Zuschreiben statt Beschreiben (Text und Kommentare)

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
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Hermeneuticus
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Wie sich in der Diskussion um die Menschenwürde gezeigt hat, ist der Begriff der "Zuschreibung" (Askription) im Unterschied zur "Beschreibung" (Deskription) von großer Wichtigkeit. Auch wegen seiner Verwandtschaft zum Begriff der Anerkennung (siehe dazu die Diskussion im Thread "Herr und Knecht" im Hegel-Projekt) verdient es das Thema "Zuschreibung", eigens besprochen und geklärt zu werden.

Als guter, elementarer Einstieg bietet sich das 8. Kapitel aus Peter Janichs Buch "Sprache und Methode" (Tübingen 2014, UTB 4124) an: "Zuschreiben statt Beschreiben" (S. 85-105). Der Text kommt ohne Fachchinesisch aus und wendet sich ausdrücklich auch an Leser ohne fachphilosophische Ausbildung.

Ich hatte (in einem anderen Forum...) schon einmal eine Diskussion darüber angeregt, die allerdings keinen großen Anklang fand. Darum lief mit der Zeit eine Reihe von monologischen Kommentaren auf, die als Diskussionsanstoß gemeint waren. Ich erlaube mir, sie hier noch einmal zu posten. Vielleicht wird ja aus dem Monolog doch noch ein Dia-Logos... ;) Wenn ja, können wir gern auch noch weitere Literatur hinzuziehen, um das Thema zu vertiefen.

Der besseren Übersichtlichkeit halber lege ich für die Diskussion einen eigenen Thread an.


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(Der gescannte Text wird besser lesbar, wenn man die Bild-Dateien herunterlädt; dann lassen sie sich bequem zoomen.)
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Hier der Rest des Kapitels.
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Mi 11. Okt 2017, 01:37

Peter Janich: Sprache und Methode
(Kurze Einführung)

Das Buch "Sprache und Methode" (SuM) repräsentiert einen in der heutigen Philosophie selten gewordenen Publikationstyp: Es ist ein Lehrbuch, in dem Janich seine eigene philosophische Position im Grundriss systematisch darstellt. Er tut dies in schlichter, gelenkiger Prosa, frei von jedem akademischen Jargon, und kommt dabei ohne Fußnoten und Literaturverzeichnis aus. Jede methodische Entscheidung wird bedacht und begründet, und so führt das Buch zugleich in die philosophische Reflexion überhaupt ein.

Dem Inhalt nach könnte man es als ein logisches Propädeutikum charakterisieren, das die Grundlagen einer wissenschaftstauglichen Sprachphilosophie bereitstellt, indem es deren wesentliche Termini und Begriffsbildungsverfahren einführt. Aber dabei bezieht Janich natürlich Position. Sprechen wird als Handlung verstanden, die gelingen oder scheitern kann, und so geht der Einführung des sprachphilosophischen Vokabulars eine kleine Handlungsstheorie voraus. Aber damit nicht genug: Im Unterschied zu – ich glaube, allen – anderen logischen Propädeutiken steuert Janich nicht, als sei es eine Selbstverständlichkeit, auf die behauptende Rede los (Aussagen, die wahr oder falsch sein können), sondern er reflektiert deren Einbettung in die auffordernde Rede. Diese betrachtet er als die grundlegendere, methodisch frühere Form des sprachlichen Handelns. Dazu ein Zitat:

„Da gibt es zum Teil Jahrhunderte alte Traditionen, die Sprechen nur als Behaupten diskutieren – meist mit Blick auf die Frage, was 'Wahrheit' sei – und ihm die Aufgabe zuweisen, die Welt, die Wirklichkeit oder die Natur zu beschreiben und darzustellen, wie die Dinge sich in Wirklichkeit verhalten. Oft geschieht dies in der Hoffnung, dass mit Kenntnis der (natürlichen wie kultürlichen) Welt eine Vorbedingung für das Handelnkönnen, für ein sich Zurechtfinden bereitgestellt wird. Die Zuweisung dieser Aufgabe hat, wie sich auch der philosophische Laie leicht vor Augen führen kann, für die Frage der Bedeutung von Wörtern und die Geltung von Sätzen weitreichende Folgen. Eine solche Folge ist, in zugespitzter Form, dass die Struktur der Begriffe und Urteile hinreichend auf die Struktur der Welt passen muss, sie hinreichend gut wiedergeben oder gar abbilden muss, um die Orientierungsleistung zu erbringen, die von dem sprachlich formulierten Wissen über die Welt erwartet wird.“ (SuM S. 44)

Handeln, somit auch das Sprachhandeln, muss gelernt werden, und das ist nur möglich in der Kommunikation mit anderen handlungsfähigen Personen. Das elementare Charakteristikum von Handlungen sieht Janich darin, dass wir uns für ihr Gelingen oder Scheitern gegenseitig verantwortlich machen. Er versteht also Handlungen grundsätzlich nicht als das Tun isolierter Personen, und schon gar nicht die sprachlichen Handlungen. - Der Ansatz beim behauptenden Reden (Assertion, Urteil, Aussage), auf den die herkömmliche Sprachphilosophie überwiegend festgelegt oder sogar beschränkt war, hat auch dazu geführt, die elementaren sprachlichen Handlungen als monologisch misszuverstehen:

„Anschaulich gesagt, Sprache in ihrer Bedeutungsfunktion an den Anfang sprachphilosophischer Überlegungen zu stellen, geht von einem monologischen Sprechen aus, das einer beschriebenen Welt gegenübersteht. 'Monologisch' heißt dabei, von der Einbettung allen Sprechens beim Lernen, Üben und Anwenden in eine gemeinschaftliche Praxis mit anderen Menschen weitgehend abzusehen und sich Sprache gleichsam so vorzustellen, als säße der Sprecher vor einem Blatt Papier und versuchte, bedeutungsvolle und gültige Sätze auf das Papier zu bringen. (…)

