Die großen Kränkungen

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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So 1. Dez 2019, 09:39

bei Wikipedia hat sich jemand die Mühe gegeben und eine Liste der großen Kränkungen aufgemacht, immer nach folgendem Muster:

Art der Kränkung / Durch / Bemerkung
  1. Ich bin ein Stück der Welt/ jedes Kind / Das Ich erkennt sich selbst als ein Stück der Welt.
  2. kosmologisch / Kopernikus 1543 / Die Erde (und damit der Mensch) ist nicht Mittelpunkt der Welt.
  3. biologisch / Darwin 1859 / Die Menschheit ist in das Entwicklungssystem der Organismen eingegliedert.
  4. psychologisch / Freud 1895 / Der Mensch ist noch nicht einmal Herr der eigenen Handlungen, sondern vom Unbewussten gelenkt.
  5. ethologisch / Heinroth 1910 / Nicht nur unser Körperbau, sondern auch unser Verhalten ist aus dem Tierreich hervorgegangen.
  6. epistemologisch / Lorenz 1941 / Auch unsere Wahrnehmung und Denkfähigkeit ist auf den Mesokosmos, an den wir phylogenetisch adaptiert sind, beschränkt und selbst dort nicht objektiv.
  7. soziobiologisch / Wilson 1975 / Selbst unsere sozialen, moralischen und altruistischen Denk- und Verhaltensweisen, sogar die Forderung nach Erhalt der Menschheit, beruhen auf evolutionärer Selektion.
  8. Computermodell des Geistes / Gegenwart / Die Aussicht auf Maschinen (künstliche Intelligenz), die unsere geistigen Leistungen erreichen und sogar übertreffen.
  9. ökologisch / Nahe Zukunft / Der Mensch ist in die für ihn essentielle Biosphäre eingebunden und wegen Kränkung Nr. 5 unfähig, sie vollends zu verstehen und zu beherrschen.
  10. neurobiologisch / 21. Jahrhundert / Auflösung des Dualismus von Körper und Seele.
Im Prinzip stellen sich zwei oder drei Fragen. Besteht der Tatbestand, der die Kränkungen hervorrufen soll und gibt es überhaupt eine Kränkung, bzw besteht für eine Kränkung Anlass?




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Cosma
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So 1. Dez 2019, 11:41

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 1. Dez 2019, 09:39
bei Wikipedia hat sich jemand die Mühe gegeben und eine Liste der großen Kränkungen aufgemacht:
  1. Ich bin ein Stück der Welt/ jedes Kind / Das Ich erkennt sich selbst als ein Stück der Welt.
  2. kosmologisch / Kopernikus 1543 / Die Erde (und damit der Mensch) ist nicht Mittelpunkt der Welt.
  3. biologisch / Darwin 1859 / Die Menschheit ist in das Entwicklungssystem der Organismen eingegliedert.
  4. psychologisch / Freud 1895 / Der Mensch ist noch nicht einmal Herr der eigenen Handlungen, sondern vom Unbewussten gelenkt.
  5. ethologisch / Heinroth 1910 / Nicht nur unser Körperbau, sondern auch unser Verhalten ist aus dem Tierreich hervorgegangen.
  6. epistemologisch / Lorenz 1941 / Auch unsere Wahrnehmung und Denkfähigkeit ist auf den Mesokosmos, an den wir phylogenetisch adaptiert sind, beschränkt und selbst dort nicht objektiv.
  7. soziobiologisch / Wilson 1975 / Selbst unsere sozialen, moralischen und altruistischen Denk- und Verhaltensweisen, sogar die Forderung nach Erhalt der Menschheit, beruhen auf evolutionärer Selektion.
  8. Computermodell des Geistes / Gegenwart / Die Aussicht auf Maschinen (künstliche Intelligenz), die unsere geistigen Leistungen erreichen und sogar übertreffen.
  9. ökologisch / Nahe Zukunft / Der Mensch ist in die für ihn essentielle Biosphäre eingebunden und wegen Kränkung Nr. 5 unfähig, sie vollends zu verstehen und zu beherrschen.
  10. neurobiologisch / 21. Jahrhundert / Auflösung des Dualismus von Körper und Seele.
Im Prinzip stellen sich zwei oder drei Fragen. Besteht der Tatbestand, der die Kränkungen hervorrufen soll und gibt es überhaupt eine Kränkung, bzw besteht für eine Kränkung Anlass?
Am Sachstand dürften keine Zweifel aufkommen. Eine Kränkung ist eine Verletzung der Würde oder Selbstachtung.
Wer die Selbstachtung auf solcherart naturwissenschaftliche Aussagen gründet, muss damit rechnen, dass diese nur ein zeitlich begrenztes Haltbarkeitsdatum haben.
Auf der anderen Seite meine ich, waren es verdiente korrektive Dämpfer gegen die menschliche Überheblichkeit - aber irgendwie scheinen die meisten immer noch nicht verstanden zu haben, dass wir Teil der Natur sind, in ihr und nicht über ihr stehen.



