Ein sehr kraftvoller Auftakt, wie ich finde. Insbesondere das Zitat von Hegel und seine Erläuterung haben mir sehr gut gefallen. Der Aufsatz hat 30 Seiten und ist sehr gut zu lesen. Welchen Platz es im Werk Hans einnimmt, kann ich schwerlich sagen, weil ich es nicht kenne. Dennoch habe ich das Gefühl, dass eine gemeinsame Lektüre lohnen könnte.Die Zeit der Stille
In der Wissenschaft der Logik‹ schreibt Hegel: »Alles Vernünftige ist ein Schluss.« Für Hegel ist der Schluss keine formallogische Kategorie. Ein Schluss ergibt sich, wenn der Anfang und das Ende eines Prozesses einen sinnvollen Zusammenhang, eine sinnvolle Einheit bilden, wenn sie ineinander greifen. So ist die Narration ein Schluss. Aufgrund ihres Schlusses bringt sie einen Sinn hervor. Auch Rituale und Zeremonien sind Schlussformen. So haben sie ihre Eigenzeit, ihren eigenen Rhythmus und Takt. Sie stellen narrative Prozesse dar, die sich der Beschleunigung entziehen. Es wäre ein Sakrileg, eine Opferhandlung zu beschleunigen. Endlos beschleunigen lässt sich dagegen der Prozessor, weil er nicht narrativ, sondern bloß additiv arbeitet. Narrationen lassen sich nicht beliebig beschleunigen. Die Beschleunigung zerstört ihre eigenwüchsige Sinn- und Zeitstruktur. Beunruhigend an der heutigen Zeiterfahrung ist nicht die Beschleunigung als solche, sondern der fehlende Schluss, d.h. der fehlende Takt und Rhythmus der Dinge.
Byung-Chul Han: Bitte Augen schließen Auf der Suche nach einer anderen Zeit
- Jörn Budesheim
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Ich klaue mir mal eine Aussage von Dir, weil es mir gerade beim lesen dieses Textes so geht:
Nur kurz, weil ich gerade arbeite: Ich lese gerne Texte, bei denen ich das Gefühl habe, sie seien "für mich" geschrieben, bzw. das Gefühl habe, die Stimme des Autoren zu hören. Wenn mich die Lektüre quält, dann verliere ich schnell die Lust.
Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)
Wer, wie, was?
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1880 entsteht Hugo Riemanns Phrasierungslehre. Darin entwickelt Riemann den sogenannten Phrasierungsbogen. Das ist der sanft geschwungene Bogen - zum Beispiel über vier Takte -, der die Einheit eines musikalischen Sinnzusammenhangs anzeigt. Er zeigt Anfang und Ende einer musikalischen Phrase an. (In "Phrase" steckt das griechische phrasis, "Redeweise", "Ausdruck".) Die "Phrase" ist also vergleichbar mit dem Satz, der ja auch eine Einheit mit Anfang und Ende ist und ein Sinnzusammenhang.
1880 erscheint als Nachtrag zu Menschliches - Allzumenschliches Nietzsches Der Wanderer und sein Schatten. Aus dieser Sammlung zitiert Byung-Chul Han zu Beginn eine Stelle aus dem Aphorismus Am Mittag (308):
"Am Mittag. - Wem ein tätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die monden- und jahrelang dauern kann. Es wird still um ihn. Die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, - es ist ein Tod mit wachen Augen."
(An dieser Stelle endet das Nietzsche-Zitat bei Byung-Chul Han. Der Aphorismus geht bei Nietzsche dann so weiter:)
"Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. - Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das L e b e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war. - Den eigentlich tätigen Menschen erscheinen die länger werdenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm."