Programm der folgenden Bereitstellung eines sprachphilosophischen Vokabulars ist es dagegen, bei Sprache als Mittel menschlicher Kommunikation anzusetzen und von dort her die traditionellen Probleme der Signifikationsfunktion der Sprache aufzurollen. Kommunikation und Signifikation stehen also nicht als zwei gleichberechtigte oder von einander unabhängige Aspekte nebeneinander. Vielmehr sind Gelingen und Erfolg von menschlicher Kommunikation im Dienst der Lebensbewältigung in Handlungsgemeinschaften die Grundlage dafür, alle Funktionen der Sprache zu bestimmen, von der Unterscheidung elementarer Sprachhandlungstypen wie dem Auffordern, dem Fragen, dem Behaupten und den performativen Sprechakten über das Bestimmen von Wort- und Satzsorten bis zu den Kunstsprachen der Wissenschaft und der Philosophie.“ (SuM S.45f.)

„Sprache und Methode“ ist, wie gesagt, ein Lehrbuch. Aber was genau wird darin gelehrt? Einfach nur die persönliche Weltsicht Peter Janichs, konkret: die Anwendung seiner pragmatistischen Überzeugungen auf die Sprache? Zwar geht das Unternehmen, Sprache als ein gelingendes oder scheiterndes, erfolgreiches oder erfolgloses Handeln zu rekonstruieren, auf eine persönliche Entscheidung zurück, doch sind ja die Meinungen der Autoren gewöhnlich nicht das, was den Inhalt von Lehrbüchern ausmacht. Was gelehrt werden kann, ist vielmehr ein gesichertes Wissen oder auch ein Können, das aufgrund seiner geregelten Struktur übertragbar und also personenunabhängig auszuüben ist. Das spezifische Können, das Janich in diesem Buch lehrt, charakterisiert er selbst so:

„Wie lassen sich Misslingen und Misserfolg menschlicher Kommunikation vermeiden? Und ist diese Kunst des Vermeidens von Misslingen und Misserfolg selbst durch Sprechen über Sprache in lehr- und lernbare Verfahren zu bringen?“ (S. 47)

Dabei unterstellt Janich, dass die Vermeidung des kommunikativem Misslingens ein erstrebenswertes Ziel ist. Die Luxusperspektive, nach der mancher Missverständnisse als produktiv begreifen mag, lässt er angesichts der Nöte, die das Scheitern der Verständigung verursacht, auf sich beruhen.

An dieser Stelle wird auch verständlich, was Janich meint, wenn er sagt, in seinem Lehrbuch werde das Sprechen als Handeln „methodisch rekonstruiert“. Ausgehend vom tatsächlichen Spracherwerb und Sprachgebrauch werden die „Verfahrensweisen“ aufgegriffen, die schon im Alltag den Erfolg der Verständigung herbeiführen, indem sie die Bedeutung der jeweiligen Rede für die Sprecher kontrollierbar machen. Denn offenbar misslingt ja Kommunikation nicht immerzu. Dieses faktisch bereits vorhandene praktische Können muss also nicht neu und künstlich erfunden werden. Es genügt, es re-konstruierend in eine explizite sprachliche Form (z.B. als Regeln) zu bringen und so auch explizit zu lehren.

Nun soll aber die Rekonstruktion auch eine „methodische“ sein. Dazu Janich selbst:

„Methodisch soll eine solche Rekonstruktion heißen, weil es dabei um bestimmte Wege im Sinne der Reihenfolge von Einzelschritten geht (von altgriechisch hodos, der Weg). Im Handeln spielen Reihenfolgeprobleme eine fundamentale Rolle. So bestehen ja auch elementare Formen täglicher Lebensbewältigung immer wieder aus Handlungsketten, bei denen Teilhandlungen nur bei Strafe des Misserfolgs der ganzen Handlungskette vertauscht werden können. (…)
Auch Lerngeschichten für Wörter und Sätze sind häufig an solche Reihenfolgen gebunden, oder sie misslingen. Man muss erst zählen gelernt haben, bevor man zusammenzählen lernen kann, und das Zusammenzählen muss man gelernt haben, bevor man das Multiplizieren lernen kann.“ (SuM S. 49f.)

Man könnte solche Reihenfolgen, von denen das Gelingen komplexer Handlungen abhängt, auch eine Verkettung von notwendigen „Voraussetzungen“ nennen, was freilich insofern etwas schief wäre, als ja dabei nichts „gesetzt“ wird. Kant sprach bezüglich dieses Problemkomplexes gern von „Bedingungen der Möglichkeit“; ob er sich dabei ganz im Klaren darüber war, dass man es mit Erfolgsbedingungen von Handlungen zu tun hat, wäre eine interessante Frage...

Wie auch immer: Janich ist der Überzeugung, dass auch die sprachphilosophische Rekonstruktion der gelingenden Kommunikation eine komplizierte Form des Handelns ist und insofern auch scheitern kann, wenn bestimmte methodische Reihenfolgen nicht beachtet werden. Und so unterstellt er sein Unternehmen dem „Prinzip der methodischen Ordnung“:

„Wegen dieser Verletzungen des Zusammenhangs von nichtsprachlichen und sprachlichen Handlungen, wie er im Alltagsleben unverzichtbar (und generell anerkannt) ist, wird für die komplexen Formen des Redens in den Wissenschaften ein Prinzip der methodischen Ordnung formuliert. Es regelt den beschriebenen Zusammenhang von Sprechen und nichtsprachlichem Handeln. Es verbietet, in vorschreibender oder beschreibender Rede die Reihenfolge von Teilhandlungen einer Handlungskette anders wiederzugeben, als diese ausgeführt werden müssen, um ihren Zweck zu erreichen. (...)

