Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur

Gemeinsame Lektüre und Besprechung philosophischer und anderer Literatur.
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Tosa Inu
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Mi 14. Mär 2018, 16:33

M.M.n. ist Freuds Das Unbehagen in der Kultur, einer der wichtigsten Texte unserer Kultur. ;)
Hier der komplette Text.
Hier eine ansprechende Wikipedia Zusammenfassung.
Die Zusammenfassung zu lesen, fände ich nicht schlecht, im Kontext unseres Thema.

Freud hatte zwar das Phänomen der Kultur, in Abgrenzung zur Natur als Ganzes im Blick, er spricht aber doch mehr von unserer europäiden Kultur.
Ich denke, dass bei der Lektüre der Zusammenfassung klar wird, dass es sehr wohl ein Set von Regeln ist, dass sich ermitteln lässt, unbedingt erwartet wird nämlich der Triebverzicht auf allen nur erdenklichen Ebenen und die Abgrenzung zu anderen Kulturena ist m.E. auch erkennbar.

Da heute ich derjenige mit der wenigen Zeit bin, dies als Impuls.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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Mi 14. Mär 2018, 16:35

Nach der ersten Lesung der "Zusammenfassung" muß ich einfach damit reinplatzen - was für eine grandiose Theorie! Ich bin schwer beeindruckt. Danke für den Hinweis. Was die Zähmung des Animalischen angeht, d.h. die Umsetzung des Kultur"programms" konkret im europäischen Raum und über einen langen Zeitraum betrachtet, dazu nehme ich später eine zweite Lesung vor.




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Friederike
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Mi 14. Mär 2018, 19:30

Teilbeitrag von mir aus "Es gibt keine kulturelle Identität", weil ich hieran sicher noch anknüpfen werde.
Friederike hat geschrieben : Dem "Unbehagen in der Kultur" liegt eine "große" Theorie zugrunde. Dröselt man die "kulturelle Identität" nicht vom Triebverzicht her auf, dann fallen die Sets von Regeln (wie Jörn sinngemäß Julliens Auffassung umschrieben hatte), gegen deren Fehlen Du das Freud'sche System hier reingebracht hast, weg. Es sei denn, man könnte zeigen, daß diese Sets von Regeln auch ohne die "Trieb"-Theorie" existieren und entscheidener noch, zu erklären sind. Soweit ich die "Zusammenfassung" verstanden habe, folgen die Unterschiede oder "Abgrenzungen" (zit. Ausdruck) der europäischen zu anderen Kulturen ebenfalls unmittelbar aus der Triebverzicht- Voraussetzung.




Tosa Inu
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Do 15. Mär 2018, 12:10

Auf Bereiche, die m.E. für die Diskussion um die kulturelle Identität, ob es sie gibt, oder nicht, wichtig sind, habe ich an entsprechender Stelle geantwortet, hier kann man dann vielleicht den Sinn oder Unsinn der Triebtheorie besprechen.

Freuds Triebtheorie ist leidenschaftlich umkämpft, in Teilen revidiert, in anderen bestätigt, unterm Strich vermutlich richtig.
Grundsätzlich besagt die Triebtheorie, dass es in jedem Menschen zwei entgegengesetzte Triebe gibt, Eros und Thanatos, Eros und den Todestrieb oder, wie Kernberg es in der Tradition stehend im jüngsten Buch nennt: Liebe und Aggression.

Bekämpft wurde Freud vor allem in der Annahme eines Todestriebes, heute würde man diesen als allgemeine menschliche Disposition zur Auto- und/oder Fremdaggression bezeichnen und so weit ich das sehe, stimmt Freuds Annahme hier. Man weiß heute mehr über die Entstehung von Trieben aus Affektdispositionen, zur Not kann ich das erklären.

Er irrte sich auf der anderen Seite, in seiner Einstellung über Liebe und in der Folge über Religion. Freud war ein stolzer Atheist und leidenschaftlicher Gegner der Religion. Sein Fehler lag darin, dass er annahm es gäbe die etwas wie eine Gesamtmenge an Liebe, die man zur Verfügung hat. Entwrieder man liebt sich, dann ist man zur Liebe anderer weniger fähig oder man liebt andere, das würde dann das Ich schwächen. Tatsächlich ist man von dieser ich-zentrierten Lesart heute abgewichen und die Objektbeziehungstheorie, die moderne Variante der Psychoanalyse, deutet die Ich von seinen Beziehungen her. Kurz gesagt, ist ein gesundes Ich das Resultat intakter Beziehung, sowie im späteren, ein intaktes Ich die Voraussetzung für gesunde und realistische Beziehungen. Liebe, eine gesunde Beziehung schwächt das Ich also nicht, es stärkt im Gegenteil das Ich.

Genauso ist es mit der Religion. Religion (nicht die Instrumentalisierung der Religion im Dienste eigener Aggressionen) heißt sich in eine Wertesystem einzufügen und auch hier gilt (wie auch für Kunst, Philosophie, Kreativität, Phantasie, Wissenschaft, Politik) dass diese das Ich stärken, weil es Beschäftigungen sind, die über das Ich hinausweisen, man köchelt nicht narzisstisch im eigenen Saft.

