Das harmlose Ist-Wort

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
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Alethos
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Sa 2. Sep 2017, 11:52

Mir liegt daran, etwas über euer Verständnis des Wortes 'Ist' zu erfahren.
Wie verwendet ihr es, was sagt es euch, wenn ihr es lest, wie stehen die Dinge und ihr 'ist' für euch in Zusammenhang.

Mir ist bewusst, dass wir sehr viele sprachphilosophische Theorien haben und diese dürfen und sollen hier thematisiert werden. Vielleicht ergeben sich Seitenstrassen und Umwege, vielleicht entwickeln sich daraus aucj andere Stränge. Hier einen einzelnen sprachphilosophischen Aspekt zu betonen, liegt mir deshalb fern, weil ich der Fülle an möglichen Verläufen keine begünstigende oder hindernde Richtung geben möchte. Die ganze Diskussion soll sich frei entwickeln können und ganz eigene Früchte tragen. Der sprachphilosophische Komplex wird sich aber gleichzeitig nicht in toto diskutieren lassen, weil er sich doch als zu gross und unhantlich zeigt. Darum dieser etwas liberale Ansatz, auf dass sich verschiedene Ansätze parallel und gleichzeitig entwickeln mögen. Auch soll sich das Denken über Bedeutung, Sprache und Realität nicht allein um das Wort 'Ist' drehen, sondern ganz allgemein auch um Begriffe, Bedeutungen, Modalitäten, Formalitäten und Logik. Ob Konstruktivismus, Semantik oder Bedeutungstheorie, das soll hier in allen Aspekten Eingang finden.

Mein Eingangsbeitrag zum Titel, der als Denkanstoss gelten soll, lautet:

'Das ist kein Satz'. Prädikativ verwendet setzt das Ist etwas mit etwas gleich. 'Das' und 'kein Satz' sind aber unbestreitbar formal- und bedeutungstechnisch nicht gleiche Dinge. Sind Wörter / Begriffe Dinge und inwiefern korrepondieren sie mit lebenswirklichen Gegenständen? Welche Rolle spielt dabei das 'Ist' und welche Implikationen ergeben sich für die Sprachverwendung und das Sprachverstehen? Wie defizitär ist Sprache oder ist Sprache überhaupt nicht defizitär?



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Jörn Budesheim
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Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 11:52
'Das ist kein Satz'
Ich will mal ein paar weitere Sätze mit "ist" bringen, in denen es wohl je verschieden verwendet wird, ob die folgende Aufzählung vollständig ist oder Doppler enthält, darüber kann man wohl streiten. Ob dieser Ansatz in deinem Sinne ist, weiß ich natürlich nicht ...

Isis ist! (Existenz)
Der Ball ist rund. (Prädikation)
Der Abendstern ist der Morgenstern. (Identität)
Wale sind Säugetiere. (Klassifikation)
Das ist wahr! (Wahrheitsbekräftigung)
H²O ist Wasser. (Definition)
Das ist Hans. (?)




Hermeneuticus
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Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 11:52
Mir liegt daran, etwas über euer Verständnis des Wortes 'Ist' zu erfahren.
Wie verwendet ihr es, was sagt es euch, wenn ihr es lest, wie stehen die Dinge und ihr 'ist' für euch in Zusammenhang.
Ich persönlich habe kein ausgeprägtes Verhältnis zu dem Wörtchen als solchem. Es spricht auch nicht zu mir. :-) Aber es werden heute üblicher Weise drei verschiedene Bedeutungen bzw. Bedeutungsfacetten des Verbs "sein" unterschieden. (EDIT: Es sind noch mehre als drei; siehe Jörn im vorigen Beitrag!) :-)

So kann "sein" so viel bedeuten wie "existieren". Das ist aber nicht unproblematisch und unkontrovers. Denn wer sagt schon solche Sätze wie "Gott ist" oder "Ist ein Gott?" In der modernen Logik versteht man "existieren" nicht als ein sinnvolles Prädikat. Mithilfe von Prädikaten werden Gegenstände klassifiziert, formal: x gehört zur Klasse F. Das ist solange aussagekräftig, als es auch Gegenstände gibt, die nicht zu dieser Klasse gehören. Wenn aber F die Klasse alles Existierenden ("Seienden") ist, lässt sich dazu als Gegenstück nur noch die Klasse alles Nicht-Existierenden bilden. Und das ist eine paradoxe, sinnlose Klasse. Denn sie besteht aus "Gegenständen", die gar keine sind, von denen sich also auch nichts aussagen lässt.
Darum hat man in der modernen Logik die "Existenz" gewissermaßen ausgeklammert. Sie wird durch die beiden Quantoren abgedeckt: "für mindestens ein x" bzw. "für alle x", die vor die Aussage gestellt werden:

