Re: "Verstehen" - (wie sehr) ist es persönlich geprägt? (Und allgemein)
Verfasst: Do 24. Nov 2022, 13:09
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Keinen Zugriff zu haben bedeutet doch lediglich, dass der eine nicht die Gedanken oder Gefühle des anderen haben kann und wir es - zumindest, bis wir nicht vollständig verstanden haben, was Bewusstsein ist, wie es entsteht usw. - nicht beschreiben können. Aber wir haben die Fähigkeit, uns von unserer Position aus gemeinsam auf etwas zu beziehen.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 24. Nov 2022, 06:28Das scheint mir einer der Hauptorte des Verstehens zu sein: Erzählungen, Geschichten oder eben, wie man heute häufig sagt: Narrationen. Könnten wir das, ohne uns in die anderen hineinzuversetzen? Das scheint mir übrigens ein Ansatz zu sein, unser Leben zu verstehen, der dichter daran ist, als der Gedanke, dass wir keinen Zugriff auf das sogenannte Fremdpsychische habenFritz Breithaupt, in "Das Narrative Gehirn" hat geschrieben : Warum verbringen wir so viel Zeit mit Narrationen? Damit meine ich nicht nur die Filme, die wir uns reinziehen, und die Bücher, die wir lesen, sondern auch die vielen Unterhaltungen, die wir darüber führen, wer was mit wem gemacht hat, die Posts in den sozialen Medien sowie unsere eigenen Gedanken dazu, was wir in bestimmten Situationen tun sollen, die uns wie kleine Clips erscheinen können, welche wir anschauen. Die Antwort auf diese erste Frage ist einfach: In den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich »ihre« Erfahrungen selbst machen. Wir müssen nicht selbst auf eine Herdplatte fassen, nicht selbst eine Bank überfallen oder unseren Partner betrügen, um zu erkennen, dass das vielleicht keine so gute Idee ist. Etwas in uns hält uns davor zurück, und das ist nicht die Moral oder das bessere Wissen, sondern eine irgendwie schon gemachte Erfahrung. Und zugleich kommen wir durch Narrationen in den Genuss, auch das Verbotene einmal zu erproben. Auf Englisch sagt man so schön: »You can't have your cake and eat it.« Doch mit Narrationen können wir ebendies: Wir können die Erfahrungen (narrativ, mental) machen und zugleich die Handlungen nicht ausführen. Wir verdoppeln unser Leben. Wir können auch bereits Getanes ein zweites Mal miterleben oder uns eine geplante Handlung vor Augen führen – von minimalen Reaktionen bis zu den großen Lebensentscheidungen.
dann würde ich antworten, dass das "wie sehr" eben auch sehr verschieden ist, in wie weit man das Verstehen ineinanderfließen lässt, und -wichtig-:Wie sehr ist nun ein Verstehen relativ objektiv oder aber doch subjektiv und persönlich geprägt?
Ein Studienobjekt für solche Wertvorstellungen und den Schwierigkeiten ihrer einheitlichen Bedeutung ist beispielsweise die höfische Liebessemantik.
Man könnte die launige Frage stellen, ob man denn überhaupt wissen und/oder verstehen kann, wie es ist, man selbst zu sein. Denn das Problem dabei ist ja, dass wir, wenn wir dem nachgehen, Beobachter und Beobachtetes zugleich sind. Das klingt ein bisschen nach einer Münchausiade.
Selbstreflexion ist etwas anderes, da denke ich über mich im Verhältnis meines Handelns im Kontext nach außen nach und gehe nicht in der Introspektion der Frage nach, wie es ist, ich zu sein so wie ich nachdenke, wie es ist oder sein könnte, du zu sein.
Insofern, als unsere soziale Wirklichkeit gemacht wird, kommt nicht viel anderes infrage, sobald wir es mit Gruppen zu tun haben, die über bestimmte Verwandtschaftsverhältnisse oder natürliche Beindungen hinausgehen.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 24. Nov 2022, 21:42Was auch immer man hier aufzählen sollte, Erzählungen würden doch sicherlich auch dazu gehören, oder?