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Jörn Budesheim
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So 1. Dez 2019, 11:49

Hallo Cosma, herzlich willkommen im Forum!




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Friederike
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So 1. Dez 2019, 16:05

Cosma hat geschrieben :
So 1. Dez 2019, 11:41
Am Sachstand dürften keine Zweifel aufkommen. Eine Kränkung ist eine Verletzung der Würde oder Selbstachtung.
Wer die Selbstachtung auf solcherart naturwissenschaftliche Aussagen gründet, muss damit rechnen, dass diese nur ein zeitlich begrenztes Haltbarkeitsdatum haben.
Auf der anderen Seite meine ich, waren es verdiente korrektive Dämpfer gegen die menschliche Überheblichkeit - aber irgendwie scheinen die meisten immer noch nicht verstanden zu haben, dass wir Teil der Natur sind, in ihr und nicht über ihr stehen.
Mit Freud würde ich dieser Art Gekränktsein als "narzistisch" bezeichnen, die "Überheblichkeit", die einen "Dämpfer" erhält oder auch "Hochmut kommt vor dem Fall".




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Stefanie
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So 1. Dez 2019, 17:57

Wieso ist die Nr. 1 eine Kränkung? Das ist doch so, und ohne sich als Stück der Welt zu sehen, könnten wir doch nicht leben.

Nr. 6 und der Nr. 7 musste ich nachlesen, und dabei feststellen, dass der Sachstand nicht endgültig feststeht. Sie scheinen sich zu widersprechen.
Einfach ausgedrückt hat Lorenz die geistige kulturelle Entwicklung über die Gene gestellt und Wilson hat im Grunde das Gegenteil festgestellt. Wilson soll diese Position aber geändert haben.

Hier ein Link zu Lorenz und Wilson:
https://www.mve-liste.de/blog/188-eine- ... orenz.html#

Daraus:
Während für Lorenz besonders die evolutive Entstehung des Geistig-Kulturellen beim Menschen so entscheidend war, dass er das in seinem Hauptwerk mit der Entstehung des Evolutionsprozesses selbst verglich und gleichsetzte, spielte das in der Soziobiologie überhaupt keine Rolle, d.h. die Soziobiologie unterwarf auch das Geistig-Kulturelle und Soziale beim Menschen den genetischen Gesetzmäßigkeiten der sogenannten Verwandtenselektion. Selbst das von Lorenz mit gegründete und lange Zeit geleitete Max-Planck-Institut lief mit den neuen Verantwortlichen nach kurzer Zeit ins Lager der Soziobiologie über.
Mit seinem neuen Verständnis kehrte Wilson nicht nur wieder zur Gruppenselektion der alten Verhaltensforschung zurück, sondern er definierte vor allem Kultur und Sprache wieder als einen eigenständigen Pol im Verhältnis zu den Genen und sucht die Natur des Menschen zwischen diesen beiden Polen zu begründen, anstatt allein von der Genetik her, wie das die Soziobiologie lehrt.



