Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑ So 5. Jul 2020, 09:48
Nehmen wir mal und es Argumentes Willen an, dass alles, was du sagst stimmt. Daraus würde jedoch nicht folgen, dass es die Kunst vor den Kunstwerken, Künstlern, Rezipienten,... gibt. Das ist ja schließlich der Streitpunkt.
Wenn es sich mit Kunst und Kunstgegenständen, Kunst und Künstlern denn so verhält, wie mit Sein und Seienden, dann wäre das wohl der Streitpunkt: Ob Kunst vor dem Gegenstand liegt, wie das Sein vor den Seienden. Ich glaube aber nicht, dass sich diese Frage, ob das Sein vor den Seienden liegt, anhand dieser Struktur-Analogie entscheiden oder auch nur sinvoll stellen lässt.
Das Sein ist ein Grundbegriff, der - wenn er auch keine absolute Metapher ist (es handelt sich ja nicht um einen übertragenen Begriff) - wenigstens so verwendet wird, als wäre er eine. Das Sein ist so etwas wie ein Sinnhintergrund, eine zugrundegelegte Idee der Möglichkeit, dass sich Seiende überhaupt vor uns ausbreiten und Wirklichkeit bilden können. Die Wirklichkeit ist sozusagen ein pragmatischer Begriff, weil wir ihn - ohne ihn klar definitorisch auszuformulieren - unseren Begriffen von Empirie, Phänomenologie, Realismus usw. zugrundelegen. Letztere sind, wenn wir so wollen, sekundäre ontologische Begriffe, weil sie erst vor dem Hintergrund einer Vorstellung von Sein gestellt werden können. Diese Vorstellung nennt Heidegger >Sinnhorizont<. Das gerade ist nun auch die Wirkweise von Metaphern, dass sie die Sinnhorizonte aufzeigen, in deren Licht unsere Begriffe Verwendung finden. Metaphern sind Sinnvorstellungen, die an den konkreten Begriffen nur schemenhaft vorkommen, an ihnen sozusagen nur durchscheinend vorkommen und so ist es auch mit den Vorstellungen von Sein: Wir können den Stuhl, den Baum, die Zahlen, das Buch in meinen Händen und die Hände an meinem Buch - alles Seiende - nur als Seiendes erkennen, weil in ihnen unsere Vorstellung dessen, was Sein überhaupt bedeutet, durchscheint. Nicht am einzelnen Gegenstand erkenne ich das Sein, sondern an ihnen die nicht gänzlich fassbare, sondern nur durchscheindende und meinen Begriffen der Einzelgegenstände zugrundeliegende Vorstellung zu sein schlechthin.
Unser Wirklichkeitsbegriff ist so gesehen pragmatisch, weil wir die Wirklichkeit - ohne sie genauer zu definieren oder definieren zu können - als gegeben nehmen in der Art es uns am besten geeignet ist, weiter nach den Seienden zu fragen. Wir fragen die Seienden, anders gesagt, was sie
sind, ohne klären zu können, was Sein denn eigentlich ist - und das ist ein pragmatisches Vorgehen.
Das wird umso mehr deutlich, wenn wir den Begriff >Wahrheit< heranziehen, um etwas als wirklich zu qualifizieren. Es ist schliesslich nur etwas wahr über etwas Seiendes, Wirkliches. Aber eine Wahrheitsdefinition selbst können wir gar nicht geben, ohne über Metaphern auf die Sinnnhorizonte zu rekurieren, durch die der Sinn des Wahrheitbegriffs erhellt wird. Wahrheit ist, wenn kein metaphorischer Begriff, so doch ein Grundbegriff, der uns nur durch metaphorische 'Anreicherung' und damit durch die Metapher als Werkzeug zur Sinnerschliessung zugänglich wird.