Wer anders als nach dem Prinzip der methodischen Ordnung redet, formuliert wertlose Vorschriften (Gebrauchsanweisungen, Rezepte, Regeln) oder erzählt unglaubwürdige Geschichten, gibt falsche Berichte usw. Das heißt also, das Prinzip der methodischen Ordnung gilt nicht 'absolut', 'unbedingt' oder (mit einem philosophischen, gleichbedeutenden Wort) 'kategorisch', sondern selbst nur relativ zu weiteren Zwecken. Wer den Zweck verfolgt, auf wertlose Vorschriften und unglaubwürdige Geschichten zu verzichten, tut gut daran, das dafür geeignete Mittel zu ergreifen und das Prinzip der methodischen Ordnung zu befolgen.“ (SuM S. 31f.)




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Mi 11. Okt 2017, 01:38

Zur Vermeidung von Missverständnissen bei der Lektüre von "Zuschreiben statt Beschreiben" empfehle ich meine kurze Einführung in Janichs Buch "Sprache und Methode" (Beiutrag 5228). Daraus sollte verständlich werden, welche Absichten Janich mit seiner "methodischen Rekonstruktion" von handlungs- und sprachtheoretischen Begriffen verfolgt.

Auch im vorliegenden Kapitel geht Janich bei seiner Rekonstruktion zunächst von der üblichen, "bildungssprachlichen" Redeweise aus. Er trägt alltägliche Beispiele für die Verwendung von "zuschreiben", "zurechnen", "zubilligen" usw. zusammen, um unser Vorverständnis zu sichten und zu sortieren. Das geschieht aber nicht einfach in affirmativer Absicht nach der Devise "Ordinary language is O.K.". Zwar vertraut Janich dem lebensweltlichen Sprachgebrauch insoweit, als er ein unverzichtbares praktisches Können zum Ausdruck bringt, das sich in der täglichen Lebensbewältigung und Verständigung bewährt hat. Aber er bleibt dabei nicht stehen. Er will dieses unreflektierte, praktische Können einerseits explizit machen, aber andererseits auch kritisch sichten, bevor er es in die fachsprachliche Terminologie aufnimmt.

Natürlich ist die Bereitstellung einer philosophischen Terminologie für Janich kein Selbstzweck. Er verfolgt vielmehr das Ziel, kritisch und klärend in fachliche und öffentliche Debatten einzugreifen. Wie man an seinen Büchern "Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung" (2009) , "Der Mensch und andere Tiere. Das zweideutige Erbe Darwins" (2010) oder "Was ist Information?" (2006) sieht, hat er dabei vor allem den vorherrschenden Naturalismus aufs Korn genommen, der sich bis ins alltägliche Reden und Denken ausbreitet und dort mitunter seltsame Blüten treibt. Aus einem verfehlten Selbstverständnis wissenschaftlicher Praktiker ist vielfach eine naturalistische "Volkstheorie" geworden - mit vielen zur Selbstverständlichkeit geronnenen Vorurteilen und fake-news...

Diese anti-naturalistische Ausrichtung kommt auch im vorliegenden Kapitel zum Ausdruck. Aber sie ist nicht der Grund, aus dem ich es zur Besprechung vorgeschlagen habe. Ich halte vielmehr Janichs Überlegungen und Präzisierungsvorschläge zu den Begriffen "Zuschreibung", "Verantwortung", "Person" für eine gute, elementare Einführung in die Diskussion.




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Mi 11. Okt 2017, 01:42

Peter Janich leitet das Kapitel ein mit einem kritischen Blick auf die Konjunktur, die das "Zuschreiben" in den Naturwissenschaften erlebt, und zwar besonders in den Lebenswissenschaften, der Evolutionsbiologie, der Verhaltensforschung, der Genetik und den Neurowissenschaften. "Die Naturgeschichte vom Anorganischen zum Lebendigen, von den niederen Formen des Lebens zu ihren höchsten Ausdifferenzierungen über die Pflanze und das Tier zum Menschen spricht von evolutionär entstehenden Fähigkeiten, die den jeweils neuen Formen des Lebens 'zugeschrieben' werden." (S. 85) Es seien besonders die jeweils höheren, komplexeren, aus den vorherigen Stufen nicht ableitbaren "Eigenschaften", die gerne im Modus des Zuschreibens genannt würden.
Peter Janich hat geschrieben : Ein kritischer Blick auf die Flut der Zuschreibungen im Verhältnis zum Beschreiben legt den Verdacht nahe, dass sich diese Tendenz dem dadurch erreichten Zugewinn an Freiheit des Sprechers wenn nicht gar an Beliebigkeit der Rede verdankt. Während nämlich dem Standard-Verständnis des Beschreibens entspricht, dass ausreichend klare Beschreibungen einfach nur wahr oder falsch sind, was nicht zuletzt empirisch von den beschriebenen Gegenständen abhängt, atmet das Zuschreiben die Freiheit des Metaphorischen, also der Einführung einer neuen, übertragenen bildhaften Sprechweise und lässt sich zugleich als Ausdruck umfassender Naturbewunderung vortragen. Statt strenger Beschreibung öffnet sich die Freiheit des Zubilligens, ja des großzügigen Zuteilens von Gaben und Geschenken an die höheren Lebensformen. Ob man einem Insekt Schmerzen oder einem Wirbeltier Bewusstsein zuschreibt, ob Krähen und Menschenaffen die Kunst der Werkzeugherstellung zugesprochen und dem Menschen die Freiheit des Willens abgesprochen wird, auch bei weithin ungeklärten Sprachverwendungen ist die simple Härte der wahren oder falschen Beschreibung verlassen, wo das Zubilligen, Zuerkennen, Zurechnen und anders bezeichnete Zuweisungen wie das großzügige Verteilen von Geschenken vorgenommen werden kann.

