übungen ist.




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Jovis
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Di 18. Aug 2020, 18:20

Friederike hat geschrieben :
Mo 17. Aug 2020, 11:45
@Jovis, vorhin habe ich dieses Bild versucht zu imaginieren - "merkwürdig" trifft mein Befinden dabei ausgezeichnet. Zuerst hat das Beängstigende dominiert, weil es mir so vorkam, als würde der zentrale Festhaltepunkt, der Punkt, der alles kontrolliert ... oder besser, der alles zusammenhält, also mein "Ich" verschwinden. Da ist auf einmal gar nichts mehr. Eigentlich auch nichts mehr von mir, was die Person Friederike und wie sie sich als Bühne erlebt, beobachtet. Das befreiende Moment kam später erst, obwohl "befreiend" mir zu groß scheint; eher trifft es die "Empfindung von Weite". Es geschieht einfach, das Leben geschieht, ohne mich :lol: - das ist wirklich eine total unvertraute Vorstellung, aber schön.
Ich finde es ganz erstaunlich, Friederike, wie du mein Empfinden hast nachempfinden können! Und du bist ja sogar noch darüber hinaus gelangt, wenn du nicht einmal mehr der Beobachter warst.
Aber ich glaube, mit "befreiend" und "Empfindung von Weite" meinen wir ähnliches. Ich fühlte mich befreit von der Anstrengung etwas tun zu müssen - das Leben geschah einfach, aber ich konnte es auch einfach geschehen lassen. Ich war eine offene/weite Bühne für alles, was da kommen mochte.
Als dieses Gefühl wieder abebbte, fand ich es fast schade, auch wenn es tatsächlich auch etwas beängstigend war. Ich hatte das Gefühl mich zusammenzuziehen, wieder eng zu werden. Also das Gegenteil von Weite.

Ich will das hier aber nicht mystifizieren oder irgendwie esoterisch werden. Ich habe anschließend versucht mich ein wenig mehr mit dem Hintergund dieses Muhoschen "Bühnenbildes" zu beschäftigen, habe also angefangen, mehr über die Philosophie des Zen-Buddhismus zu erfahren. Ist aber gar nicht so einfach, da Zen ja nach eigenem Selbstverständnis etwas "Sprachloses" ist.




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Di 18. Aug 2020, 18:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 18. Aug 2020, 13:35
Interessant: die "Wiederbelebung" des Fadens und das Interview hat tatsächlich einen kleinen Einfluss auf meine Praxis. Die Frage, ob ich es "richtig" mache, meldet sich wieder an :-) Ich hatte mich zwar schon vorher manchmal gefragt, ob das überhaupt "im strengen Sinn" Meditation ist, aber irgendwie war es mir egal. Witzig. Bei dem Interview ist mir am meisten in Erinnerung geblieben, dass er gar keinen besonders starken Fokus aufs Atmen gelegt hat, während es bei vielen anderen geradezu das Zentrum der Übungen ist.
Ja, das ist das, was mich am Zazen so anzieht: Man sitzt offenbar tatsächlich einfach nur, alles andere ist egal. :) Ich glaube aber, das Zazen auch nicht mit Meditation gleichgesetzt werden will. Den Unterschied habe ich allerdings noch nicht ganz verstanden.
Machst du eigentlich noch geführte Meditationen?




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Jörn Budesheim
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Di 18. Aug 2020, 18:53

Jovis hat geschrieben :
Di 18. Aug 2020, 18:39
Machst du eigentlich noch geführte Meditationen?
Ich habe ja mit einer App gestartet, die nutze ich immer noch. Allerdings jetzt nur noch die Umsonst-Version und da sind keine geführten Meditation mehr dabei. Sondern im Prinzip nur Anfang- und End Gong, so wie das Zählen der Meditationen.

Das heißt, ich mache geführte Meditationen fast gar nicht mehr. Ganz selten mache ich mal Body Scans. Da gibt es auf YouTube ein großes Angebot, was ich manchmal in Anspruch nehme. Ich habe da keine gute Worte für: Body Scans mache ich im Prinzip, wenn ich nur entspannen will und irgendwie "zu faul" zum meditieren bin :) meistens dann abends. Ich gebe dann gewissermaßen einfach alles an die Stimme ab und lasse mich leiten. Aber das mache ich wirklich sehr selten. :)

Zu dem Unterschied zwischen Zazen und Meditation kann ich leider auch überhaupt gar nichts beitragen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht mal gewusst hätte, dass es so ist :) müsste ich mal nachlesen.