Der Aphorismus von Nietzsche hat diesen Phrasierungsbogen:
"tätiger, stürmereicher Morgen" - "Mittag des Lebens ... Ruhesucht" - "der Abend ... stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war"
"Ein Schluß ergibt sich, wenn der Anfang und das Ende eines Prozesses einen sinnvollen Zusammenhang, eine sinnvolle Einheit bilden, wenn sie ineinander greifen." (Byung-Chul Han) Man könnte hinzufügen: wenn sie von einem Phrasierungsbogen zusammengehalten werden. Im Nietzsche-Zitat ist es die ineinandergreifende Trias von Morgen-Mittag-Abend, welche mit dem Phrasierungsbogen der Zeit eineinander verwoben sind, ohne scharfe Trennkanten, so wie ja auch in der Musik die Töne einer Phrase ineinander übergehen. Der Bogen zeigt die Phrasierung, d.h. den "Schluß" in seinen drei Schritten an. "Die Narration ist ein Schluß." Bei Nietzsche ist es die Lebensnarration, die Lebensgeschichte, die mit dem "Morgen des Lebens" beginnt, im "Mittag des Lebens" - da, wo es kaum Schatten gibt (!) - ihren Höhepunkt hat und mit "Abend" ausklingt. (Im "Ausklingen" liegt die Analogie zur Musik.) Das Leben hat eine ihm eigene Musikalität. Nicht zufällig spricht Byung-Chul Han von "Takt" und vom "Rhythmus der Dinge".
Es ist dieses Moment des Abgeschlossenseins, auf das Byung-Chul Han nach meinem Eindruck hinauswill. Dabei kann das Zeitmomentum auch ein anderes Format als das Leben in seiner Gänze haben. Es ist die sinnstiftende Einheit einer Bewegung, vergleichbar mit der durch einen Phrasierungsbogen zusammengehaltenen Phrase in der Musik. Etwas beginnt, dauert, kommt zu seinem Ende. Das kann sich auch in einem kurzen Moment ereignen: "Auch der beglückende, erfüllende Augenblick ist ein Schluß, denn er ist in sich abgeschlossen. Er hat gleichsam nichts um sich herum. Er ruht in sich und genügt sich selbst." (Byung-Chul Han) Das ist Nietzsches "schweres, schweres Glück".
Vielleicht ist damit etwas deutlicher geworden, was es bedeutet wenn Byung-Chul Han schreibt: "Für Hegel ist der Schluß keine formallogische Kategorie." Sinn ist etwas, das auf Phrasierung, auf Einteilung, auf Taktung, auf Rhythmus, auf Atmung, auf Abrundung, auf Struktur ... angewiesen ist. Auch eine Erzählung hat diese Elemente. "Narrative Prozesse" erfolgen nach eben jener Hebung/Innehalten/Senkung-Phrasierung wie es sie auch in der Musik gibt. Das Tempo, die Beschleunigung ist da zwar auch ein Aspekt, aber zunächst und vor allem geht es um das Ineinander, um das Verwobensein, um die "eigenwüchsige Sinn- und Zeitstruktur". Wir erfahren vieles heute nicht mehr als das "Vernünftige", weil der Zeitform dieses Erfahrens die Form des Schlußes fehlt. Gleichsam einer Herzrhythmus-Störung leiden wir an einer Sinnrhythmus-Störung. Der Schluß ist der Schrittmacher, der das "schwere, schwere Glück" Nietzsches ermöglicht. Denn die "Sinn- und Zeitstruktur", die Byung-Chul Han anspricht ist ja eine "eigenwüchsige", sozusagen naturbelassen, gewachsen. Wir sind dem rhythmischen, gleichförmigen Wellenschlag des Lebens abhanden gekommen. Es fehlt der Phrasierungsbogen. -
(Ich finde den Text durchaus inspirierend, vielleicht weil er mir nicht vorliegt. Mein "schweres, schweres Glück" hat mir nämlich bislang vom Kauf von e-books abgeraten. Sollte mein Beitrag aus diesem oder anderem Grund hier deplaziert sein, dann bitte ich um Verschiebung nach "en passant" oder anderswo.)
1880 erscheint als Nachtrag zu Menschliches - Allzumenschliches Nietzsches Der Wanderer und sein Schatten. Aus dieser Sammlung zitiert Byung-Chul Han zu Beginn eine Stelle aus dem Aphorismus Am Mittag (308):
"Am Mittag. - Wem ein tätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die monden- und jahrelang dauern kann. Es wird still um ihn. Die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte - so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, - es ist ein Tod mit wachen Augen."
