Sein, Seiendem und ...*seufz*

Aspekte metaphysischer Systementwürfe und der Ontologie als einer Grunddisziplin der theoretischen Philosophie können hier diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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So 28. Jun 2020, 17:24

Alethos hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 14:17
Sein muss es doch geben, bevor es Seiende gibt, wie wollte denn sonst dieses Seiende je sein können? Das meinte ich mit „davor“.
Das halte ich gelinde gesagt für abwegig :)

Ich nehme wieder eine Struktur-Analogie. Denken wir uns einen Bereich und das, was in dem Bereich vorkommt. Ein Bereich ist kein Behälter, in den man die Dinge, die in ihm vorkommen, einfüllt, wie mit einer Gießkanne. Ein Behälter wäre tatsächlich schon vorher da. Stattdessen ist es so, dass Gegenstand und Gegenstandsbereich aufeinander verwiesen sind. Nehmen wir als Beispiel den Bereich der ganzen Zahlen. Dieser Bereich hat ja nicht Ewigkeiten darauf gewartet, dass ihm jemand die 1, 2, 3, 4, 5... zuweist. Der Bereich ist der geregelte Raum, die Ordnung, in dem die einzelnen Zahlen vorkommen und die einzelnen Zahlen "können" vorkommen, weil sie Teil dieses geregelten Raums, Teil dieser Ordnung sind. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Das kommt wieder getrennt vor, noch lässt es sich getrennt denken.

Deswegen gibt es den Begriff der ontologischen Differenz schließlich auch in der Sinnfeld-Ontologie. Wobei sich dabei um eine "funktionale ontologische Differenz" handelt. Das wird man sicherlich nicht eins zu eins übertragen können, aber es ist ein weiterer Fingerzeig.




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Stefanie
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So 28. Jun 2020, 17:37

Dabei komme ich auch auf Seiende.

sein, das Sein, der Seiende
laufen, das Laufen, der Laufende
tanzen, das Tanzen, die Tanzenden

Tanzende also die Seiende.
Die letzte ist das partizp, die/der Teilhabene am laufen, tanzen, sein.
Rein nach der Grammatik. Deklination.
Du sprichst von Relation, Verhältnis, und das habe ich zumindest inhaltlich aufgefasst. Also nach den Gemeinsamkeiten gesucht. Kein sein ohne Seiende, und kein Tanz, wenn keiner da ist, der tanzt. Beim Laufen ebenso.

Wobei ich mir dabei vorkomme wie bei der Frage, was war zuerst, das Huhn oder das Ei.



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Jörn Budesheim
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So 28. Jun 2020, 17:52

Stefanie hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 17:37
Wobei ich mir dabei vorkomme wie bei der Frage, was war zuerst, das Huhn oder das Ei.
Warum?

Ich glaube nicht, dass sich Huhn zu Ei verhält, wie Sein zum Seiendem :)




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Jörn Budesheim
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So 28. Jun 2020, 17:56

Stefanie hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 17:37
Tanzende also die Seiende.
Ich habe diese 10 Minuten, die du gepostet hast, etwas anders verstanden. Ich verstehe es so: Tanzende steht in der horizontalen Struktur an derselben Stelle wie Seiende. Aber wenn man sozusagen einfach den vertikalen Übertrag macht, passt es nicht mehr. Zwar sind Tanzende tatsächlich Seiende, aber der Tanz ist doch nicht das Sein.




