Vorlesung: Luhmann - Theorie der Gesellschaft

Gemeinsame Lektüre und Besprechung philosophischer und anderer Literatur.
sybok
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Fr 10. Nov 2023, 07:27

Nauplios hat geschrieben :
Do 9. Nov 2023, 15:58
Talcott Parsons gehört mit seinem AGIL-Schema zweifellos zu den Impulsgebern von Luhmann's Systemtheorie. In den frühen Aufsätzen Luhmanns taucht sein Name immer mal wieder auf. Doch dann tritt er den Hintergrund und sein Strukturfunktionalismus ist eigentlich für das Verständnis der Systemtheorie in ihrer heutigen Form kaum noch von Belang. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß Parsons Theorie zu wenig Potential zur Weiterentwicklung hatte und dann in den USA auch an Bedeutung verlor. Dieser Strukturfunktionalismus ist im Grunde ein toter Arm im Fluß soziologischer Theoriebildung.
Ich mach daran anknüpfend mal sozusagen einen kurzen Exkurs zur Systemtheorie von Parsons, wenn ich das überheblicherweise für den Moment mal so nennen darf. Als kurze Rechtfertigung dafür ;) :
Köbel meinte, im unten erwähnten Podcast, er würde immer erst Parsons und "die Klassiker" in seinen Vorlesungen behandeln, auch wenn sie überholt seien, die Studenten verstünden sonst Luhmann nicht.
Ich hab mir die Soziopod Academics 004: Die strukturfunktionalistische Systemtheorie von Talcott Parsons nun also nochmals angehört, eine kleine Zusammenfassung davon:

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Sie beginnen auch mit einer historischen Einordnung der Soziologie: Frankfurter Schule (sei noch halb Philosophie) --> Durkheim/Weber --> Parsons --> Luhmann/Habermas.
Parsons wird dabei als Begründer einer neuen Richtung in der Soziologie vorgestellt. Dabei sei auch bei ihm schon der Anspruch da, einer epochenübergreifenden, umfassenden Systemtheorie. Diesbezüglich kommen sie auch kurz auf Marx zu sprechen, ordnen ihn aber nicht klar ein: Auch strukturalistische Ansätze, aber scheinbar fehlt da noch was. Mit Luhmann sei dann die Systemtheorie abgeschlossen, Köbel meint, dass ihm keine ausgefeilteren Weiterentwicklungen bekannt wären und Luhmanns Schüler seien eher unbekannt - Dirk Baecker wird dabei von Breitenbach als Einwand darauf kurz erwähnt. Luhmann und Habermas trügen dann die beiden grossen Strömungen in der Soziologie des 20. Jahrhunderts.

Parsons sei sehr stark an die Biologie angelehnt, was etwas schwieriger für Kontinentaleuropa als für die USA nach dem 2. Weltkrieg gewesen sei. Man hätte dann schnell etwa einen "Volkskörper" der "gesunden muss", resp "krank" sein könne. Die Entwicklung von Denkschemata wird im Podcast thematisiert: Mechanik --> Biologie --> Computer, Parsons also im biologischen Denkschema und Luhmann dann schon zur Hälfte bei den Computern.
(Eigentlich ein sehr interessantes Thema, wäre eigentlich auch fast eine Diskussion und genauere Beleuchtung wert, hatten wir hier ja auch mal im KI-Thread thematisiert. Das scheint man wohl nicht unterschätzen zu dürfen, 1+1=3 hat ja auch gleich 2 aus der Zeit vorgestellt, die im "Bio-Schema" dachten.)

Als ein wesentlicher Unterschied zwischen Parsons und Luhmann/Habermas wird ausgemacht, dass bei Parsons die Stabilität von Gesellschaften im Vordergrund stand, während bei Luhmann/Habermas deren Entwicklung, die Dynamik, betont würde. Die Kritik der "kaltherzigen Theorie" wird mehrfach angesprochen, auch bezüglich genannter Stabilität von Gesellschaften: Die "tyrannische Diktatur" wird nicht bewertet, es werden nur Fragen nach der Stabilität dieser Gesellschaftsform gestellt.