(S. 85f.)
Dieser sprachlichen Vagheit will Janich durch eine methodische begriffliche Klärung abhelfen. "Methodisch" meint - im Kontext des Buches -, dass das Zuschreiben als eine spezifische sprachliche Handlung rekonstruiert wird, für die ein Sprecher verantwortungspflichtig ist. Diese methodische Rekonstruktion besteht aus 4 Schritten:
Dazu wird in einem ersten Schritt ein sprachanalytischer Blick auf die Alltags- und Bildungssprache zu werfen sein, um die Handlungen des Zuschreibens von ihren Zwecken her zu verstehen und damit eine explizite Rekonstruktion eines nicht explizierten Sprachgebrauchs vorzubereiten.

Im zweiten Schritt soll die Praxis des gegenseitigen Zuschreibens als grundlegender Bestandteil von Kultur vorgestellt werden, um sie gegen unangemessene Naturalisierung abzugrenzen.

Im dritten Schritt soll "Zuschreiben" in Gegenüberstellung zum "Beschreiben" explizit terminologisch bestimmt werden.

Im vierten und letzten Schritt ist dann ein Resümee zu ziehen, aus welchen Gründen die Unterscheidung von Natur und Kultur am Beispiel des Zuschreibens einen aufgeklärten Aspektpluralismus anstelle eines dogmatischen Dualismus eröffnet.

(S.86)
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Dazu einige Bemerkungen:

Ein weiterer Grund für die beliebte Rede vom Zuschreiben scheint mir darin zu liegen, dass sie schlicht mit der Prädikation verwechselt wird. Wird nämlich in methodischen oder logischen Einführungen die Handlung des Prädizierens erläutert, so wird ja - in wörtlicher Übersetzung des lateinischen "prae-dicere" - gern gesagt: dabei werde einem Gegenstand ein Prädikat(or) zu- oder abgesprochen.

Nun ist aber die logische Form der Prädikation neutral gegenüber den verschiedenen Arten von Sprachhandlungen. Ob es sich um eine assertorische Aussage, eine Frage oder eine Aufforderung handelt - logisch gesehen geschieht stets dasselbe: einem bezeichneten Gegenstand wird ein Prädikat beigefügt: "Peter, lauf!" - "Ist dies ein Säugetier?" - "Der Delphin ist ein Lungenatmer."

Es ist also gut möglich, dass in wissenschaftlichen Kontexten, wo oft nicht endgültig entschieden ist, ob Aussagen noch den Status von Hypothesen haben oder schon Beschreibungen sind, der subjektive Akt des Zu-Sprechens betont wird. Denn Prädikationen können - wie alle Handlungen - ja gelingen oder scheitern. Und bekanntlich ist nur eine wahre Aussage eine Beschreibung. Nur dann kommt der Prädikator dem Gegenstand wirklich zu. Aber auch in Aussagen, die sich als falsch herausstellen, bei denen also der Prädikator dem Gegenstand nicht zukommt, hat der Sprecher dem Gegenstand doch diesen Prädikator zugesprochen - oder aber buchstäblich zugeschrieben, wenn es sich um eine schriftliche Äußerung handelt.
:-)

Ich brauche aber wohl nicht zu betonen, dass diese Bedeutungsfacette von "zuschreiben" im Folgenden nicht gemeint ist. Das Zuschreiben, von dem Janich handelt, meint vielmehr einen Akt, der sonst auch als "Anerkennen" geläufig ist (z.B. bei Hegel).




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Mi 11. Okt 2017, 01:43

Wohlan denn, werfen wir einen Blick auf den Abschnitt "8.1 Zuschreiben in Alltags- und Bildungssprache"!
:-)

Von den drei sachdienlichen Hinweisen, die Janich dort aus dem Sprachgebrauch aufnimmt, will ich in diesem Beitrag nur den ersten besprechen:

Es geht zunächst um den grammatisch-logischen Befund, dass Verben mit der Vorsilbe "be-" (wie beschreiben, besprechen, berechnen) transitiv sind und somit ein Akkusativ-Objekt nach sich ziehen. Jemand beschreibt etwas, also eine Sache oder einen Sachverhalt. Logisch gesehen ist "beschreiben" demnach ein zweistelliger Prädikator, der ein Verhältnis zwischen einer Person (dem Sprecher) und einer Sache herstellt: x beschreibt y.

Im Unterschied dazu sind Prädikatoren mit der Vorsilbe "zu-" (wie zuschreiben, zurechnen, zubilligen, zugestehen) dreistellig. Jemand (x) schreibt einer Sache oder Person (y) etwas zu. Eine Aussage mit "zuschreiben" ist also nur vollständig, wenn angegeben wird, welche Person einer anderen was zuschreibt:
Janich hat geschrieben : Mit anderen Worten, an der Dreistelligkeit der Prädikatoren des ZUSCHREIBENS, wie ab jetzt summarisch für zusprechen, zuschreiben, zurechnen und ähnlich verwendete Handlungsprädikatoren gesagt werden soll, zeigt sich die Herstellung, Feststellung oder Negation einer Beziehung zwischen einer Person y und einer Sache durch einen Sprecher x. Diese Relation ist im einfachsten Falle ein Besitzverhältnis. Man sagt zum Beispiel, dass der Satz "diese Tasse gehört Herrn y" eine bestimmte Tasse als Besitz oder Eigentum zuspricht oder zuerkennt.