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Friederike
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Mo 2. Dez 2019, 14:13

Stefanie hat geschrieben :
So 1. Dez 2019, 17:57
Wieso ist die Nr. 1 eine Kränkung? Das ist doch so, und ohne sich als Stück der Welt zu sehen, könnten wir doch nicht leben.
Dort steht "jedes Kind" - warum es dort steht, weiß ich nicht, aber mir fällt dazu die psychologische Theorie von den "Allmachts"phantasien von Kindern ein. Die Erkenntnis, daß ich die Welt nicht total beherrsche, wäre dann eine Kränkung. Naja ... 8-) Außerdem gibt es keinen Zwang sich gekränkt zu fühlen. Das betrifft alle angeführten Punkte.

NS: Natürlich steht dort "jedes Kind", weil gemeint ist, diese Kränkung wäre notwendiger Bestandteil jeder Entwicklung. Ob's stimmt? Keine Ahnung.




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Stefanie
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Sa 21. Dez 2019, 21:26

In einem Artikel, mal wieder Spektrum fand ich eine Erklärung, warum das oben genannte als Kränkungen aufgefasst werden kann:
Verlust der Wahrheit

Beginnend mit der modernen Physik Anfang des 20. Jahrhunderts liess sie zunehmend vom Glauben an die Möglichkeit absoluter Gewissheit ab. So musste Newtons Vorstellung eines absoluten Raums bzw. einer absoluten Zeit durch die relationale Raum-Zeit von Einsteins Relativitätstheorie ersetzt werden, die Nicht-Physiker kaum noch verstehen können. Noch einschneidender war die Erkenntnis, dass ein Quantenobjekt gleichzeitig Welle und Teilchen ist und dass im Mikrokosmos ganz andere Gesetze als in unserem Makrokosmos gelten. Die Wissenschaftler mussten lernen, mit komplementären Wahrheiten zu leben, also: nicht A oder B ist wahr, sondern A und B können beide zugleich wahr sein. Der endgültige Todesstoss für den philosophischen Anspruch nach letzten und begründenden Wahrheiten war der neue Objektbegriff in der Quantenphysik. Nachdem die Zeit schon nicht mehr absolut ist, so soll es den Physikern gemäss im Mikrokosmos auch keine reale und unabhängig existierende Objekte mehr geben, keine objektive Realität und damit auch keine absolute Sicherheit. Es ist paradox: Je mehr Wissen wir erlangten, desto weniger durften wir darauf hoffen, dass es eine letzte Wahrheit gibt. Der Preis für unseren Wissenszuwachs ist also hoch – wir haben nun nichts mehr, woran wir uns festhalten können. In einem über drei Jahrhunderte laufenden Prozess hat sich die Menschheit Schritt für Schritt all ihrer mühsam aufgebauten Gewissheiten beraubt.

Mit Kopernikus verloren wir unsere Zentralstellung im Universum.Darwin zeigte uns, dass wir auch nicht im Zentrum der Schöpfung stehen, sondern vielmehr Ergebnis eines Prozesses sind, den Tiere und Pflanzen gleichermassen durchlaufen.Freud zufolge sind wir noch nicht einmal Herr im eigenen Haus unseres Geistes, dem Raum unserer subjektiven Empfindungen und Gedanken.Zuletzt sagten uns Relativitäts- und Quantentheorie, dass kein Standpunkt wichtiger und „richtiger“ ist als alle anderen, und es auch keinerlei reale und unabhängig existierende („substantielle“) Objekte gibt.

Uns ist die absolute und ewige Wahrheit abhandengekommen. Das ist auch gut so, denn so funktioniert die Welt nun mal nicht. Umso wichtiger sind die wissenschaftlichen Wahrheiten, sie helfen uns, uns in unserer Welt zurechtzufinden. Diese Wahrheiten sind keine Dogmen, denn sie stehen ständig auf dem Prüfstand, zum Beispiel durch Experimente und den rationalen Diskurs mit Kollegen; jederzeit können sie – je nach Faktenlage – verworfen und neu formuliert werden.

All diese Verluste von Wahrheiten haben Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Eindeutige Wahrheiten, klare spirituelle Grundlagen und unverrückbare Prinzipien sind offenbar wichtig für uns, damit wir uns in der Welt zurechtfinden. Das Vakuum, das der Verlust alter Gewissheiten hinterlässt, erzeugt in uns eine tiefe Verunsicherung.
Aus:
https://scilogs.spektrum.de/beobachtung ... roemungen/



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Quk
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Mo 24. Jul 2023, 01:56

Auf die Eingangsfragen sind schon einige Antworten gefolgt. -- Was ich hinzufügen möchte ist noch eine elfte Kränkung. Diese Nummer elf wird allerdings noch nicht in der Breite diskutiert, aber vielleicht kommt das noch, und dann wird das einige kränken, vermute ich.