Für mindestens ein x: Fx
Für alle x: Fx

Wenn nun die Aussage Fx für mindestens ein x wahr ist, so "gibt es" dieses x auch. Die "Ontologen" unterschiedlicher Couleur geben sich damit natürlich nicht zufrieden... :-)

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Nun noch zu den beiden anderen Bedeutungsfacetten von "sein": Da wäre einmal die kopulative, verbindende Funktion. Dieser Aspekt von "ist" ist rein formal, denn es werden durch das Wort nur ein Gegenstand und ein Prädikat miteinander verbunden:
x <---> F
In der Formalisierung lässt man das einfach weg und schreibt die Symbole für das Prädikat F und für den Gegenstand x nebeneinander:
Fx

Daneben lässt sich aber noch der "veritative" Aspekt des "ist" unterscheiden. Denn wenn wir einem Gegenstand ein Prädikat zu- oder absprechen, erheben wir damit immer den Anspruch auf Wahrheit. Wir behaupten nämlich, dass dieses Prädikat dem Gegenstand wahrhaft zukommt (bzw. nicht zukommt).




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Herr K.
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So 3. Sep 2017, 00:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 19:58
Ich will mal ein paar weitere Sätze mit "ist" bringen, in denen es wohl je verschieden verwendet wird, ob die folgende Aufzählung vollständig ist oder Doppler enthält, darüber kann man wohl streiten. Ob dieser Ansatz in deinem Sinne ist, weiß ich natürlich nicht ...

Isis ist! (Existenz)
Der Ball ist rund. (Prädikation)
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Guter Ansatz, die unterschiedlichen Bedeutungen von "ist " (bzw. sein) herauszuarbeiten, finde ich. Ich würde meinen, dass wir es mit 3 unterschiedlichen Bedeutungen zu tun haben und zwar den ersten 3 von Dir genannten. (Die 2 nennt man wohl auch "Kopula".) Die 4 würde ich nun zur 2 hinzurechnen und die 5 und 6 zur 3.

Im Deutschen ist die Aussage 1 eher ungebräuchlich, man würde statt dessen wohl meist sagen: "es gibt Isis!". Vielleicht interessant in dem Zusammenhang: in der englischen Sprache gibt es mW kein Äquivalent zu "geben" (im Sinne von "existieren"), die Übersetzung von "geben" in diesem Sinne wäre "is". Z.B. ist die Übersetzung des Satzes "es gibt hier kein Bier" ins Englische diese: "there is no beer here.".




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Herr K.
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So 3. Sep 2017, 02:03

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 20:40
Daneben lässt sich aber noch der "veritative" Aspekt des "ist" unterscheiden. Denn wenn wir einem Gegenstand ein Prädikat zu- oder absprechen, erheben wir damit immer den Anspruch auf Wahrheit. Wir behaupten nämlich, dass dieses Prädikat dem Gegenstand wahrhaft zukommt (bzw. nicht zukommt).
Aber das ist nun kein besonderer Aspekt von "ist", sondern es gilt doch für so gut wie alle Aussagen, (Ausnahme davon wäre z.B. eine ironische Aussage), dass man damit etwas Wahres behauptet. Oder?




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Alethos
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So 3. Sep 2017, 09:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 19:58
Alethos hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 11:52
'Das ist kein Satz'
Ich will mal ein paar weitere Sätze mit "ist" bringen, in denen es wohl je verschieden verwendet wird, ob die folgende Aufzählung vollständig ist oder Doppler enthält, darüber kann man wohl streiten. Ob dieser Ansatz in deinem Sinne ist, weiß ich natürlich nicht ...