Die reine Beschäftigung ist aber kein Garant, denn man kann Religion, aber auch die vermeintliche Liebe, aber auch Kunst, Philosophie, Wissenschaft in den Dienst eigener Aggressionen oder des Narzissmus stellen. Hier sehen wir also das Ringen von Eros und Thanatos ganz lebensnah.


Die große Gegenthese bei uns ist im Grunde genommen, dass der Mensch von Natur aus gar nicht aggressiv ist, sondern, durch verschiedene Bedingungen erst aggressiv wird, was so wie es aussieht vollkommen falsch ist, aber kurioserweise leugnen viele, die sich auf Rousseau oder Marx berufen, dass sie behaupten, was sie behaupten, wenn etwa die Erziehung, das Eigentum oder der Neoliberalismus alles verderben.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Friederike
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Do 15. Mär 2018, 18:31

Mit einem Auszug aus Deinem Beitrag in "Es gibt keine kulturelle Identität" wandere ich hierher:
Tosa Inu hat geschrieben : Kurz und gut ist die Kultur immer eine Gemeinschaft zum Schutz gegen die Natur, die uns eigentlich nur Scherereien macht. Weil dies so ist, wundert sich Freud über viele gesellschaftliche Strömungen, die die Natur geradezu verherrlichen, während von der Kultur niemand so recht begeistert ist und er forscht, warum dies so ist. Seine Antwort:
Der Preis der Kultur ist der Triebverzicht, bzw. der Triebaufschub, in eine moderne Form gebracht die Impulskontrolle. Also ein Set von Regeln, was von uns verlangt, uns zu benehmen und zu beherrschen. Vornehmlich natürlich die von Freud ausgemachten Grundtriebe der Aggression und der Sexualität.
Da das Ich sich im Grunde nicht beherrschen will, empfindet es dieses Regelset der Gesellschaft als unbehaglich, allerdings bietet die Gesellschaft zum Ausgleich Schutz an. Vor der Natur, aber auch vor Übergriffen durch andere. Dennoch bleibt eine konstante Spannung zwischen Ich und Gesellschaft bestehen.
Vor allem der erste Abschnitt erinnert mich sogleich an Adorno, der die Abdrängung aller animalischen Regungen als Grund dafür sieht, daß insbesondere in der Kunst und in ihr gesellschaftlich erlaubterweise, die Natur Gegenstand der Bewunderung und Verherrlichung wird.

Zur "Aggression" als einer der Grundtriebe, T.I.: Kommt es mir nur so vor, als sei das ein Riesenfaß? Was verstehen Freud und was der gegenwärtige "common sense" der Psychologie darunter? Ich bin erstmal gestrandet, weil ich vom Stock aufs Stöckchen kam, als ich anfing zu überlegen, was ich denn darunter verstehe. Aggressives Verhalten als Behauptung und Durchsetzung einer Person, das ihrem Überleben dient oder das ihren Interessen dient ("Interesse" öffnet ein weites Feld von Interpretationen). Aggressives Verhalten als Überschreiten der Regelungen einer Gemeinschaft? Das heißt, aggressives Verhalten wäre grundsätzlich im Widerstreit zwischen "Ich"/Individuum und Gesellschaft anzusiedeln?




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Friederike
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Do 15. Mär 2018, 19:11

Tosa Inu hat geschrieben : Bekämpft wurde Freud vor allem in der Annahme eines Todestriebes, heute würde man diesen als allgemeine menschliche Disposition zur Auto- und/oder Fremdaggression bezeichnen und so weit ich das sehe, stimmt Freuds Annahme hier. Man weiß heute mehr über die Entstehung von Trieben aus Affektdispositionen, zur Not kann ich das erklären.
Erkläre nicht, @T.I., ich werde über die spannende These nachdenken, daß Triebe aus Affektdispositionen entstehen. Vielleicht komme ich selber auf die Lösung. Bis vorhin, bis ich es las, habe ich gemeint, es sei genau andersherum.
Tosa Inu hat geschrieben : Die große Gegenthese bei uns ist im Grunde genommen, dass der Mensch von Natur aus gar nicht aggressiv ist, sondern, durch verschiedene Bedingungen erst aggressiv wird, was so wie es aussieht vollkommen falsch ist, aber kurioserweise leugnen viele, die sich auf Rousseau oder Marx berufen, dass sie behaupten, was sie behaupten, wenn etwa die Erziehung, das Eigentum oder der Neoliberalismus alles verderben.
Ich habe nur öfter im Rahmen der Kinderpsychologie gehört, Kinder würden von sich aus nicht hassen, sie würden weder sadistisch noch masochistisch sein, aber ich weiß nicht, ob das unter "Aggression" fällt. Anderen Kindern was wegnehmen, sie schlagen o.ä. - das wäre eine Reaktion auf die Eltern oder das erziehende Umfeld des Kindes. Der Ur- bzw. der Geburtszustand sei un-aggressiv.