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Alethos
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So 28. Jun 2020, 20:03

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 17:24
Alethos hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 14:17
Sein muss es doch geben, bevor es Seiende gibt, wie wollte denn sonst dieses Seiende je sein können? Das meinte ich mit „davor“.
Das halte ich gelinde gesagt für abwegig :)

Ich nehme wieder eine Struktur-Analogie. Denken wir uns einen Bereich und das, was in dem Bereich vorkommt. Ein Bereich ist kein Behälter, in den man die Dinge, die in ihm vorkommen, einfüllt, wie mit einer Gießkanne. Ein Behälter wäre tatsächlich schon vorher da. Stattdessen ist es so, dass Gegenstand und Gegenstandsbereich aufeinander verwiesen sind.
Ja, das sind sie, Gegenstandsbereich und Gegenstand ergeben sich auseinander, d.h. es gibt nicht hier "Bereich" und da "Gegenstand dieses Bereichs", sondern die Eigenschaften der Gegenstände ergeben einen Bereich sinngleicher oder -ähnlicher Gegenstände. Die Gegenstände des Bereichs und der Bereich selbst, das ist synonym. Ein Bereich bestimmter Gegenstände wird erst zum Bereich dieser Gegenstände wegen der darin vorkommenden Gegenstände und die Gegenstände sind nicht diese spezifischen wegen des Bereichs, sondern als spezifische Gegenstände bilden sie diesen Ordnungsbereich selbst, in welchem sie vorkommen: als Gegenstände dieses Bereichs.

Aber der Bereich selbst ist als sinngeordnete Vielfalt von Gegenständen wiederum ein Seiendes: Die Kunst, die Politik, die Rechtswissenschaft, die Anhöhe auf dem Lindenberger Feld: alle diese Bereiche sind Seiende (denn es gibt sie ja!), aber sie geben den Gegenständen nicht ihre Spezifität, die Bereiche sind nicht konstitutiv für die Gegenstände. Der Tanz ist nicht konstitutiv für die Tanzenden, sondern, wo getanzt wird, da ist der Bereich des Tanzes. Wo Gesetze sind, da ist der Bereich des Rechts etc.

Beim Sein und den Seienden verhält es sich meiner Meinung nach aber nicht derart, dass die Seienden den Bereich des Seins bilden. Das Sein ist nicht ein Bereich (oder ähnliches), in welchem die Seienden vorkommen, sondern es ist die Bedingung für Seiendheit überhaupt (wenn man es mit einem die Klarheit nicht weiter fördernden Begriff beschreiben will). Die Kunst, das Recht, die Geografie Deutschlands - das sind, wenn man so will - Seiende, sie exisitieren, weil sie Sein haben. Aber das Sein selbst, das kann doch nicht in derselben Weise existieren, wie Rechtssätze und der Bereich des Rechts, denn diese existieren ja schon und können nur existieren, wenn es Sein gibt. Das Existieren selbst kann nicht im selben Verhältnis zu den Existierenden stehen,
insofern es sich um das Sein schlechthin handelt, das allem Existierenden die Seinsgrundlage gibt.

Das Existieren muss den Existierenden vorgelagert sein als ein ontologisches Prinzip, damit Seiende überhaupt Seiende sein und Bereiche ausbilden können, die sind.



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So 28. Jun 2020, 20:29

@Stefanie: hier hast du deine Definition von Dasein:
Martin Heidegger, in Sein und Zeit hat geschrieben : Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens [nach dem Sinn von Sein] hat, fassen wir terminologisch als Dasein.




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So 28. Jun 2020, 20:45

@Stefanie: hier hast du zwar keine Definition von Sein und Seiendem, aber ein paar durchaus sachdienliche Hinweise:
Martin Heidegger in Sein und Zeit hat geschrieben : Sofern das Sein das Gefragte ausmacht, und Sein besagt Sein von Seiendem, ergibt sich als das Befragte der Seinsfrage das Seiende selbst. [...] Aber »seiend« nennen wir vieles und in verschiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind. Sein liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung, Dasein, im »es gibt« [...]




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So 28. Jun 2020, 21:15

@Stefanie: hier noch ein weiteres Zitat. Belegstellen, wenn man so will. Zunächst noch mal eine weitere Belegstelle, die zeigt, dass mit Dasein der Mensch gemeint ist. Die nächste Belegstelle zeigt, dass Heidegger, genauso wie ich es dargestellt habe, dieses Dasein als ein ausgezeichnetes Seinendes versteht, für das der Selbstbezug wesentlich ist.
Martin Heidegger in Sein und Zeit hat geschrieben : Wissenschaften haben als Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Dieses Seiende fassen wir terminologisch als Dasein. [...] Das Dasein selbst ist überdies vor anderem Seienden ausgezeichnet. Diese Auszeichnung gilt es vorläufig sichtbar zu machen. [...] Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.