Nummer elf:

Hintergrund: Die Sozialwissenschaften stellen Theorien auf, um Menschenverhalten vorherzusagen. Menschen in gesellschaftlichen Berufen stellen Thesen auf, die beispielsweise besagen, dass Rechtsextremismus immer die Folge von Arbeitslosigkeit sei, oder die Folge von Genderei, Wärmepumpengesetzen, Maskenpflicht und Tausenden anderer Sachverhalte sei. Es mag sein, dass derlei Dinge minimalen Einfluss haben, aber tatsächlich dienen sie nie als vollständige Erklärung, weil stets große Gegenbeobachtungen die Thesen widerlegen. Die Sache mit dem Rechtsextremismus ist nur ein Beispiel. Sozialwissenschaftliche Theorien behandeln allerlei mutmaßliche Ursachen und Wirkungen im gesellschaftlichen Mechanismus. -- Kurzum: Die Sozialwissenschaften (man korrigiere mich, wenn ich falsch liege) sehen typischerweise jedes Neugeborene als Weißes Blatt Papier, das dann nach und nach durch die Gesellschaft beschriftet und geformt wird. Man müsse also nur den Umgang im Miteinander steuern, so ließe sich dann auch die Persönlichkeit jedes Indivuums steuern. Man müsse nur die richtige Steuerungstheorie entwickeln. -- Meines Erachtens kann so ein Unterfangen niemals vollständig eine Persönlichkeit formen. Warum nicht? Weil die Persönlichkeit zu einem gewissen Anteil schon bei der Geburt epigenetisch und zufallsvermischt vorhanden ist. Ein Neugeborenes ist kein Weißes Blatt Papier. Es hat schon eine gewisse, individuelle Persönlichkeit. Das ist leicht empirisch nachweisbar. Und diese individuelle Persönlichkeit besteht meist ein Leben lang, mit nur wenigen Abweichungen. -- Wo ist nun die Kränkung? Es werden diejenigen gekränkt sein, die sich wünschen, dass nur ausreichend sozialwissenschaftliche Kenntnis notwenig sei, um jeden Menschen formen zu können. Es beschränkt die Macht der Sozialwissenschaften. Es wird auch jene Marxisten kränken, die glauben, eine nichtausbeuterische Wirtschaftsform, die zweifellos notwendig ist, wird nebenbei auch automatisch die Welt bereinigen von narzistischen Persönlichkeiten. Als ob Narzismus immer erst im Lebenslauf von außen verursacht würde. Die eigentliche Kränkung ist jedoch erst dies: Die epigentische Veranlagung ist ein Lotteriespiel. Sie ist nicht berechenbar. Das Mischungsverhältnis der Persönlichkeiten innerhalb der Menschheit wandelt sich mal so, mal so. Kränkenderweise lässt sich das wohl nicht gesellschaftlich steuern; höchstenfalls durch Genmanipulation in ferner Zukunft, und das wird wiederum weitere, schwierwiegende, ethische Fragen aufwerfen. -- Was den Sozialwissenschaften in diesem Kontext meiner Ansicht nach fehlt, ist eine tiefergehende Interdisziplin mit den Naturwissenschaften, und die Einsicht, dass die Menschheit viel komplexer ist, als bisher angenommen. Die linearen Interpolationen versagen hier wohl genau so wie die lineare Geschichte von Adam und Eva; es werden allzu viele Details missachtet, die außerhalb der facheigenen Denkblase liegen ...