Tosa Inu
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Fr 16. Mär 2018, 10:30

Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 18:31
Vor allem der erste Abschnitt erinnert mich sogleich an Adorno, der die Abdrängung aller animalischen Regungen als Grund dafür sieht, daß insbesondere in der Kunst und in ihr gesellschaftlich erlaubterweise, die Natur Gegenstand der Bewunderung und Verherrlichung wird.
Ja, ich hatte zwar beim Schreiben Retrobewegungen à la "Zurück zur Natur" im Sinn, aber künstlerische Motive sind sicher auch ein Ausdruck davon.
Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 18:31
Zur "Aggression" als einer der Grundtriebe, T.I.: Kommt es mir nur so vor, als sei das ein Riesenfaß?/quote]Das ist kein Riesenfass nur gesellschaftlich in Teilen geleugnet. Wenn man das aus der Sicht sieht, dann doch ein Riesenfass.
Ich zitiere mal nur einen kleinen Ausschnitt aus Kernbergs Liebe und Aggression, der einen Blick auf die Fässer erlaubt:
Otto F. Kernberg hat geschrieben : Doch ist die eingang zitierte Sichtweise - ein hartnäckiges Festhalten der westlichen Welt an einigen konventionellen kulturellen Mythen - durchaus zutreffend. Das brtrifft
  • den Mythos der sexuellen Unschuld des Kindes,
  • den Mythos, dass der Mensch von Grund auf gut ist, sowie
  • den Mythos, dass bei einer menschlichen Begegnung zumindest eine der beiden Partein der andere zu helfen bemüht ist.
Max Gitelson fasste dies in den Worten zusammen: "Es gibt viele Menschen, die an die Psychoanalyse glauben, außer wenn es um Sex, Aggression und Übertragung geht."
(Otto F. Kernberg, Liebe und Aggression, Schattauer 2014, S.301)
Das sind dann m.E. auch Punkte, von denen aus man zu Jullien rüberschielen kann, insbesondere der Hinweis auf die "westliche Welt".
Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 18:31
Was verstehen Freud und was der gegenwärtige "common sense" der Psychologie darunter? Ich bin erstmal gestrandet, weil ich vom Stock aufs Stöckchen kam, als ich anfing zu überlegen, was ich denn darunter verstehe. Aggressives Verhalten als Behauptung und Durchsetzung einer Person, das ihrem Überleben dient oder das ihren Interessen dient ("Interesse" öffnet ein weites Feld von Interpretationen). Aggressives Verhalten als Überschreiten der Regelungen einer Gemeinschaft? Das heißt, aggressives Verhalten wäre grundsätzlich im Widerstreit zwischen "Ich"/Individuum und Gesellschaft anzusiedeln?
Aggression ist ein Verhalten der Zerstörung von Beziehungen. Der Höhepunkt ist die Zerstörung eines oder beider Objekte der Beziehungen, also man tötet sich selbst oder den anderen, natürlich sind auch körperliche Angriffe, sexuelle Übergriffe (wo es echte Übergriffe sind) und selbstverletzende Verhalten aggressiv und eine reiche Quelle von Aggressionen ist auch die bewusste und häufiger unbewusste Zerstörung einer Kommunikation auf Augenhöhe. Ich meine nicht nur die "Hater" im Internet, sondern Formen wie Arroganz, das Herstellen und Aufrechterhalten asymmetrischer Konstellationen (der "Dozent" erklärt die Welt und lässt plump oder subtil durchblicken, was er alles so weiß und klagt beständig über Niveauverluste hier und da). Es gibt Formen sich selbst und sein berufliches Fortkommen zu sabotieren, alle Versuche der Hilfe unbewusst zu sabotieren ...
Auch die Form der Partnersuche durch eine vorherige "Marktanalyse", wie ich als Begriff eben noch gelesen habe, versus das Modell der Verliebtheit, ist ein Form der Aggression, weil bei diesem ach so vernüftigen Verfahren, der andere Objekt von Anfang an ist, der narzisstische Wunsch sich den anderen gleich zu machen, ist auch getrieben von Aggression usw.

Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 19:11
Erkläre nicht, @T.I., ich werde über die spannende These nachdenken, daß Triebe aus Affektdispositionen entstehen. Vielleicht komme ich selber auf die Lösung. Bis vorhin, bis ich es las, habe ich gemeint, es sei genau andersherum.
Wenn Du genug geprockelt hast, dann kannst Du hier klicken, unter Punkt 1. und 2. findest Du eine knappe Erklärung, wenn die zu knapp sind, bin ich als "Dozent" gerne bereit Dir die Welt zu erklären. ;)
Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 19:11
Ich habe nur öfter im Rahmen der Kinderpsychologie gehört, Kinder würden von sich aus nicht hassen, sie würden weder sadistisch noch masochistisch sein, aber ich weiß nicht, ob das unter "Aggression" fällt.
Das würde auf jeden Fall unter Aggression fallen.
Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 19:11
Anderen Kindern was wegnehmen, sie schlagen o.ä. - das wäre eine Reaktion auf die Eltern oder das erziehende Umfeld des Kindes. Der Ur- bzw. der Geburtszustand sei un-aggressiv.
Das ist vermutlich vollkommen falsch.
Peter Fonagy hat geschrieben : „Aggression tritt nicht plötzlich auf, sie verschwindet allmählich. Berichte von Müttern legen den Schluss nahe, dass körperlich aggressives Verhalten am Ende des 2. Lebensjahrs seinen Höhepunkt erreicht, um dann stetig abzunehmen (Tremblay et al. 1999). Rund 90% aller Mütter bestätigen, dass im Alter von 17 Monaten ihr Kind körperlich aggressiv gegen andere ist. Ungefähr eines von vier Kindern dieser Altersstufe hat ein anderes Kind geschlagen. Interessanterweise neigen Mütter dazu, dies zu vergessen, um ein Jahr später zu behaupten, ihr Kind habe bis zum 2. Lebensjahr kein anderes Kind geschlagen. Im Alter von 12 Monaten verfügen Kinder über die kognitiven, körperlichen und emotionalen Möglichkeiten, sich anderen gegenüber aggressiv zu zeigen, und sobald dies der Fall ist, so scheint es, beginnen sie tatsächlich zu schlagen, zu beißen und zu treten. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass sobald das kindliche Gehirn Kontrolle über ein Bein oder einen Arm erlangt, dies auch in den Dienst der Aggression gestellt wird, das heißt, zu treten, zu schubsen, zu ziehen, zu vernichten.“
Peter Fonagy, Persönlichkeitsstörung und Gewalt – ein psychoanalytisch-bindungstheoretischer Ansatz, in: in Otto F Kernberg (Herausgeber), Hans P Hartmann (Herausgeber), Narzissmus: Grundlagen – Störungsbilder – Therapie, Schattauer 2009, S. 496 f



