Logik, Ich und Identität

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
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Enno
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Di 1. Mai 2018, 21:33

Hi Jörn,

bezugnehmend auf die Diskussion zu Thomas Nagel's "Objektivem Selbst", stelle ich hier nochmal meine Sichtweise zu den Ich-Aussagen in einer etwas anderen Form dar.

Wahrheit oder nicht? - Der sprechende Raum

Es gibt einen sprechenden Raum. Er spricht nicht wirklich. Er schiebt kleine Zettel unter seiner Tür hindurch. Die Menschenmenge steht ungeduldig vor der Tür und wartet auf den ersten Zettel. Da erscheint er auch schon. Auf dem Zettel ist zu lesen: „Alle sprechenden Räume lügen.“ Wie kann das sein? Wenn das eine Lüge wäre, dann müsste der sprechende Raum die Wahrheit gesagt haben, aber das würde bedeuten, dass er gelogen hätte. Dieses Rätsel sollte die Menschheit noch für sehr lange Zeit beschäftigen.

Da erscheint ein zweiter Zettel. Darauf steht: „Sprechende Räume sagen immer die Wahrheit.“ Das gefällt den Menschen schon besser. Doch war vielleicht gerade diese Aussage eine Lüge? Wie könnte man sicher gehen, dass er wirklich die Wahrheit gesagt hat? Die Menschen beschließen, den sprechenden Raum zukünftig jedes Mal schwören zu lassen, dass er Wahrheit sagt.

Und der dritte Zettel. Darauf ist zu lesen: „Ich bin der sprechende Raum.“ Die Menschen nicken sich zustimmend zu. Endlich eine Aussage, die definitiv wahr ist. Sie gehen zufrieden nach Hause.

Dann öffnet sich die Tür. Die drei größten Spaßvögel der Stadt treten laut lachend heraus und schreien abwechselnd: „Ich bin der sprechende Raum.“ „Nein, ich bin der sprechende Raum.“ „Nein, nein, ich. Und das ist Wahrheit.“




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Jörn Budesheim
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Do 3. Mai 2018, 05:58

Eine Art chinesisches Zimmer - nur umgekehrt :-) Neben Searle erinnert es mich auch an Derek Parfit. Der vergleicht das Selbst mit einem Club, "der seine Mitglieder im Laufe der Zeit auswechselt, sich ganz auflöst und dann wieder unter demselben Namen, aber in anderer Form neu konstituiert." (J. Holt) Wer, wie oder was das Ich ist, falls es dergleichen wirklich gibt, ist in der Philosophie natürlich notorisch umstritten. Ist es sozial konstruiert? Gibt es eins oder viele? Sind wir unser Gehirn? Schöpft sich das Ich selbst? etc. p.p. Darüber herrscht keine Einigkeit.

Ich möchte dazu (ein bis) zwei kleinere "Einwände" machen, bzw. Fragen stellen. Du hast an anderer Stelle von "logischer Identität" gesprochen. Mir war da nicht ganz klar, was du damit gemeint hast. Ich vermute, dass du den Ausdruck nutzt, um diese Frage von der Frage nach der "personalen Identität" zu unterscheiden? (Dazu gibt es übrigens einen kurzen Thread im Forum: https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... 263#p13263)

Der andere Punkt ist folgender: Meines Erachtens muss die Frage, was das "Ich" denn ist, nicht "abschließend" geklärt werden, um das Problem mit dem Nagel kämpft zu erörtern. Thomas Nagel meint, wie ich finde zurecht, dass mir die wahre Natur des Ich verborgen sein könnte, aber dennoch "könnte ich den Ausdruck ‹Ich› verstehen und auf mich anwenden, ohne zu wissen, was ich in Wahrheit bin." (Thomas Nagel) Ich meine daher: weder ist Nagels Problem vom Tisch, wenn wir annehmen, dass der "sprechende Raum" mehrere Ich's enthält, noch hindert uns das daran, Nagels Gedanken in der Ich-Form nachzuvollziehen. Denn, dass wir überhaupt gehaltvolle Sätze in dieser Form äußern, das ist ja von deinem Einwand (sofern ich ihn richtig deute) nicht betroffen.