S. 87
Janich macht deutlich, dass Akte des Zuschreibens, Zubilligens oder Zugestehens den Charakter eines freiwilligen Gebens oder Verleihens haben. Man könnte auch sagen, es seien Akte der Anerkennung. Das ruft die Erinnerung an Hegels Theorie des Selbstbewusstseins aus der "Phänomenologie des Geistes" wach. Denn Hegel sucht dort geltend zu machen, dass Selbstbewusstsein nicht primär im monologischen Reflexionsverhältnis des Ich zu sich selbst bestehe, sondern vielmehr interpersonelle Verhältnisse zur Grundlage habe; und diese interpersonellen Verhältnisse seien solche der gegenseitigen Anerkennung als Subjekte. - Die Erinnerung an Hegel ist hier durchaus nicht sachfremd, denn wer Janichs Buch "Sprache und Methode" kennt, wird wissen, dass es Handlungen nicht als Akte isolierter Individuen konzipiert, sondern als Vollzüge, die grundsätzlich innerhalb von Handlungs- und Verantwortungsgemeinschaften verortet sind. Handlungen und handelnde Personen werden also nie ohne ihre kulturelle Einbettung gesehen. "Einbettung" ist dabei eigentlich noch schwach gesagt: Es wird vielmehr gesehen, dass die Handlungsfähigkeiten, die eine Person zu einem eigenständigen Subjekt machen, überhaupt nur innerhalb einer Gemeinschaft von handelnden und sprechenden Personen erworben werden können. Subjekt ist ein Mensch nicht ab ovo oder aus sich selbst, er kann es nur durch soziale Erfahrungen und Lerngeschichten werden. Diese aristotelisch-hegelianische anthropologische Reflexion ist in Janichs Version des Pragmatismus ("Kulturalismus") durchweg eingeholt.
Janich hat geschrieben : Damit lässt sich der Unterschied der hier vorgetragenen Handlungstheorie zu praktisch allen herkömmlichen [An]sätzen folgendermaßen zuspitzen:
Am Anfang der Rekonstruktion eines handlungstheoretischen Vokabulars steht nicht das isolierte und in seinen Kompetenzen voll ausgebildete Individuum, sondern die Handlungsgemeinschaft, weil nur in gemeinschaftlicher Praxis die erwähnten Zurechnungen von Verdienst und Schuld [also das gegenseitige Sich-Verantwortlich-Machen] stattfinden.

[...]

Die Gemeinschaft zusammenlebender Menschen verlangt von ihren Mitgliedern diese Unterscheidungsfähigkeit, fordert sie gelegentlich (wie in Gerichtsverhandlungen) sogar ausdrücklich ein. Es geht also nicht primär um das Urteil einer Person über das eigene Tun und Erleiden, sondern primär um die Zurechnungen von Verdienst und Schuld durch andere Menschen - und zwar, wie sich zeigen wird, im Rahmen wechselseitiger Verpflichtung. (Die sprachliche Handlung des Zuschreibens wird in Kapitel II in einem eigenen Abschnitt - "8. Zuschreiben statt Beschreiben" - geklärt.)

(S. 2f.)
Janichs erste Bestimmung von "Handlung" ist die Verantwortung: Wofür wir uns gegenseitig verantwortlich machen und wofür wir verantwortlich sind, das sind unsere Handlungen und ihre Folgen.

Es ist wichtig, sich ganz klar zu machen: Die Fähigkeiten, die ein Individuum zu einem eigenständigen Wesen - einer "Person" oder einem "Subjekt" - machen und die es insofern "hat" oder "besitzt", sind stets in interpersonellen Verhältnissen basiert. Nur durch praktische Beziehungen zu andern Personen wird ein menschliches Individuum zur Person. Ihre Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit "hat" sie nicht ohne die Anerkennung, die ihr durch ihre Mit-Personen zuteil wird. Aber klarer Weise ist solche Anerkennung der Eigenständigkeit zugleich mit der Forderung nach Verantwortung verknüpft. Wem die Fähigkeit zugestanden wird, sich Verdienste zu erwerben, hat ineins damit auch die Fähigkeit, sich etwas zuschulden kommen zu lassen. Anerkennung und Verantwortung haben unweigerlich dieses doppelte Gesicht.

Vor diesem Hintergrund muss man die Handlungen des "Zuschreibens" verstehen. Das sind keine äußerlichen, oberflächlichen Vergaben von Prädikaten, die nur die gesellschaftliche Erscheinung einer Person beträfen und daher ihr wahres "Wesen" nicht tangierten. Zuschreibungen kommt in menschlichen Gemeinschaften vielmehr eine konstitutive Bedeutung für das individuelle Person-SEIN zu.




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Mi 11. Okt 2017, 01:45

Neben Besitzverhältnissen wird auch die Urheberschaft zugeschrieben. Janich nennt als Beispiele Kunstwerke und archäologische Funde, die von Fachleuten einer bestimmten Kultur, einer Periode oder Stilrichtung zugeordnet oder auch bestimmten Personen als ihren Herstellern zugeschrieben werden.
Janich hat geschrieben : Auch in alltäglichen Situationen, in denen etwas hergestellt wird - man lobt die Köchin, den Hausmusiker oder das malende Kind - werden Leistungen zugeschrieben oder im Falle einer Täuschung aberkannt. Dies lässt als zweiten Hinweis den Aspekt der Urheberschaft und des rechtlichen und moralischen Urteils über die Tat eines Menschen erkennen. Bei den mit 'zu-' beginnenden Handlungsprädikatoren geht es also um eine Art von Besitzverhältnissen im übertragenen Sinne. Es ist die in einem Urteil zugewiesene Urheberschaft für Leistungen, die sich, außer auf die zugeschriebenen Handlungen, auch auf Produkte oder die Folgen menschlicher Handlungen erstreckt.

Als Sonderfall bleibt außerdem zu berücksichtigen, dass in der juristischen Fachsprache zurechnen und Zurechenbarkeit geläufige Fachausdrücke sind, wo es etwa im Strafrecht um das Urteil des Richters geht, das die Verantwortlichkeit und die Urheberschaft eines einer Straftat Beschuldigten betrifft.