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Friederike
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Fr 16. Mär 2018, 14:21

Selber habe ich das Rätsel der Triebentstehung aus Affektdispositionen nicht lösen können, weil mir, wie Deine Hilfestellung zeigt, der terminologische Hintergrund fehlte, der die These erklärt (Libido, Trieb, Affekt).

Mit dem Riesenfaß meinte ich nicht die gängigen Auffassungen, die in unserer Gesellschaft über Aggressivität herumgeistern, sondern eigentlich genau das, was sich auch in Deinen Ausführungen widerspiegelt. Der erste Satz ist noch eine klare Aussage. Aggression ist ein Effekt von Beziehungen. Und gleich im Anschluß passiert das, was ich Stock zum Stöckchen nannte, ein Sammelsurium von Bespielen, was alles aggressiv ist. Daß es mir als Laiin so geht, verwundert mich nicht. Von Dir @T.I., als Fachmann für Psychologisches, hatte ich eine kurze, gleichwohl umfassende und erschöpfende kleine Systematik erwartet. Nein, weitere Wünsche habe ich nicht. :lol:

NS: Ich möchte den zweiten Abschnitt nicht löschen, aber für den Fall, daß Du mich zu frech oder schlimmer "dreist" findest, dann bitte ich um ein klares Stop-Signal, T.I.




Tosa Inu
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Fr 16. Mär 2018, 18:33

Alles gut, ich bin ja Fachmann für Psychologisches. Das ist so herrlich unscharf, wer kann dazu schon nein sagen?

Was ich ungefähr sagen wollte: Aggressionen sind erst mal alles, was man dafür hält, also alles, wofür man juristisch belangt werden kann. Mord, Körperverletzung, Erpressung, sexuelle Gewalt, Raub, Nötigung, Beleidigung ...
Dann aber auch Formen subtilerer Gewalt. Emotionale Erpressung, wie Selbstverletzungen oder -vernachlässigung. Das sind durchaus schwere, aber mitunter unbewusste Formen. Ich quäle den anderen, indem ich ihm zeige, dass er keine Macht hat, mich zu retten. Die Selbstsaboage, der Gesundheit oder des sozialen Vorwärtskommens gehört auch hier zu und die schlimmsten Fälle antisozialer Persönlichkeitsstörungen gehören in diese Gruppe. Es gab oder gibt den Begriff den Koryphäen Killer Syndroms, bei dem Patienten von Spezialist zu Spezialist reisen, um diesen zu beweisen, dass auch sie, in ihrem Fall, Totalversager sind. Man gebießt die Macht, dass einem niemand helfen kann. Oft verbunden mit juristischen Klagen wegen Behandlungsfehlern.
Auch unbewusst neidisch zu zerstören (durch Entwertung), was andere haben, statt sich an und mit ihnen zu freuen, ist ein Ausdruck von Aggression.
Dann gibt es noch Formen, in denen Menschen aggressiv sind, die Aggression aber als Wohltat verkaufen und niemals auf die Idee kommen würde, dass Aggression sie motiviert, Stichwort: "Ich will doch nur dein Bestes."
(Schon Sophokles hat den Ödipus sagen lassen, dieses Beste sei ihm schon lange genug unerträglich.)

Wenn Du es also vom Umfang her meintest, ist Aggression in der Tat ein großes Fass.
Die Faustregel lautet, dass alles was früher unter Neurose lief: Zwangstörungen, Hysterie und Depression einen sexuellen Hintergrund hat bei guter Persönlichkkeitsorganisation, während die schweren Persönlichkeitsstörungen alle Aggression zum Thema haben, bzw, als unbewussten Konflikt haben.

Affekte sind die Bausteine der Triebe. Affekte sind angeborene Reaktionsmöglichkeit auf Umweltreize und grob kann man die Reaktion auf diese Reize, als aversiv (Ekel, Wut, Angst ...) bezeichnen und freudig (Freude, Lust ...). Die bösen Reize versucht das Kind zu vermeiden, die guten zu wiederholen, so kommt die grunlegende Polarität in die Welt und eben die Triebe. Nur gut vs. nur böse. Im Normalfall wachsen die nur guten und nur bösen Affekte im Laufe der Jahre zu einem sowohl als auch zusammen. Aggression und allgemein der Eindruck von Spitzenaffekten verhindern dieses Zusammenwachsen und der Mensch wird selbst bei hoher Intelligenz Aggression als zentralen Konflikt haben, in irgendeiner der oben erwähnten Formen.
Allerdings war Deine Intuition insofern richtig, als die Triebe ihrerseits mit der weiteren Ausbildungen der Affekte wechselwirken.
Affekte sind allerdings etwas anderes als Instinkte. Der Mensch gilt als sehr instinktarm und affektreich.