Ausführlich wird dann das Thema "Rollen in der Gesellschaft" besprochen. Rollen würden in partikuläre vs. universelle und diffuse vs. spezifische eingeteilt. Eine universelle Rolle sei sowas wie der Busfahrer, von dem für mich etwa egal sei, wie er heisse, sei austauschbar. Spezifisch im Gegensatz dazu etwa die Rolle des Vaters oder Mutter, wo es auf persönliche Beziehungen ankomme. Diffuse Rollen wäre eine Art grenzenlos, etwa Eltern sein, das etwa nicht um eine bestimmte Tageszeit ende. Hingegen würde man am Feierabend keine Mails von Studenten mehr beantworten, die Rolle des Studenten/Dozenten im Gegensatz zu den Eltern dann spezifisch. Gehäufte Fälle von Burnouts werden dann etwa so erklärt, dass es zunehmend eine Verwechslung von diffusen und spezifischen Rollen gäbe: Das Mail des Chefs am Feierabend oder Wochenende sei eigentlich eine Unverschämtheit.
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Das mit den Rollen fand ich einen wirklich coolen und leicht verdaulichen Abschnitt, es liefert auf extrem tiefhängenden Niveau ein eigentlich schon ziemlich brauchbares Analysewerkzeug.




sybok
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Fr 10. Nov 2023, 07:32

Nauplios hat geschrieben :
Do 9. Nov 2023, 20:14
Und er war bescheiden. Wer das Interview mit Alexander Kluge gesehen hat, dem ist vielleicht das ständige "Ja, ja" aufgefallen, mit dem Luhmann jeder Frage und These, die Kluge gestellt hatte, beipflichtete. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion, an der auch eine Studentin teilnahm, die im KBW organisiert war. (Für die Jüngeren: KBW steht für "Kommunistischer Bund Westdeutschland" und war in den 70er Jahren eine jener K-Gruppen, die sich im Anschluß an die Studentenbewegung von 1968 gebildet hatten und deren Ausrichtung maoistisch war.) Als die junge Frau das Wort ergriff, hagelte eine Kaskade von Verdächtigungen auf Luhmann herab, Angriffe auf seine Person inbegriffen. Er sei ein Agent des Kapitals, zementiere mit seiner Systemtheorie die Macht der herrschenden Klasse, sein Denken habe faschistoide Grundzüge usw. Und jede Anschuldigung wurde von ihm mit diesem fast kleinlauten und beschwichtigenden "Ja, ja" begleitet, was natürlich für Heiterkeit sorgte, bevor er seine Erwiderung mit einem versöhnlichen "Ja, ja, das kann man durchaus so sehen" begann ...
Grossartig :mrgreen: !
Das "ja, ja" war in der Tat auffällig, auch dass der Interviewer Luhmann meinem Eindruck nach immer wieder das Wort abgeschnitten hatte, er aber an keiner Stelle Einsprüche dagegen anmeldete.




sybok
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Fr 10. Nov 2023, 07:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 9. Nov 2023, 18:05
https://youtube.com/playlist?list=PLWyL ... rEdX9pPmF7

Eine Liste von 60 Videos. Da haben sich Leute zusammengetan und "die Wissenschaft der Gesellschaft" von Niklas Luhmann gelesen und vermutlich diskutiert, ich habe es gerade zufällig gesehen und wollte euch es nicht vorenthalten, reingeschaut habe ich noch nicht.
Danke! 55-Mal 1.5 Stunden und das Ding läuft ja noch :shock: !
Ich wollte das im Startpost in eine zu erstellende Linkliste aufnehmen. Ich kann aber scheinbar nur die neusten Beiträge editieren, stimmt das oder sehe ich gerade etwas nicht?