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Jörn Budesheim
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Di 25. Jul 2023, 07:33

Quk hat geschrieben :
Mo 24. Jul 2023, 01:56
Ein Neugeborenes ist kein Weißes Blatt Papier. Es hat schon eine gewisse, individuelle Persönlichkeit.
Das sehe ich übrigens genau so. Ich denke, dass wir aber dennoch alle ebenso Kinder (alle in ihrer Weise) unserer Zeit sind. Allerdings weiß ich zu wenig über Sozialwissenschaften, um mehr darüber zu sagen. Irgendwo hab ich eine Einführung, mal sehen, wann und ob ich Zeit finde, mir das mal anzuschauen :-)




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Quk
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Di 25. Jul 2023, 16:32

Ja, ich denke, dass die Persönlichkeit mindestens zwei anteilige Ursachen hat: Die vorgeburtlichen (die Ursachen, welche die Neurobiologie erforscht) und die nachgeburtlichen aus der gesellschaftlichen Umwelt (die Ursachen, welche die Sozialwissenschaften erforschen). Klingt mein Text so, als würde ich letzteres ausschließen? Dann muss ich ihn unbedingt präzisieren. Danke für den Hinweis.




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Jörn Budesheim
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Di 25. Jul 2023, 16:41

Vielleicht sollte man die Geschichte noch hinzufügen? (Wer bietet mehr?)




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Quk
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Di 25. Jul 2023, 18:02

Exakt mein Gedanke. Nach Gerald Hüther und anderen ist da tatsächlich ein Weißes Blatt, aber halt nicht bei der Geburt, sondern bei der Befruchtung. Im Embryo würde das Weiße Blatt dann per Zufall gewisse "Standard"-Gene verändern hin zu persönlichen Genen. Tja, wie Du sagst, gibt es da wirklich keinerlei Vorgeschichte, die ebenfalls miteinfließen könnte und somit eben kein ariel-reines Weiß bei der Befruchtung anliefert? Ich schrieb vorher von "mindestens" zwei Ursachen. Vermutlich sind es drei und mehr.

Vielleicht sollten wir einen neuen Faden aufmachen über die "Variablen der Persönlichkeit" oder so :-)




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Jörn Budesheim
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Di 25. Jul 2023, 18:09

Gute Idee!




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Jörn Budesheim
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Do 27. Jul 2023, 08:31

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 1. Dez 2019, 09:39
  1. ...
  2. kosmologisch / Kopernikus 1543 / Die Erde (und damit der Mensch) ist nicht Mittelpunkt der Welt.
  3. ...
Soweit ich weiß, stammt der Begriff der "großen Kränkungen" von Freud. Freud selbst spricht meines Wissens nur von drei Kränkungen. Er nannte die drei großen Kränkungen der Menschheit die kosmologische, die biologische und die psychologische Kränkung.

Aber daran gibt es Kritik - wie immer :-) Ist die kosmologische Kränkung wirklich eine Kränkung? Die kosmologische Kränkung bezieht sich nach Freud auf die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern nur ein kleiner Planet in einem riesigen Sonnensystem. Dass die Entdeckung des Kopernikus eine Kränkung sein musste, ist allerdings bestritten worden. Der Philosoph Michael Pauen weist (unter anderem mit Verweis auf Hans Blumenberg) darauf hin, dass die Erde im aristotelischen Weltbild den untersten Platz im Kosmos eingenommen habe, und dementsprechend kritisierten frühe Kritiker des kopernikanischen Systems, dass die Erde als Himmelskörper unter den anderen Planeten des Sonnensystems überhöht werde.

Die entsprechenden Kritiken/Erklärungen von Pauen kenne ich leider nur vom Hörensagen. Vielleicht kennt sie hier jemand etwas besser.




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Quk
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Do 27. Jul 2023, 16:24

Mit dem Begriff "Kränkung" hat Freud, wie so oft, zu stark verallgemeinert, denke ich. Kränken kann so eine Entdeckung sicherlich nur diejenigen, die für ihre emotionale, egozentrische Stabilisierung ein bestimmtes zentristisches Weltbild brauchen. Vermutlich gibts in der Menschheit seit Jahrmillionen überwiegend Charaktere, welche bescheidener veranlagt sind und solche Vorstellungen in der Tat nicht als kränkend empfinden. Ich vermute, es liegt in der Natur der Egozentrik, dass der Erhalt von zentristischen Ideen meist nicht aus den Köpfen vieler neben- und miteinander lebenden Menschen stammt, sondern von wenigen, narzistisch isolierten Köpfen diktiert werden. Es ist also eher ein Diktat -- von einigen diktatorischen Typen, die typischerweise machthungrig sind, und der ideale Karriere-Ort für so etwas war damals die Kirche.