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Stefanie
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So 28. Jun 2020, 23:25

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 20:45
@Stefanie: hier hast du zwar keine Definition von Sein und Seiendem, aber ein paar durchaus sachdienliche Hinweise:
Martin Heidegger in Sein und [u hat geschrieben : Zeit]Sofern das Sein das Gefragte ausmacht, und Sein besagt Sein von Seiendem, ergibt sich als das Befragte der Seinsfrage das Seiende selbst[/u]. [...] Aber »seiend« nennen wir vieles und in verschiedenem Sinne. Seiend ist alles, wovon wir reden, was wir meinen, wozu wir uns so und so verhalten, seiend ist auch, was und wie wir selbst sind. Sein liegt im Daß- und Sosein, in Realität, Vorhandenheit, Bestand, Geltung, Dasein, im »es gibt« [...]
Danke schön.
Das ist für die Philosophie schon eine Definition. Den von mir markierten Satz konnte ich noch nicht aufdröseln..."Sein besagt Sein von Seiendem" ähm....wie meint er das?

Vor dem nächste Textausschnitt, dem hier:
Wissenschaften haben als Verhaltungen des Menschen die Seinsart dieses Seienden (Mensch). Dieses Seiende fassen wir terminologisch als Dasein. [...] Das Dasein selbst ist überdies vor anderem Seienden ausgezeichnet. Diese Auszeichnung gilt es vorläufig sichtbar zu machen. [...] Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht."
muss ich kapitulieren. So klar die Daseins Beschreibung, das erste Zitat, ist (für Heidegger Verhältnisse), ist diese Textstelle ...chaotisch, um es mal so zu sagen. Auch wenn die Sätze kurz sind, habe ich am Ende des Satzes den Anfang imhaltlich schon verloren.

Ich habe heute Nachmittag gelesen, dass Heidegger in der Terminologie bisweilen zwischen ontisch und ontologisch gesprungen ist, irgendwie habe ich das Gefühl, dies ist bei diesem Text auxh passiert. Das Seiende in seinem Sein...Ich muss passen.



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Mo 29. Jun 2020, 05:44

Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht."
Vereinfacht: Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. (Das ist der Selbstbezug: Er kann/muss nach sich selbst fragen, sich selbst bestimmen, sich selbst in eine Beziehung zum Sein setzen. Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich...)