S. 88
Die Beispielsammlung ließe sich noch beliebig fortsetzen. Es zeichnen sich einstweilen aber diese Facetten ab. Zugeschrieben werden

- Handlungen oder Taten
- Leistungen
- Produkte und Handlungsfolgen
- Rechte (wie der Besitz)
- Fähigkeiten (wie die "Zurechenbarkeit")

Dabei drehen sich die Urteile, mit denen etwas zugeschrieben wird, stets um die Verantwortung einer Person für etwas. Das lässt sich am leicht archaisch anmutenden Begriff der Urheberschaft verdeutlichen. Ein "Urheber" ist nicht einfach nur der "Erzeuger" einer Sache oder der Anstoßgeber einer kausalen Folge. Dieser kausale Sinn liegt zwar auch im Begriff des Urhebers, aber er deckt das damit Gemeinte nicht ab. Als Urheber kommen immer nur Personen (oder "Subjekte") in Betracht, während der Anstoß zu einer kausalen Abfolge von Geschehnissen auch von Dingen ausgehen kann. Ja, in kausalen Abläufen sind handelnde "Subjekte" gar nicht sinnvoll unterzubringen. Wo alles, was geschieht, eine zwangsläufige Wirkung aus Gegebenem ist, kann ein ins Geschehen verwickelter "Täter" gar nicht auftreten. Wenn in kausalen Verkettungen nach einem "Urheber" gefragt würde, so würde sich der oder das Gesuchte immer weiter im Unendlichen verlieren. Man hätte keinen guten Grund, an irgendeiner Stelle einen Einschnitt zu machen und etwas als einen Anfang herauszuheben. Die Vorsilbe "Ur-" bei Wörtern wie "Urheber", "Ursprung" oder "Urknall" meint dagegen immer ein Erstes, hinter das nicht weiter zurück gefragt werden kann. Und als genau ein solches Erstes gelten uns Handlungen oder Produkte von Handlungen, die wir Personen oder "Subjekten" zuschreiben.

Juristische Auseinandersetzungen um Plagiate, wo an Produkten genau nachgewiesen werden muss, was davon bloß Nachahmung oder Kopie ist und was unzweifelhaft auf den individuellen "Autor" zurückgeht, können durchaus schwierig sein. In der Geschichte des Urheberrechts waren und sind die Kriterien für "Urheberschaft" nicht ohne Grund umstritten. Auch ist zu bedenken, dass vor den Anfängen der Genie-Ästhetik wenig danach gefragt wurde, woher ein Künstler bestimmte Anregungen, Motive, Themen, Verfahrensweisen oder "Einfälle" genommen hatte. Die Verwendung von Topoi, die Nachahmung klassischer Vorbilder, die Arbeit nach vorgegebenen Themen und Mustern war allgemein üblich und wurde sogar als Garant künstlerischer Schönheit verstanden. Erst als der Begriff des "Original-Genies" aufkam, würde plötzlich die "Originalität" - deutsch: die Ursprünglichkeit - des einzelnen Werkes erstrebt und als besondere persönliche Leistung ausgezeichnet. Erst in der Folge dieses ästhetischen Paradigmenwechsels entstand überhaupt ein Urheberrecht, das die Originalität von ästhetischen Werken unter Schutz stellte. War vorher die Nachahmung für Künstler verpflichtend, wurde sie nun als Vergehen an der Urheberschaft des einzelnen Künstlers und der Ursprünglichkeit seiner Werke bestraft. - Dass dieser ästhetische Paradigmenwechsel zeitlich mit dem Erstarken des Bürgertums, der Erfindung der "bürgerlichen Gesellschaft" und den Anfängen des demokratischen Rechtsstaates einherging, sollte niemanden überraschen...

Dies nur als kleine Reflexion auf den Hintergrund des "Ur-" im Begriff der Urheberschaft. Man könnte bei dieser Gelegenheit auch an Hannah Arendt erinnern, die in ihrem Buch "Vita activa" die Anfänglichkeit des Handelns besonders hervorhob. *) Deutlich sollte geworden sein, dass Zuschreibungen immer die gesellschaftliche Dimension - das Person-Sein - von menschlichen Individuen betreffen, also ihre Einbindung in Handlungs- und Verantwortungsgemeinschaften sowie den besonderen "Status", den sie darin - kraft Leistung und Anerkennung - innehaben.

Im Zuge dieser Überlegungen ließe sich noch eine Unterscheidung hinzufügen, die Janich nicht thematisiert. Er spricht nur von Zuschreibungen, die auf einzelne Personen, ihre Handlungen und Leistungen gerichtet sind. Aber es gibt ja durchaus auch generische Zuschreibungen, die Personengruppen betreffen oder an institutionalisierte "Rollen" oder "Funktionen" gebunden sind. So wird etwa jeder Deutsche mit der Vollendung seines 18. Lebensjahres zu einem "vollmündigen" Staatsbürger. Diese Übertragung von Rechten und Pflichten geschieht gerade "ohne Ansehung der Person"; es wird dabei generös unterstellt, dass 18jährige Menschen die nötigen Fähigkeiten "haben", um die ihnen übertragenen Rechte auch "wahrzunehmen". Diese Unterstellung von Verantwortungsfähigkeit gehört durchaus zum Umkreis des Zuschreibens. Das gilt auch für Rechte und Pflichten, die mit Ämtern verknüpft sind; jede Person, die ein Amt "bekleidet", übernimmt damit die dieser Funktion zugewiesenen Kompetenzen, denen ihre individuellen Fähigkeiten dann zu entsprechen haben.


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*) Siehe den Abschnitt 24: "Die Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen", in: Vita activa. Vom tätigen Leben, München 81981, S. 164ff.)




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Mi 11. Okt 2017, 01:46

Im dritten Abschnitt von 8.1 konfrontiert Janich das lebensweltliche Zuschreiben mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung. Er zeigt an einem Beispiel, dass beides nicht durch einander ersetzbar ist.