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Jörn Budesheim
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So 18. Mär 2018, 09:14

Tosa Inu hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 16:33
M.M.n. ist Freuds Das Unbehagen in den Kultur, einer der wichtigsten Texte unserer Kultur. ;)
Hier der komplette Text.
Friederike hat geschrieben :
Mi 14. Mär 2018, 16:35
was für eine grandiose Theorie! Ich bin schwer beeindruckt.
Ich würde diesen Faden gerne ein weiteres mal verschieben - und zwar in den Bereich "Lektüre". Dazu würde ich den Anfang des Threads etwas ändern, indem ich die Bezüge zum Jullien-Faden wieder entferne. Einverstanden?




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Friederike
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Mo 19. Mär 2018, 12:23

Tosa Inu hat geschrieben :
Fr 16. Mär 2018, 18:33
Wenn Du es also vom Umfang her meintest, ist Aggression in der Tat ein großes Fass.
Ja. Und mich interessieren insbesondere die aggressiven Verhaltensweisen, die prima facie nicht so wirken oder erscheinen als seien sie aggressiv. Du hast einige konkrete Beispiele genannt. Ich würde sie, so habe ich es gelernt, unter "passiver Aggression" zusammenfassen.
Tosa Inu hat geschrieben : Affekte sind allerdings etwas anderes als Instinkte. Der Mensch gilt als sehr instinktarm und affektreich.
Ja.
Tosa Inu hat geschrieben : Affekte sind die Bausteine der Triebe. Affekte sind angeborene Reaktionsmöglichkeit auf Umweltreize und grob kann man die Reaktion auf diese Reize, als aversiv (Ekel, Wut, Angst ...) bezeichnen und freudig (Freude, Lust ...). Die bösen Reize versucht das Kind zu vermeiden, die guten zu wiederholen, so kommt die grunlegende Polarität in die Welt und eben die Triebe. Nur gut vs. nur böse. Im Normalfall wachsen die nur guten und nur bösen Affekte im Laufe der Jahre zu einem sowohl als auch zusammen. Aggression und allgemein der Eindruck von Spitzenaffekten verhindern dieses Zusammenwachsen und der Mensch wird selbst bei hoher Intelligenz Aggression als zentralen Konflikt haben, in irgendeiner der oben erwähnten Formen.
Allerdings war Deine Intuition insofern richtig, als die Triebe ihrerseits mit der weiteren Ausbildungen der Affekte wechselwirken.
Mit dem Begriff "Triebe" muß ich mich erst anfreunden. Nein, muß ich ja nicht. Anders. :lol: Bisher habe ich den Begriff anstelle von "Instinkt" gebraucht. Das ist aber natürlich eine persönliche Gebrauchsweise, die keinen theoretischen Hintergrund hat. Womit ich mich vertraut machen muß, das ist die Bedeutung des Wortes "Trieb" innerhalb von Freuds- bzw. Kernbergs Theorie. Und das, was Kernberg "Trieb" (Aggressivität, Liebe) nennt, das hätte ich bisher als "Stimmung" bezeichnet. So eine Art von Grund"gestimmtheit", die im Unterschied zu den Affekten nicht intentional ist; frei flottierend. Wenn es lediglich eine Angelegenheit des Wörteraustauschens ist, dann habe ich keine Mühe, die Rolle der Triebe zu verstehen. Meine Vermutung ist allerdings, daß "Triebe" und "Stimmungen" zumindest bei F/K keine Synonyme sind. Ich finde es spannend, den gesamten Bereich, den wir Emotionalität nennen, zu systematisieren. Da ich versuche, dies hauptsächlich ohne Lit. zu tun, kenne ich mich im wiss. Forschungsfeld nicht gut aus. Wo finden die "Stimmungen" bei F/K ihren Platz, T.I.?




Tosa Inu
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Mo 19. Mär 2018, 14:13

Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Mär 2018, 12:23
Ja. Und mich interessieren insbesondere die aggressiven Verhaltensweisen, die prima facie nicht so wirken oder erscheinen als seien sie aggressiv. Du hast einige konkrete Beispiele genannt. Ich würde sie, so habe ich es gelernt, unter "passiver Aggression" zusammenfassen.
Ist auch ein sehr spannendes Thema, das den Vorteil hat, immer noch spannender zu werden, je mehr man, hat man diese Landschaft oder Welt erst einmal betreten, um sich schaut.
Es ist, wenn wir schon bei Fässern sind, die große andere Seite der Philosophie. Philosophie schaut auf die Güte des Arguments, den rationalen Gehalt und die logische Konsistenz von Aussagen, da sind Emotionen (bis auf junge, erste Gehversuche) Störfeuer, Irrationalitäten, haben den Geruch des irgendwie Minderwertigen. Das All, so dachte man - vor allem wirklich: Mann - ist eine große Vernunftmaschine. Faszinierend übrigens auch der Wechsel des Geschlechts der Gottheiten. Das hat sich in unserer Zeit zum Bild der gut geölten Maschine versachlicht, neueste Variante ist, dass der Mensch an sich ein Webfehler im System ist und Algorithmen alles viel besser können. Weil er diesen Defekt namens Emotion hat, der irgendwie was lästig Unberechenbares hat. Das muss man natürlich in den Griff bekommen und schreibt Affekten und Emotionen Nützlichkeiten zu, dann passt wieder alles. Emotionen lassen das in der Regel mit sich nicht machen.
Bis heute macht die Zusammenführung der ungleichen Vertreter erhebliche Schwierigkeiten. Variante 1: Der Homo Oeconomicus, ist theoretisch so tot, wie überhaupt nur etwas tot sein kann. Spannend daran und eine der Szenen, die mir aus Kahnemans Buch Schnelles Denken, langsames Denken am meisten haften blieb, war, was danach passierte. Nachdem irgendwer nach Sichtung diverser Studien definitiv feststellte, dass der Mensch kein rein oder primär rationaler Agent ist, hat derselbe Mensch, der das rausfand, sofort angefangen, vollkommen konträr zu seinen eigenen glasklaren Erkenntnissen zu erklären, dass und warum der Mensch aber eigentlich doch ein rationaler Agent ist. Mit anderen Worten: Hier müssen eine Menge Emotionen im Spiel sein. :)
Variante 2: Nach Gehard Roth ist ganz im Gegenteil das Denken nur Beiwerk, die Garnitur beim Essen. Die Emotionen sagen, wohin die Reise geht, die Ratio darf die Koffer packen. Schönes Bild, aber leider selbstwidersprüchlich, weil die stakre These Roths, der Mensch sei durch Argumente eigentlich gar nicht zu erreichen, sofort die Frage aufwirft, wofür denn dann geforscht werden sollte? Dann lieber alles in die Werbung, aber selbst die setzt ja auf sehr rational agierende Macher.
Die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie vereint beides und ist die einzige Disziplin, die den Stier bei den Hörnern packt, außer natürlich der Kunst und der Spiritualität, die beide jedoch auf unterschiedliche Weise nicht systematisch im Sinne der Wissenschaft sind.
Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Mär 2018, 12:23
Mit dem Begriff "Triebe" muß ich mich erst anfreunden. Nein, muß ich ja nicht. Anders. :lol: Bisher habe ich den Begriff anstelle von "Instinkt" gebraucht. Das ist aber natürlich eine persönliche Gebrauchsweise, die keinen theoretischen Hintergrund hat. Womit ich mich vertraut machen muß, das ist die Bedeutung des Wortes "Trieb" innerhalb von Freuds- bzw. Kernbergs Theorie. Und das, was Kernberg "Trieb" (Aggressivität, Liebe) nennt, das hätte ich bisher als "Stimmung" bezeichnet. So eine Art von Grund"gestimmtheit", die im Unterschied zu den Affekten nicht intentional ist; frei flottierend.
Das ist für mich alles nachvollziehbar und passt im Fall der Stimmung semantisch sogar fast besser, allerdings mit geringen Abweichungen, die Du auch feststellst.
Friederike hat geschrieben :
Mo 19. Mär 2018, 12:23
Wenn es lediglich eine Angelegenheit des Wörteraustauschens ist, dann habe ich keine Mühe, die Rolle der Triebe zu verstehen. Meine Vermutung ist allerdings, daß "Triebe" und "Stimmungen" zumindest bei F/K keine Synonyme sind. Ich finde es spannend, den gesamten Bereich, den wir Emotionalität nennen, zu systematisieren. Da ich versuche, dies hauptsächlich ohne Lit. zu tun, kenne ich mich im wiss. Forschungsfeld nicht gut aus. Wo finden die "Stimmungen" bei F/K ihren Platz, T.I.?
Ich glaube auch, dass Stimmungen und Triebe verschieden sind, denn Stimmungen verbindet man eher mit einer grundsätzlichen Gestimmtheit, d.h. bewertender Sicht auf die Welt, in dem wir ihr und ihren Einwohnern Motive unterstellen. Das kann konstant optimistisch sein, aber ebenso konstant depressiv und pessimistisch. Beim Trieb ist eher die Frage, aufgrund welcher Motive ich agiere: bin ich liebevoll oder aggressiv? Das kann sich mit der Stimmung überschneiden, weil die 'finsteren' Motive anderer ja auch meine Projektionen sind, aber das muss sich nicht völlständig decken und tut es wohl auch nicht.
Stimmung versteckt sich in der Psychologie zumeist wohl im Antrieb oder der Motivation.
Da ich mich kürtzlich noch damit beschäftigt habe, weiß ich, dass man da nicht viel drüber weiß. Man schaufelt im Moment die Erkenntnisse vom einen auf den anderen Berg, besonders befriedigend ist das nicht. Was man so als sicher verkauft bekommt, sind alles Krücken. Depression - im wesentlichen ja eine Antriebshemmung, um in dem obigen Bild zu bleiben - sei ja in Wahrheit eine Stoffwechselstörung, zu wenig Serotonin und so.
Vermutlich ist das nicht mal die halbe Wahrheit, im schlimmsten Falle sogar komplett falsch. Aber hier trifft man auf dieselbe geschlossene Tür, wie die Philosophen und Hirnforscher, die den Zusammenhang zwischen Psyche, Geist und Gehirn einfach nicht gefasst bekommen.
Irgendwas scheint da ganz grundsätzlich nicht zu passen, was dadurch etwas aus dem Blick gerät, dass es im Detail oft hier und da rund erscheint, ohne rund zu sein, es fehlt der roten Faden, der die Einzelteile sinnvoll verbindet.
Inzwischen kommt man drauf, dass "die Psyche" da ein Faktor ist, der man in der Medizin ungefähr dasselbe unterstellt hat, die die Philosophen den Emotionen. Es gibt sie, dummerweise. Ohne sie wäre alles viel einfacher.