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Jovis
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Di 18. Aug 2020, 18:58

Nauplios hat geschrieben :
Mo 17. Aug 2020, 13:35
Was Du mit dem Ausdruck "Das Leben lebt mich" und "In Wirklichkeit GESCHAH einfach alles", Jovis, ansprichst, ist das Musil'sche "Seinesgleichen geschieht" oder wie Du es beschreibst, Friederike: "Das Leben geschieht". - Der Philosophie setzt Musil das entgegen, was er "Essayismus" nennt als Reflektionsform der Moderne. Ich denke, daß sich für den Begriff "Leben" hier Anknüpfungspunkte ergeben, die geeignet sind, jenes "Merkwürdige" zu entschlüsseln, was im "Geschehen" beschlossen liegt. -
Was genau (oder meinetwegen auch nur ungefähr) ist aber mit "seinesgleichen" gemeint? Worauf bezieht sich das? Mir kam dieses "Geschehen" völlig unvorhersehbar und unbekannt vor, das machte zu einem Teil die Fremdheit dieses Erlebnisses aus. "Seinesgleichen" legt aber nahe, dass es die Fortführung von etwas Bekanntem ist.

Die Vorstellung von Philosophie, die Musil da seinem Protagonisten in den Mund legt, ist aber doch recht einseitig. Mir fällt als Gegenbeispiel gleich die sogenannte Lebensphilosophie ein, von der ich allerdings nur Wikipediawissen habe, die aber gerade so schön passt, weil du das "Leben" aufgegriffen hast. Und es gibt bestimmt noch etliche weitere "unsystematisch" Philosophierende.




Nauplios
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Mi 19. Aug 2020, 05:04

Jovis hat geschrieben :
Di 18. Aug 2020, 18:58

Was genau (oder meinetwegen auch nur ungefähr) ist aber mit "seinesgleichen" gemeint? Worauf bezieht sich das? Mir kam dieses "Geschehen" völlig unvorhersehbar und unbekannt vor, das machte zu einem Teil die Fremdheit dieses Erlebnisses aus. "Seinesgleichen" legt aber nahe, dass es die Fortführung von etwas Bekanntem ist.

Die Vorstellung von Philosophie, die Musil da seinem Protagonisten in den Mund legt, ist aber doch recht einseitig. Mir fällt als Gegenbeispiel gleich die sogenannte Lebensphilosophie ein, von der ich allerdings nur Wikipediawissen habe, die aber gerade so schön passt, weil du das "Leben" aufgegriffen hast. Und es gibt bestimmt noch etliche weitere "unsystematisch" Philosophierende.
Das 83. Kapitel im Mann ohne Eigenschaften heißt: "Seinesgleichen oder warum erfindet man nicht Geschichte?". Ich zitiere nur mal eine kurze Passage daraus:

"Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie aus der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener «Weg der Geschichte», von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte. Die leuchtende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie eine Maschine vor, in der einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen. Vor hundert Jahren sind sie mit ähnlichen Gesichtern in einer Postkutsche gesessen, und in hundert Jahren wird weiß Gott was mit ihnen los sein, aber sie werden als neue Menschen in neuen Zukunftsapparaten genau so da sitzen, – fühlte er und empörte sich gegen dieses wehrlose Hinnehmen von Veränderungen und Zuständen, die hilflose Zeitgenossenschaft, das planlos ergebene, eigentlich menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte, so als ob er sich plötzlich gegen den Hut auflehnte, den er, sonderbar genug geformt, auf dem Kopf sitzen hatte. […] Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere." (Bd. I, S. 360) -

"Wir leben vorwärts und verstehen rückwärts" heißt es bei Kierkegaard. Ulrich nimmt für ein Jahr "Urlaub vom Leben"; er möchte das "Vorwärts-Verstehen" erreichen und gerät dabei in eine Lebenskrise. Nichts scheint ihm das Lebensgefühl und das Denken so zu intensivieren, daß es den Kern der Wirklichkeit erreicht. Alles bleibt oberflächlich. Es geschieht nur seinesgleichen. Der "Weg der Geschichte" geht dahin, ohne daß die Menschen die Geschichte "erfinden". Sie ist immer schon da, geschieht einfach. Das Seinesgleichen ist ein Neutrum, dem die Menschen "zum Stoff Dienen". - Die Lebensphilosophie - ja, das wäre mal ein sehr anspruchsvolles Projekt für den Winter. :-) ... Simmel, Bergson ... Es gibt so viel Lesenswertes! (Doch wir befinden uns hier, wo es um Meditation gehen soll, im Offtopic ... wollte auch nur mal kurz das Stichwort Musil geben.)