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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 07:49

Ja, Luhmann war eine faszinierende Figur, das blitzt in jedem Interview und in jeder Anekdote auf, die man liest oder hört. Er war ja zunächst in der Verwaltung tätig, und dort soll er einem Kollegen, der ihm Tipps geben wollte, wie man sich den Arbeitsalltag dort möglichst angenehm gestalten könne, nur geantwortet haben, dass er Hölderlin lese. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Die Theorie ist natürlich auch faszinierend, keine Frage. Man muss ja sehen, dass jedes Gespräch ein System aufspannt. Mutter: "Wie war es heute in der Schule, wie hat der Lehrer das Bild gefunden, das du gemalt hast?" "Er fand es toll, die anderen auch, Mama, danke, dass du mir dabei geholfen hast! Zwinker, zwinker ;-)" So etwas in Begriffen der (damals avancierten) Biologie (etc.) zu analysieren, sozusagen ohne Bodenkontakt am Ende rein in abstrakten Höhen, ist beeindruckend: Funktion, System/Umwelt, Autopoiesis, Beobachtung, Reentry, Prozess etc. p.p. Dazu griffige Schlagworte: "Nur Kommunikation kommuniziert" und viele andere. Aber man darf vor lauter Freude über die neuen abstrakten Werkzeuge nicht aus den Augen verlieren, worum es eigentlich geht, was damit eigentlich analysiert wird.




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Jörn Budesheim
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sybok hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 07:39
Ich kann aber scheinbar nur die neusten Beiträge editieren, stimmt das oder sehe ich gerade etwas nicht?
Ja, man kann die eigenen Beiträge nur eine gewisse Zeit editieren. Wenn du willst, kann ich den Link in den Startbeitrag kopieren.




sybok
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Fr 10. Nov 2023, 08:00

Nauplios hat geschrieben :
Do 9. Nov 2023, 14:13
(Ein Geheimtipp: Elena Esposito: diplomiert von Umberto Eco, promoviert von Niklas Luhmann. Sie hat über die Paradoxien der Mode geschrieben, über die Finanzwelt, über Unberechenbarkeit u.ä.)
"Geheim" weckt natürlich ohnehin sofort Interesse :twisted: ,... aber die Themen sprechen mich tatsächlich an, habe kurz ihren Wiki-Artikel gelesen und fand den Satz bemerkenswert:
Wikipedia zu Elena Esposito hat geschrieben : Bemerkenswert ist, dass sie die luhmannische Wissenschaftstheorie weniger – wie in der Systemtheorie gängig – mit George Spencer-Brown als vielmehr mit Gotthard Günther fundiert.
Die Frage nach der Fundierung, resp. wohl eigentlich eher sowas wie Beschreibungssprache, scheint also wirklich ein Thema zu sein.
Dass dies, gemäss obigem Zitat, üblicherweise über Spencer-Brown geschieht, find ich bemerkenswert. Es scheint mir da ein Verständigungsproblem zu geben, ein "Auseinanderleben" von Mathematik und Philosophie an der Stelle: In einem philosophischen Umfeld, in diesen Philo-Foren im Netz - scheint Spencer-Brown unproblematisch, eine sogar sehr interessante Geschichte. Würde ich ihn in einem Mathematik-Forum thematisieren wollen und schreiben, dass er Riemann, Vierfarbensatz, Goldbach und Fermat bewiesen haben will, dann würde ich im allerbesten Fall ausgelacht aber wahrscheinlich eher sofort gesperrt, Spencer-Brown ohne weitere Beschäftigung mit dem Thema als Crank klassifiziert (was ich ehrlicherweise sogar auch - in dem entsprechenden Kontext - nachvollziehen könnte).
Luhmann hingegen wird in meiner Wahrnehmung aber reihum Respekt gezollt. Will sagen, es scheint hier eine nicht so recht sichtbare, aber wahrscheinlich ziemlich erhebliche, Spannung zu geben. Fand ich jetzt bemerkenswert.




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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 08:08

Als ich mich mit Luhmann beschäftigt habe, habe ich mir auch "Laws of Form" gekauft. Für einen Laien "schwierig", aber ein schönes Buch ist es allemal. Sehr amüsant sind die Anekdoten, die er darin über Bertrand Russell erzählt. Dieser hatte ihn zu sich "bestellt", um sich die Laws of Form erklären zu lassen. Vielleicht finde ich das Buch irgendwann und zitiere die entsprechenden Stellen daraus :-)

Aber Luhmann bezieht sich eigentlich (soweit ich mich erinnere) nur auf den Anfang des Buches: "Mache eine Unterscheidung ...".




sybok
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Fr 10. Nov 2023, 08:13