Isis ist! (Existenz)
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Vielleicht kurz zur Frage, ob diese Auflistung in meinem Sinn ist. Eigentlich verfolge ich keine bestimmte Absicht als nur die gemeinsame Beschäftigung mit Sprache. Der Ansatz liegt in einer intuitiven, vielleicht in einer reflektierenden Beschäftigung mit Sprache, so dass aus dieser Beschäftigung und im Austausch über sie für uns klarer wird, wie wir Sprache 1. verwenden, 2. wie Sprache und Bedeutung zusammenhängen und 3. wie Sprache und Realität miteinander korrelieren.

Ausgangspunkt für diesen Thread bilden verschiedene Irritationen im Umgang mit Sprache und die oftmals gemachte Feststellung, dass ein Satz resp. eine Aussage nicht verstanden wird. Wäre Sprache eindeutig, so gäbe es kein Missverstehen, wäre Sprache aber ein Abbild der Realität, die wir zur Eindeutigkeit eines Sachverhalts und quasi zur Verifikation heranziehen, so wäre sie eindeutig. Dass wir missverstehen, das zeigt, dass Sprache und Sprachverwendung eben nicht eine empirische Korrespondierung hat, wenigstens keine eindeutige. Und darin vermute ich das Defizitäre in Sprache, das mehr in unserer unpräzisen Verwendung liegt als in der Sprache selbst. Aber auch wenn wir die Sprache zur Gänze präzise auf einen Sachverhalt hin anwenden könnten, bliebe sie vermutlich eine Mangelerscheinung. Denn unsere Sprache zeigt sich nicht in der Art spezialisiert oder präzisiert, dass wir für jeden Sachverhalt das passende Vokabular zur Verfügung hätten. Das wird beim Ist-Wort und unserer polyvalenten Verwendung ganz offenbar.



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So 3. Sep 2017, 09:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 19:58

Isis ist! (Existenz)
Der Ball ist rund. (Prädikation)
Der Abendstern ist der Morgenstern. (Identität)
Wale sind Säugetiere. (Klassifikation)
Das ist wahr! (Wahrheitsbekräftigung)
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Bei dieser hilfreichen Auflistung zeigt sich diese mehrschichtige Verwendung von 'Ist'. In jedem dieser Fälle bezieht das 'Ist' seine Aussagekraft von Sein, was ja nicht erstaunt, da doch 'Ist' eine Flexion des Grundverbs Sein ist. 'Sein' als Verb aber wiederum bezieht sich auf das Sein eines Gegenstandes, also der substanziellen Tätigkeit zu existieren. Sein heisst existieren.

Eine erste Irritation setzt bei mir dort ein, wo wir den substanziellen Gebrauch von Ist und den akzidentiellen unterscheiden. Diese hat bereits Aristoteles vorgenommen und für Substanz das Zugrundeliegende angenommen. 'Isis ist' bedeutet deshalb 'Isis existiert', weil Isis die dem Eigennamen zugrundeliegende Erscheinung darstellt. Zieht man von Isis Isis ab, geht es unter.
Das sei aber bei den Prädikaten 'Isis ist böse' nicht so, weil das Bösesein akzidentiell, ja beinahe zufällig sei und nicht zum Erhalt der Existenz beiträgt.

Grundsätzlich lässt sich gegen diese Unterscheidung wenig einwenden, aber ob wir hier nicht eine bessere Seinserfassung hinbekommen, eine präzisere und eindeutigere?

In jedem dieser obengenannten Beispiele der Liste liesse sich 'Ist' durch 'Vorkommen' ersetzen, dann fällt diese Unterscheidung von Substanz und Akzidens weg. 'Isis kommt vor' und 'Wale kommen als Säugetiere vor' macht dies deutlich. 'Der Ball kommt rund vor' und 'Das kommt als wahr vor' sind zugegeben umständliche, eher gewöhnungsbedürftige Konstrukte, aber sie sagen doch etwas über die Tatsache aus, dass Substanz und Akzidens nicht einfach trennbar sind.

Die Existenz der Rose in 'Die Rose ist rot' zeigt sich für mich nicht nur am Substantiv 'Rose' sondern an ihrem genauen Sosein in diesem Moment, in dem wir sie beschreiben. Das Rotsein existiert an der Rose ja nicht weniger als die Rose selbst. Es ist ein nicht minderes substanzielles Existenzmerkmal an der Rose wie die Rose selbst, denn wenn das Rote an der Rose untergeht, geht auch die Rose unter, die wir da besprochen haben.