Abgesehen davon, dass ich das Bild der Evolution als sich selbst optimierende Nützlichkeitsmaschine nicht sehr überzeugend finde: Dass sich Psyche gerade nicht wie eine Kette von Algorithmen verhält, ist vermulich der Grund, dass wir hier über den Zussammenhang von Emotionen und Rationalität diskutieren können.



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Do 22. Mär 2018, 10:12

Tosa Inu hat geschrieben :
Mo 19. Mär 2018, 14:13
Faszinierend übrigens auch der Wechsel des Geschlechts der Gottheiten. Das hat sich in unserer Zeit zum Bild der gut geölten Maschine versachlicht, neueste Variante ist, dass der Mensch an sich ein Webfehler im System ist und Algorithmen alles viel besser können. Weil er diesen Defekt namens Emotion hat, der irgendwie was lästig Unberechenbares hat. Das muss man natürlich in den Griff bekommen und schreibt Affekten und Emotionen Nützlichkeiten zu, dann passt wieder alles. Emotionen lassen das in der Regel mit sich nicht machen.
Der Geschlechtswechsel der Gottheiten? Ich stehe auf dem Schlauch, worauf Du anspielst. Du meinst doch sicher nicht den grammatikalischen Wechsel von dem (männlich) Gott zu der (weiblich) Maschine. :lol:
Tosa Inu hat geschrieben : Die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie vereint beides und ist die einzige Disziplin, die den Stier bei den Hörnern packt, außer natürlich der Kunst und der Spiritualität, die beide jedoch auf unterschiedliche Weise nicht systematisch im Sinne der Wissenschaft sind.
Im obigen Zitat beziehst Du Dich auf die Erarbeitung von holistischen Modellen bzw. von Modellen des Menschen, die das Zusammenwirken der Einzelteile (ratio und Emotion) plausibel erklären. Ich bleibe bei den Emotionen, Gefühlen, Affekten (an dieser Stelle als Synonyme gesetzt). Wie sie gezähmt und kanalisiert werden, dürfte -auch abgesehen von Freuds "Unbehagen"- keine sonderlich neue und originelle Frage sein, sicher aber ist es ein wichtiges Merkmal für kulturelle Unterschiede.

Die Ästhetisierung von Gefühlen in den Künsten; die Spiritualisierung von Gefühlen in Religion und Esoterik; soziale Umgangsformen im Alltagsleben; Ausdrucksformen für Gefühle in Gestik, Mimik, Bewegung, Kleidung; die Art und Weise, wie Gefühle pathologisiert werden (unter Einbeziehung von Wissenschaften wie Medizin und Psychologie); alle gesellschaftlich ritualisierten Formen, durch die Gefühle in die Bahnen gelenkt werden, die in einer Kultur für angemessen und richtig erachtet werden. Gemeinschaftssport, die Feierriten anläßlich gesellschaftlicher Festtage; der Eingang, den Gefühle in die Rechtsbücher gefunden haben (ist es selbstverständlich, daß Tötung "im Affekt" anders sanktioniert wird als planmäßige Tötung); die geschlechtsspezifische Verteilung und Zuordnung von Gefühlen, mit der u.a. ihrer Zämung ein größerer Spielraum ermöglicht wird.




Tosa Inu
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Friederike hat geschrieben :
Do 22. Mär 2018, 10:12
Der Geschlechtswechsel der Gottheiten? Ich stehe auf dem Schlauch, worauf Du anspielst. Du meinst doch sicher nicht den grammatikalischen Wechsel von dem (männlich) Gott zu der (weiblich) Maschine. :lol:
Nein, ich meinte Große Mutter/Göttin zu Gottvater.
Gott wurde für viele enttront, erst war es die große, perfekte Maschine, aber das Bild kippt ja gerade.
Was die Psyche angeht, schon länger.
Psychologen konnten mit der Psychoanalyse Freuds immer recht wenig anfangen, obwohl er knallharter Rationalist war.