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 07:49
Ja, Luhmann war eine faszinierende Figur, das blitzt in jedem Interview und in jeder Anekdote auf, die man liest oder hört. Er war ja zunächst in der Verwaltung tätig, und dort soll er einem Kollegen, der ihm Tipps geben wollte, wie man sich den Arbeitsalltag dort möglichst angenehm gestalten könne, nur geantwortet haben, dass er Hölderlin lese. Ich weiß nicht, ob das stimmt.
Ich glaube, Nauplios hatte auch mal eine Anekdote erzählt, wo Luhmann ein Seminar leiten sollte, statt aber seine Rolle als Seminarleiter zu erfüllen habe er daraus eine Beobachtungsstudie für sich selber gemacht.
Er muss scheinbar wirklich "Vollblutanalytiker" gewesen sein. Im Interview gab es auch so eine Passage wo ich mich beim Zuhören so kurz vor den Kopf gestossen fühlte: Ich glaube wo es um die Frage nach dem Geschlechtsverkehr eines Paares als Thema in der Paarberatung ging. Er meinte, dass ihn nicht interessierte, wie die Geschichte weiterging.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 07:50
Wenn du willst, kann ich den Link in den Startbeitrag kopieren.
Oh, ja danke, das wäre eigentlich noch schön, dann findet man das später schneller wieder.




Timberlake
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Fr 10. Nov 2023, 09:55

sybok hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 07:27
Die Kritik der "kaltherzigen Theorie" wird mehrfach angesprochen, ...
Das haben nun mal rationale Theorien vom Schlage einer Luhmannsche Systemtheorie so an sich.

Wenn beispielsweise nach dieser Theorie sich in einer Gesellschaft Arbeitgeber und Arbeitnehmer .. FUNKTIONAL DIFFERENZIEREN .. da kannst du nichts machen. Na was meinst du denn, warum ich es so spannend fand , was denn von Luhmann danach kam , nach dem eine junge Frau ihn als Agent des Kapitals bezeichnet hat, Schließlich würde dieser .. "kaltherzige" Luhmann mit seiner "kaltherzigen" Systemtheorie die Macht der "kaltherzigen" herrschenden Klasse "kaltherzig" zementieren. Da ist ja durchaus was dran.( Stichwort ... Autopoiesis)

Wenn er ehrlich zu sich selbst und seiner Systemtherie gewesen wäre , hätte er darauf genau das erwidern müssen , was ich hier dazu festgestellt habe ... junge Frau , sie haben völlig recht "da kann man nichts machen" .
Zuletzt geändert von Timberlake am Fr 10. Nov 2023, 10:07, insgesamt 1-mal geändert.




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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 10:07

Stimmt es, dass rationale Theorien vom Schlage einer Luhmannschen Systemtheorie per se kaltherzig sind? Ist Warmherzigkeit irrational? Sicher nicht.




sybok
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Timberlake hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 09:55
Das haben nun mal rationale Theorien vom Schlage einer Luhmannsche Systemtheorie so an sich.
Das nehme ich anders wahr. Eben etwa wenn die Medizin den menschlichen Körper sozusagen als physikalische Maschine betrachtet, das wird dann eher als für den Zweck dienlich betrachtet, mir geht es jedenfalls grob so. Oder wenn ich etwa die Bewegunsströme am Bahnhof über mathematische Gleichungen beschreibe, ist halt ein Modell, interessiert ja nicht, dass da keine normativen Bewertungen enthalten sind. Der "Homo Oeconomicus", die Spieltheorie, Psychologie, Psychiatrie, etc. Alles irgendwo "kalte" - ja halt was wir momentan unter Wissenschaft verstehen - Betrachtungswinkel.
Das scheint aber, und mir persönlich geht es sozusagen in einem ersten Reflex auch so, bei dieser Systemtheorie-Geschichte aus irgend einem merkwürdigen Grund anders zu sein.




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Jörn Budesheim
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Fr 10. Nov 2023, 11:36

sybok hat geschrieben :
Fr 10. Nov 2023, 11:29
"Homo Oeconomicus"
Das ist vielleicht ein interessanter Hinweis, weil man ja weiß, dass dieses Bild falsch ist, denn Moral lässt sich dem Menschen nicht austreiben, Fairness spielt im Verhalten eine Rolle.





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