(An dieser Stelle endet das Nietzsche-Zitat bei Byung-Chul Han. Der Aphorismus geht bei Nietzsche dann so weiter:)
"Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. - Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das L e b e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war. - Den eigentlich tätigen Menschen erscheinen die länger werdenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm."
Der Aphorismus von Nietzsche hat diesen Phrasierungsbogen:
"tätiger, stürmereicher Morgen" - "Mittag des Lebens ... Ruhesucht" - "der Abend ... stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war"
"Ein Schluß ergibt sich, wenn der Anfang und das Ende eines Prozesses einen sinnvollen Zusammenhang, eine sinnvolle Einheit bilden, wenn sie ineinander greifen." (Byung-Chul Han) Man könnte hinzufügen: wenn sie von einem Phrasierungsbogen zusammengehalten werden. Im Nietzsche-Zitat ist es die ineinandergreifende Trias von Morgen-Mittag-Abend, welche mit dem Phrasierungsbogen der Zeit eineinander verwoben sind, ohne scharfe Trennkanten, so wie ja auch in der Musik die Töne einer Phrase ineinander übergehen. Der Bogen zeigt die Phrasierung, d.h. den "Schluß" in seinen drei Schritten an. "Die Narration ist ein Schluß." Bei Nietzsche ist es die Lebensnarration, die Lebensgeschichte, die mit dem "Morgen des Lebens" beginnt, im "Mittag des Lebens" - da, wo es kaum Schatten gibt (!) - ihren Höhepunkt hat und mit "Abend" ausklingt. (Im "Ausklingen" liegt die Analogie zur Musik.) Das Leben hat eine ihm eigene Musikalität. Nicht zufällig spricht Byung-Chul Han von "Takt" und vom "Rhythmus der Dinge".
Es ist dieses Moment des Abgeschlossenseins, auf das Byung-Chul Han nach meinem Eindruck hinauswill. Dabei kann das Zeitmomentum auch ein anderes Format als das Leben in seiner Gänze haben. Es ist die sinnstiftende Einheit einer Bewegung, vergleichbar mit der durch einen Phrasierungsbogen zusammengehaltenen Phrase in der Musik. Etwas beginnt, dauert, kommt zu seinem Ende. Das kann sich auch in einem kurzen Moment ereignen: "Auch der beglückende, erfüllende Augenblick ist ein Schluß, denn er ist in sich abgeschlossen. Er hat gleichsam nichts um sich herum. Er ruht in sich und genügt sich selbst." (Byung-Chul Han) Das ist Nietzsches "schweres, schweres Glück".
Vielleicht ist damit etwas deutlicher geworden, was es bedeutet wenn Byung-Chul Han schreibt: "Für Hegel ist der Schluß keine formallogische Kategorie." Sinn ist etwas, das auf Phrasierung, auf Einteilung, auf Taktung, auf Rhythmus, auf Atmung, auf Abrundung, auf Struktur ... angewiesen ist. Auch eine Erzählung hat diese Elemente. "Narrative Prozesse" erfolgen nach eben jener Hebung/Innehalten/Senkung-Phrasierung wie es sie auch in der Musik gibt. Das Tempo, die Beschleunigung ist da zwar auch ein Aspekt, aber zunächst und vor allem geht es um das Ineinander, um das Verwobensein, um die "eigenwüchsige Sinn- und Zeitstruktur". Wir erfahren vieles heute nicht mehr als das "Vernünftige", weil der Zeitform dieses Erfahrens die Form des Schlußes fehlt. Gleichsam einer Herzrhythmus-Störung leiden wir an einer Sinnrhythmus-Störung. Der Schluß ist der Schrittmacher, der das "schwere, schwere Glück" Nietzsches ermöglicht. Denn die "Sinn- und Zeitstruktur", die Byung-Chul Han anspricht ist ja eine "eigenwüchsige", sozusagen naturbelassen, gewachsen. Wir sind dem rhythmischen, gleichförmigen Wellenschlag des Lebens abhanden gekommen. Es fehlt der Phrasierungsbogen. -
(Ich finde den Text durchaus inspirierend, vielleicht weil er mir nicht vorliegt. Mein "schweres, schweres Glück" hat mir nämlich bislang vom Kauf von e-books abgeraten. Sollte mein Beitrag aus diesem oder anderem Grund hier deplaziert sein, dann bitte ich um Verschiebung nach "en passant" oder anderswo.)