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Mo 29. Jun 2020, 07:44

Nauplios hat geschrieben :
Sa 27. Jun 2020, 02:38
Denn nur hier, in der Hermeneutik, gibt es Zirkel, in denen man sich zu Recht wie ein Insasse einer geschlossenen Abteilung vorkommen darf. Vor allem der hermeneutische Zirkel des Verstehens - gleichsam ein Verstehenszug, der wie eine Modelleisenbahn im Kreis fährt - ist hier von Bedeutung. Auf diesen Verstehenszug darf man nicht warten; auf ihn muß man aufspringen. Sein Tempo läßt das zu. - Hat man sein Abteil dann gefunden, sollte man sich auf eine lange Reise einstellen. Der Zug durchfährt in seiner Kreisbahn immer wieder die langsam vertrauter werdende Landschaft. Hohe fundamentalontologische Gebirgsketten mit nebelverhangenen Seins-Gipfel wechseln sich ab mit metaphysisch tiefen Schluchten. Dazwischen gelegentlich Ödnis. -
Martin Carrier, in Grundbegriffe der Philosophie: Wissenschaft hat geschrieben : Die Geistes-Wissenschaften entstanden ebenfalls als Ausgründungen aus der Philosophie und haben es nach Wilhelm Dilthey (Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1883) mit dem →Verstehen willentlich erzeugter, sinnvoller Lebensäußerungen zu tun. Während der Erkenntnisprozess in den Natur-W. induktiv aufsteigend (→Induktion) von besonderen Erfahrungen zu allgemeinen Gesetzen verlaufe, erfolge er in den Geistes-W. in einem spiralförmigen Prozess, gehe von den Einzelheiten aus und führe zu einem Gesamtbild, in dessen Licht die Einzelheiten wieder neu verstanden werden müssen (›hermeneutischer Zirkel‹). Allerdings hat die W.-Philosophie des 20. Jh. diesem methodologischen Gegensatz viel von seiner Brisanz genommen. Da der hermeneutische Zirkel für menschliches Verstehen generell relevant ist, kommt er auch im naturwissenschaftlichen Forschungsprozess zur Geltung, der gerade diejenige spiralförmige Gestalt aufweist, die für die Geistes-W. beansprucht worden ist.
Ein hermeneutischer Zirkel ist also eigentlich eine Spirale, daher kommt man mit ihm auch weiter und er ist nicht geschlossen. Während ein Begründungs-Zirkel geschlossen ist und einen nicht voranbringt, weil man am Ende wieder genau da steht, wo man angefangen hat. Zirkel ist also nicht einfach Zirkel, oder mit anderen Worten: nicht jeder Zirkel ist vitiös und Zirkel gibt es auch nicht nur in der Hermeneutik.




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Jörn Budesheim
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Di 30. Jun 2020, 06:47

"Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts? Das ist die Frage." (Martin Heidegger) Nicht nur die Frage, sondern sogar die Grundfrage, die Frage aller Fragen! Die Frage geht aufs Ganze und was aufs Ganze geht, das ist Metaphysik.




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Stefanie
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Di 30. Jun 2020, 22:49

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 29. Jun 2020, 05:44
Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht."
Vereinfacht: Der Mensch ist dadurch ausgezeichnet, dass es ihm in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. (Das ist der Selbstbezug: Er kann/muss nach sich selbst fragen, sich selbst bestimmen, sich selbst in eine Beziehung zum Sein setzen. Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich...)
O.k. Soweit so zu gut.
Was meint er denn mit diesem Satz:
Das Dasein selbst ist überdies vor anderem Seienden ausgezeichnet.
Erstmal ausgezeichnet? Und dann vor anderen Seienden? Er schreibt ja Dasein, als kann er nur den Menschen meinen, d.h. der Einzelne sieht erstmal nur sich in seinem Sein?



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Do 2. Jul 2020, 06:19

Stefanie hat geschrieben :
Di 30. Jun 2020, 22:49
nur
Ein "nur" finde ich in diesem Absatz nicht.

Wenige Zeilen später führt Heidegger noch einmal aus:

Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht. Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat. Und dies wiederum besagt: Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbestimmtheit des Daseins.

Der Text ist ja fast hundert Jahre alt, ich weiß nicht wie die (philosophischen) Sprachgepflogenheiten zu dieser Zeit waren. "Ausgezeichnet" würde ich daher im ersten Schritt einfach mal verstehen als "unterschieden". Worin sind wir unterschieden, was zeichnet uns aus? Für die Fragestellungen, der Heidegger nachgeht, ist insbesondere das folgende von größten Belang. Ein gewisses Seinsverständnis - und sei es noch so vage - gehört nach Heidegger zur Wesensverfassung des Menschen, also des Dasein. (Wenn man jedoch nach dem Wesen von etwas fragt, egal, was es ist, fragt man immer nach dem, was dieses gegenüber anderem auszeichnet. Der Stein ist gegenüber uns dann dadurch ausgezeichnet, dass er einfach rumliegt und vorhanden ist.)

Wir sind von Mauern und Meisen neben anderem wesentlich darin unterschieden, dass wir diesen eigentümlichen Sein- und Selbstbezug haben. Das würde ich nicht einfach als Egoismus auslegen, sondern eben als den Umstand, dass wir nach uns selbst und unseren Platz in der Wirklichkeit als Teil dieser Wirklichkeit fragen können.