Wie kommt also die Subtanz zur ihrer Existenz, wenn nicht immer schon durch das Zusammengesetzsein seiner Prädikate? Das Stete der Existenz, dass die Rose gestern gewesen ist, heute sei und morgen auch, das ist im Grunde doch auch nichts anderes als eine Aneinandereihung ihrer Ist-Zustände?



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Alethos
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So 3. Sep 2017, 10:08

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 20:40
Nun noch zu den beiden anderen Bedeutungsfacetten von "sein": Da wäre einmal die kopulative, verbindende Funktion. Dieser Aspekt von "ist" ist rein formal, denn es werden durch das Wort nur ein Gegenstand und ein Prädikat miteinander verbunden:
x <---> F
In der Formalisierung lässt man das einfach weg und schreibt die Symbole für das Prädikat F und für den Gegenstand x nebeneinander:
Fx

Daneben lässt sich aber noch der "veritative" Aspekt des "ist" unterscheiden. Denn wenn wir einem Gegenstand ein Prädikat zu- oder absprechen, erheben wir damit immer den Anspruch auf Wahrheit. Wir behaupten nämlich, dass dieses Prädikat dem Gegenstand wahrhaft zukommt (bzw. nicht zukommt).
Diese Formalisierung verstehe ich und entspricht ja auch unserer Sprachpraxis. Ein Gegenstand erhält ein Prädikat durch das 'Ist', das 'Ist' heftet sozusagen ein Prädikat an einen Gegenstand, er kopuliert es sozugen an den Gegenstand :) Aber wie adäquat ist eine solche formallogische Beschreibung in Sprache mit Rückgriff auf die Seinswirklichkeit?

Erstens scheibt das 'Ist' unveränderlich immer dasselbe, ungeachtet der Tatsache, ob man von Bäumen, von Atomen oder von Empfindungen spricht. Das 'Sein' steckt an allem Seienden völlig undifferenziert, es hat keine Modalität und Nuanciertheit. Das ist intuitiv gesehen mangelhaft.

Ich bin auch nicht sicher, ob diese formale Modularität das alles, was der Fall ist, gebührend zum Ausdruck bringen kann. Wenn wir der Substanz eine Eigenschaft prädikativ zusprechen, so behandeln wir die Wirklichkeit in dieser 'Ist'-Verbundenheit von Gegenstand und Eigenschaft wie ein Zusammengesetztes, ein modulares Sein von Gegenständen. Sind aber die Gegenstände und ihr Sosein wirklich als abgeschlossense, aneinandergereihte Entitäten zu verstehen, die man wie Legobausteine aneinandersteckt, um eine Beschreibung zu erhalten? Das Entspannende wird an die Musik gesteckt wie ein Begriff an den nächsten gereiht wird. Ist das wirklich die bestmögliche Seinsbeschreibung, die wir zur Verfügung haben?



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Segler
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Mo 11. Sep 2017, 13:35

Hermeneuticus hat geschrieben :
Sa 2. Sep 2017, 20:40

So kann "sein" so viel bedeuten wie "existieren". Das ist aber nicht unproblematisch und unkontrovers. Denn wer sagt schon solche Sätze wie "Gott ist" oder "Ist ein Gott?" In der modernen Logik versteht man "existieren" nicht als ein sinnvolles Prädikat.
Seit Kant wird dieser Standpunkt allgemein vertreten. Wirklich plausibel ist er aus meiner Sicht nicht. Wer vertritt diesen Standpunkt eigentlich, ohne zu existieren? Weshalb kann ich diese Zeilen schreiben, wenn ich nicht existiere?

Kants Argument ist, dass "Existenz" dem Ding nichts hinzufüge. Dabei setzt Kant allerdings die Existenz des Dings implizit voraus. Nur deshalb fügt das Prädikat "Existenz" nichts hinzu. Meiner Ansicht nach, muss man zwischen zuweisenden und beschreibenden Prädikaten unterscheiden. Existenz wäre dann ein beschreibendes Prädikat, das dem Ding zwar nichts hinzufügt aber eine intrinsische Eigenschaft des Dings beschreibt. Wäre es unmöglich, Existenz zu beschreiben, hätte unsere Sprache eine ausgesprochen auffällige Lücke.






In der Diskussion wurde übrigens ein besonderer Aspekt des Verbs "sein" noch nicht angesprochen. Es kann sowohl als Vollverb als auch als Hilfsverb auftreten.