- Jörn Budesheim
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Vielleicht noch ein weiteres Beispiel für einen Schluss:
Byung-Chul Han hat geschrieben : Nicht nur die narrative Zeit ist ein Schluss. Auch der beglückende, erfüllende Augenblick ist ein Schluss, denn er ist in sich abgeschlossen. Er hat gleichsam nichts um sich herum. Er ruht in sich und genügt sich selbst. So ist er ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Erinnerung und Erwartung, d.h. ohne »Sorge« im Heideggerschen Sinne. Beglückend ist diese Abwesenheit der Sorge. Aber man lebt notwendig länger als einen Augenblick lang. So fällt man unweigerlich aus ihm heraus. Im Nachhinein erinnert man sich an ihn als einen Moment. Daher unterscheidet er sich von de
- Jörn Budesheim
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Vielleicht ist es einfach (noch) nicht der richtige Moment :)
Ich habe mal in den Memoiren eines eher unbekannten Philosophen gelesen, ich habe seinen Namen sogar vergessen, da ging es auch um diese Lese-Erfahrungen. Sein Problem war Schopenhauer, der ihn nie ansprach. Doch dann von einem Moment zum anderen - er hatte die Bücher in den Urlaub mitgenommen - änderte sich alles. Er hatte das Gefühl in ein stilles und intensives Zwiegespräch mit Schopenhauer zu treten ...
"Der beglückende, erfüllende Augenblick": Byung-Chul Han greift hier einen Gedanken auf, dessen Wurzeln bis in die platonische Tradition zurückreichen und der später in der Scholastik, aber auch noch bei Husserl in der Formel vom nunc stans, vom "stehenden Jetzt" als Bild für die der Gegenwart (!) innewohnenden Ewigkeit, gefaßt wurde. Nach der platonischen Auffassung der Zeit sind nicht etwa die Horizonte von Vergangenheit und Zukunft ewig, sondern die Ewigkeit liegt in der Gegenwart. Man fühlt sich natürlich an Goethes "Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön!" erinnert oder auch an Prousts berühmte Madeleine-Episode in der Suche nach der verlorenen Zeit. (Die Reminiszenz an Proust liegt übrigens schon im Titel Auf der Suche nach einer anderen Zeit.)
"Im Nachhinein erinnert man sich an ihn als einen Moment": Dies wiederum hat starke Bezüge zu Bergson, der in Materie und Gedächtnis die Auslöschung der "attention a la vie" als Bedingung für die (diachronische) Erinnerung setzt, d.h. zum Beispiel, daß dem sterbenden Menschen in einem letzten oder vorletzten Augenblick eine Totalerinnerung zuteil wird, daß er durch die Zeit hindurch, dia chronos, einen erfüllten Moment hat, der ihm sein Leben als Totalität vor Augen führt. Solche Momente sind nach Bergson aber auch in "träumerischer Haltung" möglich; was sie aber als ihre Bedingung immer anfordern ist das "Nachhinein". Sie setzen also Erinnerung voraus. Damit befindet man sich natürlich im Proust´schen Universum und an der Schwelle zur memoire involontaire, zur unwillkürlichen Erinnerung. -
"So ist er ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Erinnerung und Erwartung": Damit ist dann allerdings die Verbindung zu Proust gekappt und es regiert wieder das oben angedeutete neuplatonische Verständnis einer Gegenwart, die mit ihren Zeithorizonten keine Verbindung hat. - Phänomenologische Befunde der retentionalen und protentionalen Abschattung (vgl. Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des innern Zeitbewußtseins) von Erlebnissen lassen eine gewisse Skepsis gegenüber einem Augenblick "ohne Erinnerung und Erwartung" entstehen. Vermutlich hat Byung-Chul Han hier das "Verharren im Einen" (menein en eni, ein Topos des Neuplatonismus, der sich bei Plotin, Proklos, abgewandelt im Timaios-Kommentar von Iamblichos) im Blick. -
Einer Äquivokation verdankt sich nach meinem Eindruck die "Abwesenheit der Sorge" unter Hinweis auf Heidegger. In der Daseinsanalytik ist ja die Bestimmung des Daseins ontologisch (!) als Sorge gefaßt. Heideggers Verweis auf die cura-Fabel des Hyginus ist dazu noch eine Tieferlegung dieser ontologischen Struktur in den Mythos (vgl. Hans Blumenberg; Die Sorge geht über den Fluß). - Den "beglückenden, erfüllten Augenblick" als "Abwesenheit der [Heidegger´schen] Sorge" auszudeuten, bedeutet, die Äquivokation des Sorge-Begriffs Heideggers mit unserem Alltagsverständnis von Sorge zu nutzen. Blumenberg legt Heidegger schelmisch letzte Worte in den Mund: "Kein Grund mehr zur Sorge".