Heidegger will ja eigentlich nicht - so verstehe ich die bisherigen Passagen - den Menschen bestimmen, sondern er fragt nach dem Sein. Da der Mensch aber nach Heidegger dadurch bestimmt ist, dass er ein bestimmtes Seinsverständnis bereits hat, kann er (salopp gesagt) bei sich selbst ansetzen, um diese Frage zu beantworten.

Nach meinem Verständnis ist ein Zug zum "Egoismus" ("nur") zumindest in der zitierten Passage nicht einfach gegeben. Das schließt natürlich nicht aus, dass es diesen Zug und dem Werk "irgendwie" gibt.




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Friederike hat geschrieben :
Fr 26. Jun 2020, 15:45
offtopic: Vielleicht gehört (das) "Sein" zu den absoluten Metaphern. Definiere "Sein"!
Man sollte sich hier vielleicht vor einfachen logischen Fehlern hüten. Aus "absolute Metapher entziehen sich der Definitionsmacht" folgt nicht, dass alles, was ich nicht definieren lässt, eine absolute Metapher ist. Menschen haben keine Flügel, aber nicht alles, was keine Flügel hat, ist ein Mensch.




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Sa 4. Jul 2020, 16:04

Alethos hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 20:03
Aber der Bereich selbst ist als sinngeordnete Vielfalt von Gegenständen wiederum ein Seiendes
Deswegen spreche ich ja auch nur von einer strukturellen Analogie. Sowie die Begriffe Bereich und Gegenstand aufeinander verweisen, verweisen möglicherweise die Begriffe Sein und Seindes aufeinander. Wir können das eine nicht ohne das andere haben.




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Sa 4. Jul 2020, 20:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 4. Jul 2020, 16:04
Alethos hat geschrieben :
So 28. Jun 2020, 20:03
Aber der Bereich selbst ist als sinngeordnete Vielfalt von Gegenständen wiederum ein Seiendes
Deswegen spreche ich ja auch nur von einer strukturellen Analogie. Sowie die Begriffe Bereich und Gegenstand aufeinander verweisen, verweisen möglicherweise die Begriffe Sein und Seindes aufeinander. Wir können das eine nicht ohne das andere haben.
Wenn du das Verwiesensein aufeinander meintest, dann doch wohl in der Art einer Interpendenz. Und obwohl Seiendes Sein hat, sehe ich hier kein strukturgleiches Moment zwischen der in der SFO entwickelten Vorstellung von Bereich/Seiendem und Sein/Seiendem.

Sein scheint mir ein viel allgemeinerer Begriff zu sein von "etwas", das ontisch gar nirgends vorkommt ausser repräsentiert im Seienden. Der Bereich des Rechts kommt aber vor ohne die konkrete Gesetzesschrift.

Aber ich sehe, dass es eine Ähnlichkeit gibt zwischen dem Seiendem als konkret Einzelnes und den Bereich, den es ausbildet und dem Seiendem und dem Sein, durch das es ist.



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So 5. Jul 2020, 08:08

Der metaphysische Schrecken, dass es überhaupt etwas gibt, hängt am schieren "Dass". Denn dieser Überfall handelt nicht von den bestimmten Eigenschaften der Dinge: dass etwas rot ist, dass es schwer ist, dass es sich bewegt, dass es vor dir ist... All das ist in diesem Moment nicht von Belang, sondern allein, dass es ist. Das Dass ist auch das einzige, was ich nicht empirisch erforschen kann ...




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Alethos
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So 5. Jul 2020, 09:36

Wenn es 3'000 Kunstwerke gibt, dann gibt es Kunst. Nehmen wir an, eines dieser Kunstwerke steht bei mir in der Wohnung. Dass es existiert, ist unbestritten und unbestreitbar, wenn ich es betrachten, wenn ich es anfassen, umstellen, ändern kann. Das Dass kann ich empirisch erforschen.