Hermeneuticus
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Mo 11. Sep 2017, 16:40

Segler hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 13:35
Seit Kant wird dieser Standpunkt allgemein vertreten. Wirklich plausibel ist er aus meiner Sicht nicht. Wer vertritt diesen Standpunkt eigentlich, ohne zu existieren? Weshalb kann ich diese Zeilen schreiben, wenn ich nicht existiere?
Mit der logischen Überlegung, die dazu führt, Existenz nicht als Prädikat, d.h. als sinnvolle Klassifikation zu verstehen, wird doch nicht behauptet, dass die Menge der existenten Dinge leer sei, dass es also nichts gibt. :-)

Kants Argument ist, dass "Existenz" dem Ding nichts hinzufüge. Dabei setzt Kant allerdings die Existenz des Dings implizit voraus.

Richtig. Er interpretiert Dasein (= Existenz) als "absolute Position", was so viel heißt wie "vom Verstand unabhängige Gegebenheit". Es geht also nicht darum, Dasein zu bestreiten, sondern aufzudecken, dass Dasein letztlich logisch nicht greifbar ist. Vom Dasein können wir uns keinen Begriff machen.
Meiner Ansicht nach, muss man zwischen zuweisenden und beschreibenden Prädikaten unterscheiden. Existenz wäre dann ein beschreibendes Prädikat, das dem Ding zwar nichts hinzufügt aber eine intrinsische Eigenschaft des Dings beschreibt. Wäre es unmöglich, Existenz zu beschreiben, hätte unsere Sprache eine ausgesprochen auffällige Lücke.
Diese Lücke kann ich nicht sehen. Denn alles, worüber sich sinnvolle, wahre Aussagen machen lassen, "hat" eo ipso auch schon die "Eigenschaft" zu existieren. "Ding" ist - in der ontologischen Tradition - nichts weiter als die Übersetzung von "ens" bzw. "ousia", die wörtlich bedeuten: "Seiendes" oder "Seiendheit". Was also ein Ding ist, ist auch "seiend". Über "Undinge" (wie eckige Kreise, verheiratete Junggesellen etc.) lässt sich dagegen überhaupt nicht sinnvoll sprechen. Insofern ist es im Grunde nichtssagend, bei einem Gegenstand, über den wir sinnvoll sprechen können, noch hinzuzufügen, dass er "sei".

Man könnte vielleicht auch so sagen: Indem wir Gegenstände bestimmen oder beschreiben, explizieren wir immer zugleich ihre "Seinsweise". Alle Bestimmungen - was für ein Gegenstand X ist, wie X beschaffen ist usw. - "legen" gewissermaßen seine Existenz "aus". Allerdings gibt es viele Bestimmungen oder Beschreibungen, bei denen wir offen lassen müssen, ob sie denn auch wahr sind. Man kann also von der Möglichkeit sinnvoller, kohärenter Beschreibungen nicht auf ihre Wahrheit schließen. Aber wenn die Beschreibungen wahr sind, handeln sie in jedem Fall von Existierendem. D.h. Existenz ist - logisch gesehen - letztlich eine Implikation von Wahrheit.




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Jörn Budesheim
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Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 16:40
...alles, worüber sich sinnvolle, wahre Aussagen machen lassen, "hat" eo ipso auch schon die "Eigenschaft" zu existieren.
"... die drei Hexen in Macbeth hecken einen Plan aus." ist eine sinnvolle und wahre Aussage, also ... :D




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Mo 11. Sep 2017, 17:04

Da die drei Hexen ihre Existenz strikt auf "Macbeth" beschränken, macht sie die Auszeichnung "existieren" kein bisschen wirklicher. Drum kann man sich das "ontologische" Brimborium um die Existenz von Hexen auch schenken. Oder sollen etwa Kinder und Erwachsene, die an Gespenster, Geister, den bösen Blick usw. glauben, in diesem Glauben dadurch bestärkt werden, dass es dicke philosophische Wälzer gibt, in denen diesen Wesen "Existenz" zugesprochen wird? :)




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Jörn Budesheim
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Aber was bedeutet das in Bezug auf dein Zitat?