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Jörn Budesheim
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Jovis hat geschrieben :
Sa 15. Aug 2020, 17:02
Das war sehr merkwürdig.
Ich finde, es macht einen Teil des Reizes dieser Praxis (inklusive der Theorie dazu) aus, dass man gelegentlich merkwürdige Erfahrungen macht :-) ein Beispiel von mir selbst: Bis vor kurzem waren ja die Mauersegler noch da. Ich höre sie mit dem linken Ohr von der Straße her und mit dem rechten Ohr vom Garten. Für einen Moment hatte ich vor ein paar Wochen eine großartige akustische Täuschung - einer flog hinter mir mitten durch die Wohnung, das Pfeifen war wie ein Riss durchs Zimmer. Das Ganze dauerte vermutlich nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es war sehr beeindruckend.




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Jovis
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Mi 19. Aug 2020, 19:07

Nauplios hat geschrieben :
Mi 19. Aug 2020, 05:04
(Doch wir befinden uns hier, wo es um Meditation gehen soll, im Offtopic ... wollte auch nur mal kurz das Stichwort Musil geben.)
Ich finde das gar nicht so off topic. Das ist ja ein ganz fundamentaler Punkt, den man bei der Meditation lernt: Das Geschehenlassen. Und Ulrich, so, wie du ihn beschrieben und zitiert hast, würde damit arge Probleme haben, wenn er eine solche Abneigung gegen das "Seinesgleichen geschieht" hat. Ich bin mit dem Buch vor vielen Jahren ziemlich weit gekommen, wurde aber immer unwilliger beim Lesen, weil es einerseits nach meinem Gefühl immer mehr zerfaserte, aber vor allem, weil mir die Hauptfigur mit ihrer gequälten Individualitätssucht immer unsympathischer wurde. Und das bestätigt sich bei deinen Zitaten wieder.
Nauplios hat geschrieben :
Mi 19. Aug 2020, 05:04
Nichts scheint ihm das Lebensgefühl und das Denken so zu intensivieren, daß es den Kern der Wirklichkeit erreicht. Alles bleibt oberflächlich. Es geschieht nur seinesgleichen.
Das ist das genaue Gegenteil dessen, was in der Meditation erstrebt wird. Dort soll man gerade durch das Geschehenlassen, durch das Zurückstellen des eigenen Fühlens und Denkens, zum Kern der Wirklichkeit kommen.

Ich möchte noch für mich hinzufügen: Gerade durch Wiederholung, durch immer wieder Seinesgleichen, verlasse ich die Oberfläche und komme in die Tiefe. Ich liebe z.B. meinen immer gleichen Weg zur Arbeit auch nach dem tausendsten Abgehen, er wird mir immer vertrauter, gleichzeitig entdecke ich immer wieder Neues, denn er ist immer derselbe, aber nie der gleiche (Gruß an Alethos :) ). Mal gehe ich ihn ganz bewusst und nehme jede Kleinigkeit wahr, mal schweifen meine Gedanken ab und der Weg geht sozusagen mich, und ohne dass ich es bemerkt habe, bin ich schon zu Hause, mal reflektiere ich über dieses Gehen selbst, über die Faszination, die Wiederholung auf mich ausübt ... nichts davon könnte geschehen, wenn ständig Neues auf mich einstürmen würde. Ich bin ein großer Fan von seinesgleichen! :-)




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Jovis
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Mi 19. Aug 2020, 21:37

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 18. Aug 2020, 18:53
Zu dem Unterschied zwischen Zazen und Meditation kann ich leider auch überhaupt gar nichts beitragen. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nicht mal gewusst hätte, dass es so ist :) müsste ich mal nachlesen.
Dazu ein gewisser Brad Warner auf Youtube:





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