Friederike hat geschrieben :
Do 22. Mär 2018, 10:12
... sicher aber ist es ein wichtiges Merkmal für kulturelle Unterschiede.
So sehe ich das auch.
Jede Kultur macht das anders und identifiziert sich großenteils mit ihren Eigenarten.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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Impootiert aus dem Lanschaftsthread:
Friederike hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 13:53
Puh ... wie eng und dunkel. Aha, interessant, "Landschaft" ist für mich also verbunden mit Weite und Überblick. Ein Art überdachter vorspringender Höhleneingang, der einen verschlucken will, das ist keine "Landschaft". Und selbst das Grün davor wirkt düster, es sieht naß und schwer aus.
Die spannende Frage bei diesen psychologisch lehrbuchmäßigigen Assoziationen ist: Ist das eigentlich antrainiert, diese Assoziationskette, oder gibt es da tief in uns noch eine andere Schicht, die mehr oder minder automatisch die "richtigen" Verknüpfungen herstellt, wenn wir z.B. mit einem Bild oder einer Skulptur konfrontiert sind? Bei Gesichtern ist dei Sache klar und erklärbar, aber was ist mit sowas, wie einer Höhle?

Es gibt eine - in Österreich viel verbreitetere - Richtung der Psychotherapie, das katathyme Bilderleben, heute glaube ich katathym-imaginative Therapie. Man läuft dort zum Einüben zunächst durch Landschaften, etwas Unverfängliches wie eine Wiese. Später dann gibt es Therapiesitzungen, bei denen komplexere Landschaften eine Rolle spielen und bei denen ein neckisches Detail wichtig ist: Wann immer eine Höhle oder ein Brunnen auftaucht, wird dieser mit einem Bannkreis versehen, damit man nicht versehentlich dort hingerät. Warum? Nun, in der Entwicklung dieser Therapieform passierte es natürlich, dass man Menschen dort nachschauen ließ und diese Höhlen erwiesen sich regelmäßig als Tore zu anderen Welten, Unterwelten, in denen sich dann Dinge ereigneten, die den katathymen Therapeuten den Schweiß auf die Stirn trieb, inklusive das einige Menschen wohl spontane Todeserfahrungen hatten, allesamt Menschen, die symbolisch nicht vorbelastet waren oder auf diesbezügliche therapeutische Suggestionen reagierten.

Die Urhöhle bei Freud ist sicher die Vagina, aber psychologisch ist es so, dass Liebe, Sexualität, Geburt, Tod und Transzendenz eine faszinierend dichte Einheit bilden.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Timberlake
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Di 14. Mär 2023, 00:01

Tosa Inu hat geschrieben :
Fr 16. Mär 2018, 10:30
Friederike hat geschrieben :
Do 15. Mär 2018, 18:31
Vor allem der erste Abschnitt erinnert mich sogleich an Adorno, der die Abdrängung aller animalischen Regungen als Grund dafür sieht, daß insbesondere in der Kunst und in ihr gesellschaftlich erlaubterweise, die Natur Gegenstand der Bewunderung und Verherrlichung wird.
Ja, ich hatte zwar beim Schreiben Retrobewegungen à la "Zurück zur Natur" im Sinn, aber künstlerische Motive sind sicher auch ein Ausdruck davon.
  • Hier kann man den interessanten Fall anschließen, daß das Lebensglück vorwiegend im Genusse der Schönheit gesucht wird, wo immer sie sich unseren Sinnen und unserem Urteil zeigt, der Schönheit menschlicher Formen und Gesten, von Naturobjekten und Landschaften, künstlerischen und selbst wissenschaftlichen Schöpfungen. Diese ästhetische Einstellung zum Lebensziel bietet wenig Schutz gegen drohende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen.
    Freud .. Das Unbehagen in der Kultur
"künstlerische Motive" mögen nach Ansicht von Freud tatsächlich für vieles entschädigen. Gleichwohl sie nur wenig Schutz gegen drohende Leiden bieten. Leiden , wie sie sich in einer Retrobewegungen à la "Zurück zur Natur" übrigens schon fast von selbst ergeben ... – »oh inch of nature!« – ..
  • Es klingt nicht nur wie ein Märchen, es ist direkt die Erfüllung aller – nein, der meisten – Märchenwünsche, was der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik auf dieser Erde hergestellt hat, in der er zuerst als ein schwaches Tierwesen auftrat und in die jedes Individuum seiner Art wiederum als hilfloser Säugling – »oh inch of nature!« – eintreten muß. All diesen Besitz darf er als Kulturerwerb ansprechen. Er hatte sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden.
    Freud .. Das Unbehagen in der Kultur
Wenn man also beim Schreiben einen Retrobewegungen à la "Zurück zur Natur" im Sinn hat , dann ganz sicher ohne den Verzicht jener Märchenwünsche, die sich der Mensch durch seine Wissenschaft und Technik hergestellt hat. Insofern , weil als solches .. selbst! .. nicht Bestandteil der Natur , gerät die Bewunderung und Verherrlichung der Natur .. selbst! .. zum Kunstgegenstand oder auch nur zum Kitsch ..
  • Röhrender Hirsch
    Der röhrende Hirsch ist ein Motiv aus der Wildmalerei, das oftmals heute als Inbegriff des Kitsches und des trivialen Wandbilddrucks des 19. und 20. Jahrhunderts gilt.
    Psychologische Deutungen
    Tiefenpsychologisch lässt sich das Motiv sexuell deuten.Neben der offensichtlichen Tatsache, dass es sich um eine Liebesszene aus dem Tierleben handelt, kann der gestreckte Hirschleib als Phallussymbol und der heiße Atemhauch als Ejakulat interpretiert werden

Was den "röhrende Hirsch" betrifft, so könnte man dergleichen "Tiefenpsychologisch" möglicherweise sogar als Pornographie deuten.




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