Angenommen, man wollte einen Alltagsgegenstand wie eine Tasse bis hinab zu allen ihren einzelnen Molekülen und Atomen beschreiben. Eine solche Beschreibung wäre prinzipiell unabschließbar; es ließen sich unendlich viele Aussagen über diesen individuellen Gegenstand machen.
Janich hat geschrieben : Doch auch wenn die naturwissenschaftliche Beschreibung eines individuellen Objekts wie einer Kaffeetasse prinzipiell nicht abschließbar ist, lässt sich doch sagen, wann eine solche Beschreibung nicht nur zutreffend, sondern auch vollständig ist: Die Tasse ist naturwissenschaftlich vollständig beschrieben, wenn diese Beschreibung die Herstellung einer Kopie gestattet, die mit den Verfahren eben dieser Beschreibung vom Original nicht mehr unterscheidbar ist. In anderen Worten, dass eine naturwissenschaftliche Beschreibung nach den üblichen Kriterien nicht nur zutreffend, sondern auch vollständig ist, wird an der Ununterscheidbarkeit technischer Kopien definiert.

(S. 88)
Janich spielt damit auf ein viel zitiertes Beispiel für das Körper-Geist-Problem an: Die naturwissenschaftliche Beschreibung eines Ölgemäldes ist dann vollständig, wenn mithilfe dieser Beschreibung eine Kopie hergestellt werden kann, die mit den Mitteln der Naturwissenschaft nicht mehr vom Original unterschieden werden kann. Ist das der Fall, weiß man "alles" über das Ölgemälde, was sich darüber im Rahmen der Naturwissenschaften herausfinden ließe. Und doch wäre damit noch nicht erfasst, wer das Gemälde gemalt hat, wem es gehört, was es darstellt und bedeutet usw. Diese Art von Aussagen über das Gemälde fiele ins Gebiet der Zuschreibungen.
Janich hat geschrieben : Das heißt aber, dass etwa Besitzverhältnisse und ihre Herbeiführung durch zwischenmenschliche Handlungen wie des Schenkens oder Kaufens im Verhältnis zu (naturwissenschaftlichen) Beschreibungen selbst für so triviale Gegenstände wie eine Kaffeetasse eine Pluralität von Aspekten eröffnet, unter denen sie erfasst werden können. Dabei erlaubt das Zuschreiben im Gegensatz zu den (alltäglichen oder naturwissenschaftlichen) Beschreibungen, sich von den bildlich am Objekt hängenden und deshalb 'objektiv' genannten Aspekten der Tasse abzulösen und stattdessen zwischenmenschliche Handlungen in den Blick zu nehmen, die das fragliche Objekt betreffen. Sie haben mit Bedürfnissen, Interessen, Wünschen, Befürchtungen, Zu- und Abneigungen verschiedener Personen zu tun. Ob die Tasse gekauft oder gestohlen ist, ob sie geschenkt oder gar in einem Töpferkurs vom Besitzer selbst hergestellt wurde (Urheberschaft), und auf diese Weise in seinen Besitz kam, immer geht es beim Zuschreiben um Aspekte, die mit zwischenmenschlichen, so genannten 'praktischen' Handlungen (im Gegensatz zu natürlichen Geschehnissen) zu tun haben.

S.89
Wie er schon in der Übersicht am Ende der Einleitung zum Kapitel 8 angekündigt hatte, bahnt Janich mit der Unterscheidung von Beschreibung und Zuschreibung einen Aspekt-Pluralismus an. Die verschiedenen, durch einander nicht ersetzbaren Aspekte sind dabei abhängig von den unterschiedlichen Verfahrensweisen beim Sprechen über Gegenstände. Bei den unterschiedlichen Verfahrensweisen stehen jeweils andere Zusammenhänge im Fokus, in welche die fraglichen Gegenstände rücken können; dafür werden andere Zusammenhänge ausgeblendet.

Einen wichtigen Grund dafür, bei dieser Konfrontation von verschiedenen Aspekten auf "ontologische" Festlegungen zu verzichten, präsentiert Janich mit dem Hinweis auf die prinzipielle Unabschließbarkeit von Beschreibungen. Keine Beschreibung kann für sich beanspruchen, ihre Gegenstände "bis auf den Grund" festgestellt und damit ihr Sein vollständig erfasst zu haben. Von Vollständigkeit kann bei einer Beschreibung also niemals hinsichtlich der "Sachen selbst" die Rede sein, sondern nur hinsichtlich der Verfahrensweisen, mit denen man sich den Sachen nähert. Und so ist ja auch die Vollständigkeit der naturwissenschaftlichen Beschreibung methodisch definiert, nämlich durch die Herstellung von ununterscheidbaren Kopien.

Im übernächsten Abschnitt 8.3 wird Janich weiter auf den Aspekt-Pluralismus eingehen und ihn zugleich verallgemeinern zum Verhältnis von Natur und Kultur.




Hermeneuticus
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Mi 11. Okt 2017, 01:47

Abschnitt "8.2 Der Gegenstand von Zuschreibungen in menschlichen Lerngeschichten" arbeitet heraus, was die in 8.1 aufgeführten Hinweise miteinander verbindet. Das Verbindende hat demnach zu erklären, wie Besitzverhältnisse bei Tassen oder Gemälden mit der Urheberschaft von Artefakten zusammenhängen und wie dieser Zusammenhang das Ausschlussverhältnis von Zuschreiben und Beschreiben betrifft. Wie die Überschrift bereits andeutet, soll ein Blick auf die typischen Lerngeschichten weiterhelfen, in denen (alle) Menschen ihr Handlungs- und Sprachvermögen erwerben müssen. Janich fragt (S. 90), wie diese Lerngeschichten "möglich" sind, d.h. was für den Erwerb von individueller Handlungs- und Sprachkompetenz konstitutiv ist. Die Antwort ist bereits absehbar, denn Janich zeigt, dass das Zuschreiben (von Leistungen, Verdienst oder Verschulden) eine unverzichtbare Rolle beim Handelnlernen spielt.