"Im Nachhinein erinnert man sich an ihn als einen Moment": Dies wiederum hat starke Bezüge zu Bergson, der in Materie und Gedächtnis die Auslöschung der "attention a la vie" als Bedingung für die (diachronische) Erinnerung setzt, d.h. zum Beispiel, daß dem sterbenden Menschen in einem letzten oder vorletzten Augenblick eine Totalerinnerung zuteil wird, daß er durch die Zeit hindurch, dia chronos, einen erfüllten Moment hat, der ihm sein Leben als Totalität vor Augen führt. Solche Momente sind nach Bergson aber auch in "träumerischer Haltung" möglich; was sie aber als ihre Bedingung immer anfordern ist das "Nachhinein". Sie setzen also Erinnerung voraus. Damit befindet man sich natürlich im Proust´schen Universum und an der Schwelle zur memoire involontaire, zur unwillkürlichen Erinnerung. -
"So ist er ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne Erinnerung und Erwartung": Damit ist dann allerdings die Verbindung zu Proust gekappt und es regiert wieder das oben angedeutete neuplatonische Verständnis einer Gegenwart, die mit ihren Zeithorizonten keine Verbindung hat. - Phänomenologische Befunde der retentionalen und protentionalen Abschattung (vgl. Husserls Vorlesungen zur Phänomenologie des innern Zeitbewußtseins) von Erlebnissen lassen eine gewisse Skepsis gegenüber einem Augenblick "ohne Erinnerung und Erwartung" entstehen. Vermutlich hat Byung-Chul Han hier das "Verharren im Einen" (menein en eni, ein Topos des Neuplatonismus, der sich bei Plotin, Proklos, abgewandelt im Timaios-Kommentar von Iamblichos) im Blick. -
Einer Äquivokation verdankt sich nach meinem Eindruck die "Abwesenheit der Sorge" unter Hinweis auf Heidegger. In der Daseinsanalytik ist ja die Bestimmung des Daseins ontologisch (!) als Sorge gefaßt. Heideggers Verweis auf die cura-Fabel des Hyginus ist dazu noch eine Tieferlegung dieser ontologischen Struktur in den Mythos (vgl. Hans Blumenberg; Die Sorge geht über den Fluß). - Den "beglückenden, erfüllten Augenblick" als "Abwesenheit der [Heidegger´schen] Sorge" auszudeuten, bedeutet, die Äquivokation des Sorge-Begriffs Heideggers mit unserem Alltagsverständnis von Sorge zu nutzen. Blumenberg legt Heidegger schelmisch letzte Worte in den Mund: "Kein Grund mehr zur Sorge".
"Die scheinbar exklusive Ich-Perspektive ist immer schon eine entlehnte", schreibt Alethos soeben in einem Nachbarthread. Diese Entlehnung ist eine Denkfigur, die sich als ein Modus der Abkünftigkeit auch bei Nietzsches Wanderer und seinem Schatten findet, den Byung-Chul Han ja illustrierend anführt oder auch in der insularen Vorstellung des Augenblicks, dessen (sinn-)erfülltes Moment ja geradezu davon lebt, daß er in einem Meer von herunter gedimmten Augenblicken sich ereignet.