Vernichte ich dieses Kunstexemplar, sodass es nicht mehr existiert, wird mit ihm die Kunst nicht untergehen, da es immerhin noch 2'999 Kunstwerke gibt, und sie den Bereich der Kunst ausmachen. Aber selbst, wenn diese 2'999 Kunstwerke vernichtet würden, gäbe es den Bereich der Kunst noch, meine ich, wenigstens in der Möglichkeit, in der Idee, im Bedürfnis, etwas ästhetisch auszudrücken. Auch dieses Dass der Kunst lässt sich empirisch erforschen - entweder an den 2'999 Gegenständen - oder an der Gewesenheit dieser Gegenstände oder am Seinkönnen dieser Gegenstände in Zukunft.

Aber was ist mit dem Dass des Dass? Dass etwas überhaupt ist, nicht dieses Einzelne ist, sondern, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts ist, dass lässt sich in einer allgemeinen Form der Seiendheit gar nicht fassen - es gibt keinen solchen empirischen Gegenstand, der das Sein schlechthin sein könnte.



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So 5. Jul 2020, 09:46

Ist mir heute beim Meditieren eingefallen: welchen Zusammenhang gibt es eigentlich zwischen Heidegger Sein dem Nichts der "östlichen" Denk-Tradition? Da gibt es natürlich einiges an Texten, ich poste hier einen Ausschnitt aus einer Quelle ...

https://www.google.com/url?sa=t&source= ... 7xhoy0EXkQ
Bezugnahme asiatischer Philosophen auf Hei-
degger. Der Aufsatz »Die neue Wende in der
Phänomenologie« Gapanisch 1924) von Tanabe
Hajime (Buchner 1989, 89ff.) ist die erste publi-
zierte Darstellung des zu Anfang der zwanziger
Jahre von Heidegger neu entwickelten Ansatzes
in der Philosophie. Nicht erst seit Sein und Zeit,
sondern schon in den Jahren davor wurde in
Seminaren an der Universität Kyöto dieser neue
Ansatz diskutiert. Die erste publizierte Überset-
zung eines Heidegger-Textes war 1930 die japani-
sche Fassung von »Was ist Metaphysik?« (1929).
Heidegger läßt den Japaner dazu in Untenvegs
zur Sprache sagen: Wir haben »in Japan den
Vortrag )Was ist Metaphysik?< sogleich verstan-
den, als er im Jahre 1930 durch die Übersetzung
zu uns gelangte. [...] Wir wundem uns heute
noch, wie die Europäer darauf verfallen konnten,
das im genannten Vortrag erörterte Nichts nihili-
stisch zu deuten. Für uns ist die Leere der höch-
ste Name für das, was Sie mit dem Wort )Sein<
sagen möchten.« (US 109) 1933 stellt Tanabe fest:
»Es wird wohl keinen Einwand geben, wenn man
feststellt, daß unter den zeitgenössischen deut-
schen Philosophen Heidegger derjenige ist, dem
von der gegenwärtigen akademischen Welt Ja-
pans das meiste Interesse entgegengebracht
wird.« (Buchner 1989, 139) hn gleichen Jahr
erscheint die erste Monographie über die Philo-
sophie Heideggers von Kuki ShÜZö. Bereits in
den 20er Jahren war es Kuki, der die Gedanken
Heideggers erstmalig in Frankreich vorstellte
und Sartre, seinen damaligen Privatlehrer, auf
Heidegger aufmerksam machte. In Japan folgten
Übersetzungen von weiteren Texten und 1939/40
die erste japanische Übersetzung von Sein und
Zeit, die erste dieses Werkes überhaupt (Buchner
1989,245). Inzwischen gibt es sieben japanische
Übersetzungen von Sein undZeit und zudem eine
»Japanische Heidegger-Gesamtausgabe«, die par-
allel zur deutschen Ausgabe erarbeitet wird.




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