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Jörn Budesheim
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Do 3. Mai 2018, 06:27

Hat denn die ungeduldige Menschenmenge eigentlich angemessen (oder erwartungsgemäß) auf den sprechenden Raum reagiert? Schließlich haben sie sich in die Rolle der Zuhörer gefügt und sind nie in die Rolle des Sprechers geschlüpft. Das würde man doch erwarten, um herauszufinden, ob der sprechende Raum wirklich spricht. Sie haben ihn nicht "turinggetestet" :-)

Manche sprechende Räume sollen den Test ja mittlerweile angeblich bestehen. Hier gibt es dazu einen kurzen Faden > https://www.dialogos-philosophie.de/vie ... lit=Turing

Ich frage aus folgendem Grund: Ist denn der Versuchsaufbau (des Gedankenexperiments) geeignet, um für uns sprechend zu sein? Dass das ganze auch eine Persiflage und humorvoll angelegt ist, schiebe ich einfach Mal beiseite :-) Wenn wir am Computer sitzen und Texte in einem Forum lesen, dann ist die Situation ja oft so wie in deinem Text beschrieben: Man schiebt uns kleine Zettel zu, die wir deuten, der Sprecher bleibt dabei unsichtbar.

Könnten wir je sprechen, wenn DAS die Grundsituation wäre?

Ist nicht die grundlegende Sprechsituation, ohne die wir nie Eingang in die Sprache finden würden, ganz anders? Haben wir dabei nicht zwei Sprecher/Zuhörer, die körperlich präsent sind, welche sich über etwas Drittes austauschen, das ebenfalls beiden präsent ist? Das heißt: Wir sind beim Sprechen nicht grundsätzlich mit Botschaften aus dem Inneren eines uns unbekannten Raums konfrontiert. Sondern wir sind (in den Situationen, die fürs Sprechen konstitutiv sind) mit körperlichen, mimischen, gestischen Unseresgleichen zusammen und reden über uns umgehende Dinge, die uns gleichermaßen betreffen können.

Die Frage ist dann, was uns solche Sonder- oder Extremsituationen überhaupt sagen könn(t)en?




Enno
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Do 3. Mai 2018, 17:01

Klar, es geht letztendlich um das Ich.

Nur etwas muss man klar unterscheiden. Der Satz "Ich bin TN." dient einzig und allein der Unterscheidung des TN-Individuums von anderen Individuen. Individuum ist nicht das Ich und Individuum bedeutet auch nicht logische Identität.
Wenn man also die Identität eines Individuums feststellt, dann bedeutet das nur die Unterscheidung von anderen Individuen. Logische Identität ist ein ganz anderes Thema.
Wenn man das nicht sauber trennt, können merkwürdige Dinge passieren, wie in obigem Text, wo die Menschenmenge Raum-Ding, Raum-Ich, Raum-Subjekt, Raum-Entität einfach voraussetzt. Warum tun sie das? Weil jeder einzelne von ihnen sich selbst für so etwas hält.




Enno
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Do 3. Mai 2018, 19:59

Das ist auch keine Frage von Ich oder Nicht-Ich. Es geht vielmehr um die Frage des Entstehens von Ich/Nicht-Ich.
Hier bietet sich der Verweis auf "Jacques Derrida im Interview mit Florian Rötzer" an, wo nach dem Entstehen von Rationalität/Irrationalität gefragt wird.