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Jörn Budesheim
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So 30. Jul 2023, 10:15

Wenn ich richtig informiert bin, spricht vom Freud von den großen Kränkungen der Menschheit. Es geht also nicht primär darum, ob sich Einzelne gekränkt fühlen. Die genannten Punkte markieren große Einschnitte im (westlichen) Weltbild, die den Menschen in irgendeiner Weise aus dem Zentrum zu rücken scheinen, ihn, wie man so schön sagt, als Krone der Schöpfung zu entmachten. Ob der Begriff der Kränkung dafür angemessen ist, vermag ich nicht zu sagen.




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Quk
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So 30. Jul 2023, 15:18

So verstehe ich das auch, dass Freud da die ganze Menschheit meinte und nicht Einzelne. Dass das nur "Einzelne" kränkte, ist meine These. Wie gesagt, ich finde, Freud hat da mal wieder zu sehr verallgemeinert.




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Jörn Budesheim
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Sa 5. Aug 2023, 09:34

Ich meine vielleicht etwas anderes, mein Fokus liegt zunächst nicht auf der (vermeintlichen) Kränkung, sondern auf dem Aspekt: Weltbild. Die großen Kränkungen beziehen sich doch auf Veränderungen des Weltbildes, also der Vorstellung davon, wo wir in der Wirklichkeit stehen. Und bei jeder dieser Veränderungen wurde der Mensch aus einem (vermeintlichen) Zentrum entfernt. Und ich vermute, um dieses "nicht mehr im Zentrum stehen" ging es Freud, oder?




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Quk
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Sa 5. Aug 2023, 14:22

Ja, das Weltbild mit dem Chef im Zentrum. Das meine ich auch. Dieses Bild zu erhalten, ist wohl das Ziel der gekränkten Person. Gekränkt, weil ihre Mittenposition unmittig wurde. -- Diese Mittenposition, was drückt die eigentlich aus? Ich denke, es sind mindestens zwei Eigenschaften: Erstens, alle Bezugspfeile der Welt zeigen auf die Mitte: Das sind Liebespfeile. Zweitens, alle Bezugspfeile strahlen von der Mitte in die Welt hinaus: Das sind Machtpfeile. Alle Scheinwerfer auf das Allerlieblichste im Zentrum, und von dort hinaus gleichzeitig die allmächtigen Laserschwerter -- die leuchten auch lieblich, sind aber im Vergleich zu Scheinwerfern zusätzlich auch handgreiflich.

Kränkung Nummer elf, die ich der Liste anhängte, betrifft demnach nur die zentrierte Macht, nicht die zentrierte Liebe.
Edit: Obwohl ... der Anspruch, man könne alle gesellschaftlichen Probleme und persönlichen Neigungen letztendlich durch menschliche Liebe vollständig steuern, hat schon auch etwas mit Allmachtsbildern der Liebe zu tun. Nur stimmt da dann mein Pfeilbild nach innen nicht mehr :-)


Übrigens ...
Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 1. Dez 2019, 09:39
10. neurobiologisch / 21. Jahrhundert / Auflösung des Dualismus von Körper und Seele.

Im Prinzip stellen sich zwei oder drei Fragen. Besteht der Tatbestand, der die Kränkungen hervorrufen soll und gibt es überhaupt eine Kränkung, bzw besteht für eine Kränkung Anlass?
Anlass für eine Kränkung sehe ich bei Nummer 10 eigentlich nicht. Aber das kommt wahrscheinlich drauf an, wie man jenen Dualismus verstanden wissen will.




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Registriert: Di 22. Jun 2021, 00:50

Sa 5. Aug 2023, 14:46

Man könnte es auch umdrehen. Ich für mein Teil sehe das eher als "Tröstung" an, auf diese Weise ein Teil der Natur, des Universums sein zu dürfen statt diesem (z.T. "feindlich"...) gegenüberstehen.

(Eine Art "aufgehen in etwas Größerem"... - das "Eigene", "Individuelle" kann ja trotzdem weiterbestehen.)




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