Janichs Argumentation geht aus von dem unstrittigen Faktum, dass Menschen ihre Befähigung zur eigenständigen Lebensbewältigung nicht von Natur aus mitbringen, sondern sie in sozialen Gemeinschaften ("Kulturen") erwerben müssen. So sind auch die sog. "natürlichen" Sprachen nicht angeboren, sondern sie müssen gelernt werden.

Nun macht Janich darauf aufmerksam, dass dieser Spracherwerb nicht mit wahren Beschreibungen beginnen könne. "Denn jedes wahre Beschreiben der Welt oder der Natur muss bereits auf die Beherrschung von Wörtern und Sätzen zurückgreifen. Das Reden am wahren Beschreiben der Natur lernen zu wollen, wäre so absurd, wie wenn man die Fähigkeit des Lesens aus einem Lehrbuch über das Lesen erwerben wollte." (S. 90) Damit erinnert er an die fundamentale Tatsache, von der sich jeder Pragmatismus leiten lässt, nämlich den Umstand, dass das Wissen-Wie (knowing-how) stets den Vorrang vor dem Wissen-Was (knowing-that) hat. Oder schlicht gesagt: Praxis kommt vor Theorie.

Janich bekräftigt diesen Vorrang des Handeln-Könnens vor dem theoretischen Wissen im nächsten Absatz noch: "Schon gar nicht wird das Handlen durch theoretischen Nachweis seiner Möglichkeit unter natürlichen oder gar naturgesetzlichen Bedingungen für solche Handlungen erlernt (...) Hier gilt vielmehr der scholastische Grundsatz ab esse illatur posse. aus Sein folgt Können. Das heißt, aus dem Vollzug einer Handlung 'folgt', dass sie vollzogen werden kann. Kein Vollzug einer Handlung bedarf vorab eines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit." (ebd.) In diesem Zusammenhang sei auch auf den Thread "Vollzug und Beschreibung" hier im Pragmatismus-Projekt hingewiesen; im dort zitierten Auszug aus SuM wird die "Anfänglichkeit" des Handelns, sein Vorrang vor der Theorie noch ausführlicher beleuchtet. - Hier in 8.2 geht es Janich darum, den Vorrang des Zuschreibens vor dem Beschreiben herauszuarbeiten.

"Empirisch bereitet es dagegen keinerlei Schwierigkeiten, eine Alltagspraxis des Zuschreibens als Anfang und Grundlage des Lehrens und Lernens von Handeln und Sprechen anzunehmen. Lehren und Lernen erfolgen in Verbindung mit auffordernden Sprechhandlungen." (ebd.) Damit erinnert Janich an eine für seine ganze Abhandlung grundlegende Voraussetzung, dass nämlich die assertorische, aussagende Rede - mit der sonst in logischen Einführungen begonnen wird - gar nicht die Basis von Sprache und Logik sei, sondern vielmehr die auffordernde Rede. Nicht das ("theoretische") Verhältnis Sprache-Welt, in dem der isolierte Sprecher vor "Objekten" steht, über die er spricht, ist die Grundlage unseres Sprachzugangs, sondern das Verhältnis Sprecher-Sprecher. Und dies ist insofern ein "praktisches" Verhältnis, als die sprachliche Aufforderung eine Handlung ist, auf die der Angesprochene wiederum handelnd antworten soll. (Ein elementares Merkmal von Handlungen ist es ja, dass man zu ihnen sinnvoll aufgefordert werden kann, während es sinnlos wäre, jemanden zum Niesen, Sich-Verschlucken, Stolpern oder Verdauen aufzufordern.)

Im vorliegenden Zusammenhang geht es um die auffordernde Rede beim elementaren Lernen:
Das heißt, in Situationen, in denen ein Lehrling und der Lehrer ihre Aufmerksamkeit auf dieselbe Sache richten, wird eine entsprechende Bezeichnung vorgetragen und nachgeahmt. Und meist folgt dann schon das Loben oder Tadeln, das Anerkennen oder Aberkennen des richtigen Nachsprechens und Anwendens, also das Zuschreiben von Leistungen im Sinne der Urheberschaft. Es ist also offenbar unstrittig, dass sprachliche und nichtsprachliche Handlungen gemeinschaftlich gelehrt und gelernt werden und dabei in einer unverzichtbaren Verbindung mit einer Sanktion, einem Zuschreiben oder Aberkennen durch den Lehrenden stehen, das Vorgeführte richtig oder falsch nachzuahmen.

S. 90f.
Janich paraphrasiert hier das Zuschreiben mit dem An- und Aberkennen, d.h. mit der bewertenden "Sanktion". Wie bereits bei Wittgenstein - und ähnlich beim pragmatistischen Robert Brandom - wird hier also die kommunikative Bewertung als eine konstitutive Bedingung für das persönliche Handlungsvermögen betrachtet. Das versteht sich nicht von selbst. Man könnte ja meinen, weil Handlungen immer von einer einzelnen Person, einem Individuum vollzogen werden, müsse auch das Handlungsvermögen etwas sein, das allein in diesem Individuum seinen "Sitz" und "Ursprung" habe. Gegenüber dieser sozusagen dem Subjekt "intrinsischen" Handlungsfähigkeit müsse doch das "Zurechnen" und "Zuschreiben" von Leistungen oder von Verantwortung äußerlich, "extrinsisch" bleiben. Es komme doch nicht darauf an, was einer Person von andern zugeschrieben oder unterstellt werde, sondern darauf, was diese Person wirklich sei und wirklich habe - also "an sich" oder "an ihr selbst".

Aber Pragmatisten wie Wittgenstein, Janich und Brandom gehen eben - wie bereits Hegel - von der grundlegend "sozialen" Verfasstheit menschlicher Personalität und Autonomie aus. Nur im kommunikativen Miteinander-Handeln kann ein menschliches Individuum seine Eigenständigkeit als verantwortlich handelnde Person, als "Urheber" erwerben. Die Praxis der Zuschreibung von Leistungen gehört mithin zu den ermöglichenden "Grundlagen" des individuellen Könnens.




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