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Herr K.
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Mo 11. Sep 2017, 17:21

Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 16:40
Denn alles, worüber sich sinnvolle, wahre Aussagen machen lassen, "hat" eo ipso auch schon die "Eigenschaft" zu existieren.
Das ist nun das Pferd von hinten aufgezäumt, finde ich. Es stimmt zwar, dass nach klassischer Logik Aussagen über etwas, das nicht existiert, nicht wahr sind, aber um feststellen zu können, ob die Aussagen wahr sind, muss man feststellen, ob es das etwas gibt. So kann ich z.B. behaupten: "meine Schwester ist blond". Um nun wissen zu können, ob es sich dabei um eine wahre Aussage handelt, musst Du erst mal wissen, ob ich überhaupt eine Schwester habe.




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Herr K. hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 17:21
Hermeneuticus hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 16:40
Denn alles, worüber sich sinnvolle, wahre Aussagen machen lassen, "hat" eo ipso auch schon die "Eigenschaft" zu existieren.
Das ist nun das Pferd von hinten aufgezäumt, finde ich. Es stimmt zwar, dass nach klassischer Logik Aussagen über etwas, das nicht existiert, nicht wahr sind, aber um feststellen zu können, ob die Aussagen wahr sind, muss man feststellen, ob es das etwas gibt. So kann ich z.B. behaupten: "meine Schwester ist blond". Um nun wissen zu können, ob es sich dabei um eine wahre Aussage handelt, musst Du erst mal wissen, ob ich überhaupt eine Schwester habe.
Um jedoch feststellen zu können, ob Du eine Schwester hast, muss ich zuerst wissen, was "Schwester" für ein Gegenstand ist und woran man ihn von anderen Gegenständen unterscheiden kann. Allgemein ausgedrückt: Um feststellen zu können, ob x existiert, braucht man einen Begriff von x. Sonst wüsste man gar nicht, wonach man eigentlich sucht und woran man das Gesuchte erkennt, so man ihm begegnet.

"Ontologisch" gewendet, bedeutet das: "Existenz" ist immer die Existenz eines so und so bestimmten Dings. Und offenbar trägt die Existenz selbst nichts zur Bestimmtheit des Dings bei. Existenz ist also keine "Eigenschaft", durch die ein Ding sich von anderen Dingen unterschiede. Existenz kommt eben platterdings allen Dingen (= allem Seienden) zu.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 11. Sep 2017, 17:09
Aber was bedeutet das in Bezug auf dein Zitat?
In etwa das, was ich Herrn K. geantwortet habe.

Es klingt zunächst einmal provokant und verblüffend, wenn ein Philosoph vom Katheder herab sagt: "Hexen gibt es wirklich." Sobald man sich aber mit ihm ein wenig darüber unterhält, was mit "Hexe" gemeint ist, verflüchtigt sich die Verblüffung, und es kommt heraus, was wir schon vorher wussten: Hexen sind nur Fiktionen, sie existieren ausschließlich in fiktionalen Medien. (Wobei die räumliche Präposition "in" streng genommen falsch ist; zwar sind fiktionale Medien räumliche Gegenstände, nicht aber ihre Inhalte.)

Allerdings existieren Hexen auch "in" Texten wie dem "Hexenhammer" von Henricus Institoris, die beanspruchen, keine Fiktion zu sein. Und da hört das ontologische Geplänkel über die Existenz von Hexen auf, amüsant oder irgendwie sachdienlich zu sein.




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Herr K.
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Di 12. Sep 2017, 01:05

Um feststellen zu können, ob es x gibt, benötigt man einen Begriff von x und Existenz trägt nichts zur Bestimmtheit eines Dinges bei. Vollkommen einverstanden.

Jedoch das:
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 00:04
"Ontologisch" gewendet, bedeutet das: "Existenz" ist immer die Existenz eines so und so bestimmten Dings.
hört sich so an, als ob erst die Bestimmung käme und dann die Existenz, bzw. dass nichts existieren könne, ohne dass es jemand (begrifflich) bestimmt hätte.

Nun kann es ja so nicht gemeint sein, aber eine andere Lesart sehe ich gerade nicht.




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Herr K. hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 01:05
Um feststellen zu können, ob es x gibt, benötigt man einen Begriff von x und Existenz trägt nichts zur Bestimmtheit eines Dinges bei. Vollkommen einverstanden.