Aber es könnte doch schon Mechanismen geben, die die Gesellschaft zusammenhalten. Zum Beispiel Helden. Oder Menschen, die auf einem Gebiet außergewöhnliche Leistungen erbracht haben. Auch Vorbilder. Kant, Einstein, Van Gogh usw., je nach Gebiet.
Erzählungen gehören natürlich zum menschlichen Leben, zur Selbstwahrnehmung, zur Erinnerung dazu. Selbst das Gehirn - so die These von Breithaupt - ist auf Erzählungen abgestimmt.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Do 24. Nov 2022, 21:42Was auch immer man hier aufzählen sollte, Erzählungen würden doch sicherlich auch dazu gehören, oder?
Ich frage mich, ob wir eine Brücke brauchen? Sind Individuen und Gesellschaft denn durch etwas getrennt, was es zu überbrücken gilt? Von Hegel soll diese Formel sein: Ein Wir, das Ich, und ein Ich, das Wir ist. Ich meine dementsprechend: Wir sind von vornherein gesellschaftliche Wesen, also von Geburt an, bzw. schon zuvor. Individuen werden wir erst später, aber nicht ohne Gesellschaft.Nauplios hat geschrieben : ↑Fr 25. Nov 2022, 10:51Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist Gesellschaft möglich? - Läßt sich vom cartesianischen cogito, von der Leibniz'schen fensterlosen Monade, von Kants transzendentaler Apperzeption, (das alle Vorstellungen begleitende "Ich denke") von Husserls transzendentalem Ego, von Heideggers "Man" ... läßt sich von hier aus der Brückenschlag zur Gesellschaft bewerkstelligen?
Lucian Wing hat geschrieben : ↑Do 24. Nov 2022, 19:53Man könnte die launige Frage stellen, ob man denn überhaupt wissen und/oder verstehen kann, wie es ist, man selbst zu sein. Denn das Problem dabei ist ja, dass wir, wenn wir dem nachgehen, Beobachter und Beobachtetes zugleich sind. Das klingt ein bisschen nach einer Münchausiade.
Ich habe tatsächlich gerade Schwierigkeiten, dich zu verstehen.Selbstreflexion ist etwas anderes, da denke ich über mich im Verhältnis meines Handelns im Kontext nach außen nach und gehe nicht in der Introspektion der Frage nach, wie es ist, ich zu sein so wie ich nachdenke, wie es ist oder sein könnte, du zu sein.
Als ich meinen Beitrag heute abgeschickt habe, wollte ich das schon bei mir selbst monieren: Ist die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft nicht insofern fragwürdig, als wir es ja eher mit vielen verschiedenen kleinen und großen Gruppen zu tun haben, mittlerweile manchmal "tribe/Stamm" genannt. Wenn man nach der modernen Gesellschaft fragt, fragt man dann nicht eher nach dem mit- oder gegeneinander der vielen Gruppen und Grüppchen als nach dem Ort der Einzelnen? Die vielen Grüppchen werden oft durch Erzählungen "zusammengehalten". Erzählungen, die einander manchmal ausschließen.
"Was für das Bewußtsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewußtsein[e], die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriffe des Geistes, seinen Wendungspunkt, auf dem es aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet." (Hegel; Phänomenologie des Geistes; S. 144)Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Fr 25. Nov 2022, 11:54Ich frage mich, ob wir eine Brücke brauchen? Sind Individuen und Gesellschaft denn durch etwas getrennt, was es zu überbrücken gilt? Von Hegel soll diese Formel sein: Ein Wir, das Ich, und ein Ich, das Wir ist. Ich meine dementsprechend: Wir sind von vornherein gesellschaftliche Wesen, also von Geburt an, bzw. schon zuvor. Individuen werden wir erst später, aber nicht ohne Gesellschaft.Nauplios hat geschrieben : ↑Fr 25. Nov 2022, 10:51Jetzt stellt sich die Frage: Wie ist Gesellschaft möglich? - Läßt sich vom cartesianischen cogito, von der Leibniz'schen fensterlosen Monade, von Kants transzendentaler Apperzeption, (das alle Vorstellungen begleitende "Ich denke") von Husserls transzendentalem Ego, von Heideggers "Man" ... läßt sich von hier aus der Brückenschlag zur Gesellschaft bewerkstelligen?