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Jörn Budesheim
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Enno hat geschrieben :
Do 3. Mai 2018, 17:01
Logische Identität ist ein ganz anderes Thema
Aber welches? Vielleicht kann man ja mal die diversen Begriffe von Identität aufdröseln? Man spricht schließlich in so vieler Hinsicht von Identität, das ist durchaus verwirrend :-)
  • In einer gewissen Hinsicht bin ich mit mir selbst identisch, so wie ein Stein und jedes Ding mit sich identisch ist. Das ist in meinen Augen (zumindest auf den ersten Blick) völlig unproblematisch.
  • Aber wenn wir bei Personen von Identität sprechen, dann zielen wir ja auf andere Aspekte ab: Dass Hans Fan des 1. FCK ist, gehört zu seiner Identität. Was heißt das? Vielleicht fürs erste: Es gehört zu seinem Selbstverständnis. Die Frage nach seiner Sexuellen Identität könnte auch hierher gehören.
  • Wenn Philosophen sich streiten, was die Identität einer Person ausmacht und ob es so etwas überhaupt gibt, dann zielen sie meines Erachtens noch mal auf einen anderen Punkt.Vielleicht: Was ist die Einheit der Person über die Zeit hinweg? Der Körper, das Gehirn, seine Erinnerungen, seine sozialer Zusammenhang, ein metaphysischer Ich-Kern, seine Seele ... oder was auch immer.
  • Wenn man sich ausweist, den geht es um die "rechtliche/juristische Identität" (Falls es diesen Begriff gibt.)
  • Die Unterscheidung eines Individuums von einem anderen Individuen dürfte der vorigen Form ähneln, diese gibt es jedoch auch ohne rechtlichen Rahmen, vermutlich auch schon bei vielen Tieren.
  • ...




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Alethos
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Fr 4. Mai 2018, 21:36

Enno hat geschrieben :
Do 3. Mai 2018, 17:01
Klar, es geht letztendlich um das Ich.

Nur etwas muss man klar unterscheiden. Der Satz "Ich bin TN." dient einzig und allein der Unterscheidung des TN-Individuums von anderen Individuen. Individuum ist nicht das Ich und Individuum bedeutet auch nicht logische Identität.
Wenn man also die Identität eines Individuums feststellt, dann bedeutet das nur die Unterscheidung von anderen Individuen.
Aber kann man denn nicht sagen, unter anderem sei identisch, was sich negieren lässt durch seinen Wegfall? Das, was in seinem Sein kongruent ist mit sich selbst, ist identisch, und indem es dieses Identische ist, ist es zugleich alles andere nicht. Aber nicht dadurch, dass es sich von allem anderen unterscheidet, ist es mit sich selbst identisch, denn diese Differenz zu etwas anderem teile ich mir mit vielem. Es ist die Differenz ein Kriterium von Identität, aber mir scheint es nicht konstitutiv zu sein für Identität.

Ich will sagen, dass der Satz: 'Ich bin PD' eine positive Bestimmung trägt, besteht durch den Umstand, dass ich ich bin und nicht dadurch, dass ich nicht der andere bin. Denn dass du, Enno, auch nicht Tommy bist, das haben wir gemeinsam. Dadurch, dass wir beide nicht Tommy sind, haben wir keine Identität gefunden, sondern nur die Negation der Nichtidentität.

Aber identisch ist etwas mit sich selbst, das nicht nur einige Gemeinsamkeiten mit etwas hat, sondern alle. Erst dieses ist identisch.



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Jörn Budesheim
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Sa 5. Mai 2018, 07:00

Alethos hat geschrieben :
Fr 4. Mai 2018, 21:36
Denn dass du, Enno, auch nicht Tommy bist, das haben wir gemeinsam. Dadurch, dass wir beide nicht Tommy sind, haben wir keine Identität gefunden, sondern nur die Negation der Nichtidentität.
Ja, das ergibt eine interessante Asymmetrie. Ihr habt gemein, von ca. 108 Milliarden Menschen verschieden zu sein - mit jeweils nur einer Ausnahme, nämlich der je Andere von euch beiden , also für Alethos Enno und für Enno Alethos :-)




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Jörn Budesheim
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