Jedoch das:
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 00:04
"Ontologisch" gewendet, bedeutet das: "Existenz" ist immer die Existenz eines so und so bestimmten Dings.
hört sich so an, als ob erst die Bestimmung käme und dann die Existenz, bzw. dass nichts existieren könne, ohne dass es jemand (begrifflich) bestimmt hätte.

Nun kann es ja so nicht gemeint sein, aber eine andere Lesart sehe ich gerade nicht.
Versuch es mal so: Gibt es "Existenz als solche", d.h. Existenz ohne ein so und so beschaffenes Ding? Das scheint mir ziemlich offensichtlich nicht der Fall zu sein. Und der Grund dafür liegt darin, dass "Existenz" ein (begriffliches) Abstraktum ist, während Dinge stets Konkreta sind. "Existenz" lässt sich auch nicht definieren; es lässt sich allenfalls sagen, dass es das Gegenteil von "Nichts" oder von "Nicht-Existenz" sei, und das hilft nicht wirklich weiter.




Segler
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Di 12. Sep 2017, 12:10

Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 08:23
Herr K. hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 01:05
Um feststellen zu können, ob es x gibt, benötigt man einen Begriff von x und Existenz trägt nichts zur Bestimmtheit eines Dinges bei. Vollkommen einverstanden.

Jedoch das:
Hermeneuticus hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 00:04
"Ontologisch" gewendet, bedeutet das: "Existenz" ist immer die Existenz eines so und so bestimmten Dings.
hört sich so an, als ob erst die Bestimmung käme und dann die Existenz, bzw. dass nichts existieren könne, ohne dass es jemand (begrifflich) bestimmt hätte.

Nun kann es ja so nicht gemeint sein, aber eine andere Lesart sehe ich gerade nicht.
Versuch es mal so: Gibt es "Existenz als solche", d.h. Existenz ohne ein so und so beschaffenes Ding? Das scheint mir ziemlich offensichtlich nicht der Fall zu sein. Und der Grund dafür liegt darin, dass "Existenz" ein (begriffliches) Abstraktum ist, während Dinge stets Konkreta sind. "Existenz" lässt sich auch nicht definieren; es lässt sich allenfalls sagen, dass es das Gegenteil von "Nichts" oder von "Nicht-Existenz" sei, und das hilft nicht wirklich weiter.
Das führt direkt in einen ontologischen Antirealismus.
Es muss jetzt erklärt werden, wie der erste Begriff ins Sein kam. Ohne ihn konnte ja nichts existieren.

Ich behaupte, dass Existenz vollkommen unabhängig von jeder Bestimmung ist. Lediglich unsere Erkenntnis ist teilweise von begrifflicher Bestimmung abhängig.

Nehmen wir an, Du wirst von einem Krankheitserreger infiziert, für den Du keinen Begriff hast. Existiert dieser Krankheitserreger, oder existiert er nicht?




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Alethos
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Di 12. Sep 2017, 13:18

Segler hat geschrieben :
Di 12. Sep 2017, 12:10

Ich behaupte, dass Existenz vollkommen unabhängig von jeder Bestimmung ist. Lediglich unsere Erkenntnis ist teilweise von begrifflicher Bestimmung abhängig.

Nehmen wir an, Du wirst von einem Krankheitserreger infiziert, für den Du keinen Begriff hast. Existiert dieser Krankheitserreger, oder existiert er nicht?
Ich glaube, dass es sehr wohl einen Krankheitserreger geben kann, auch ohne unsere begriffliche Erfassung. Dass dieses Existieren mit einer bestimmten Beschaffenheit daher kommt, scheint mir plausibel.

Aber 'Existenz als solche', mithin abstrahiert von ihrem wie auch immer Geartetsein, kommt nicht vor. Die 'Rose ist' impliziert immer schon ein bestimmtes Sosein, d.h. hat eine attributive Immanenz. Und mich speziell interessiert nun wie dieses 'Angeheftetsein' von Eigenschaften in Sprache Ausdruck findet. Können wir sagen: 'Diese Rose ist rot' und dabei Sein z.B. des Rotseins als Existenz so verwenden wie wir es für das Existieren der Substanz verwenden? Begehen wir hier nicht einen Kategorienfehler? Und welche Möglichkeiten einer Sprachverfeinerung haben wir, um vom formalen Begriffsdenken zu einer adäquateren Seinsbeschreibung zu gelangen?



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