Herder entdeckt die Welle - Taylor entdeckt die HHH-Theorie

Hier geht es einerseits um die Erörterung logischer Grundstrukturen in der Philosophie und andererseits um Sprachanalyse als philosophische Methode, Theorien der Referenz und Bedeutung, Sprechakttheorien u.ä.
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Nauplios

Di 1. Aug 2017, 21:07

"Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele
so frei würket, daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen,
der sie durch alle Sinnen durchrauschet, eine Welle,
wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die
Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann,
daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen
schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen,
sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde
freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen und sich
Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei."
(Johann Gottfried Herder; Ursprung der Sprache; S. 32)

1772 entdeckt Herder seine berühmte "Besonnenheit", veranschaulicht in nautischer Metaphorik von Ocean und Welle. Der Mensch - ein philosophisch-anthropologischer Aufmacher - beweist die nur ihm vorbehaltene Fähigkeit zur Reflexion, nämlich sich auf etwas besinnen zu können, dadurch, daß er aus dem ordnungslosen "Ocean der Empfindungen" und seinem Rauschen die einzelne Welle in "helle, ruhigere Obacht" nimmt und bei diesem "Bild" "freiwillig verweilen" kann. Die Phänomenologie mit ihrem "Bewußtseinsstrom" und ihrer intentionalen Gerichtetheit des Bewußtseins wird später, mit ähnlichen Mitteln der sprachlichen Veranschaulichung, die Fähigkeit zur Reflexion zu begründen versuchen. Auch Fritz Heider hat mit seiner Medium/Form-Unterscheidung einen ähnlichen Gedanken gehabt. Etwas ist strukturlos und ansprechbar erst in seinen Formen. Da Heiders Medium/Form-Differenz keine anthropologische Verengung und somit ein höheres "Auflöse- und Rekombinationspotential" besaß, war sie Jahrzehnte später für die Systemtheorie von Interesse. -

Ohne Scheu vor Herders anthropologischen Zutaten, macht sich dagegen Charles Taylor nun daran, das monumentale Projekt der Sprache mithilfe einer Rehabilitierung und Weiterentwicklung von Herders Gedanken der Besonnenheit und unter Rückblenden auf die Tradition der Deutschen Romantik und ihrer Wegbereiter, in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Denn seine "HHH-Theorie" setzt sich gerade in ihrer anthropologischen Ausrichtung ab von der dominierenden "HLC-Theorie" empiristischer und rationalistischer Provenienz. So heißt der Titel von Taylors jüngst auf deutsch erschienenem Werk: "Das sprachbegabte Tier". Und natürlich findet sich gleich zu Beginn auch das oben stehende Herder-Zitat. Was ist nun die "HHH-Theorie"? - Es ist diejenige Richtung, die in den 1790er Jahren von Hamann, Herder und Humboldt eingeschlagen wurde. Entsprechend steht die "HLC-Theorie" für Hobbes, Locke und Condillac. - Das ist verblüffend schlicht.




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Friederike
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Do 3. Aug 2017, 10:49

Gelesen habe ich den erstmals 1988 ins Deutsche übersetzten Aufsatz von Ch. Taylor, "Bedeutungstheorien", in dem er das Dreigestirn Herder, Humboldt, Hamann für den Entwurf einer, wie Taylor sie damals genannt hat, "romantischen" Bedeutungstheorie, herangezogen hat. Offenbar haben die 3 HHH ihn seither nicht mehr losgelassen, wenn nun jüngst aus der Vertiefung ihrer Ideen ein, wie kann es bei Taylor anders sein, schöner dicker Wälzer ("Das sprachbegabte Tier", Leseprobe) geworden ist. Lustig das Zusammentreffen von Begriff und Name. Joachim Schulte, den Übersetzer schätze ich sehr, weil ich über seine Interpretation mit Wittgensteins späterer Sprachphilosophie bekannt und vertraut geworden bin. Und da ich mir den Aufsatz heute nochmals vorgenommen habe, lese ich im letzten Abschnitt* einen der Begriffe (Lebensform), der zentral für das menschliche Sprachverstehen Taylors (und Wittgensteins) ist:
Wir können nicht begreifen, wie Wörter sich auf Dinge beziehen, wenn wir nicht das Wesen der Aktivität erfaßt haben, in der sie zu Dingen in Beziehung gesetzt werden. Hier wird das Argument weitergeführt und auf diejenigen Theoretiker angewandt, die sich in Freges Gewänder hüllen: wir können nicht begreifen, wie Sätze sich auf ihre Wahrheitsbedingungen oder Ausdrücke auf ihre Erfüllungsbedingungen bzw. ihre Behauptbarkeitsbedingungen beziehen, bevor wir die Natur der (gesellschaftlichen) Aktivität, die Lebensform, in der sie aufeinander bezogen werden, verstanden haben.

*Ch. Taylor, "Bedeutungstheorien", in "Negative Freiheit", Frankurt/M. 1992, S. 52 - 118, S. 117.




Nauplios

Do 10. Aug 2017, 19:26

Friederike hat geschrieben :
Do 3. Aug 2017, 10:49
("Das sprachbegabte Tier", Leseprobe)
Die Leseprobe zeigt u.a. auch die Umschlagabbildung: Caspar David Friedrich: Der Mönch am Meer; 1808/10. Nun ist ja dieses Werk von Friedrich zusammen mit der berühmten Abtei im Eichwald restauriert worden und hängt seit Anfang 2016 - nach drei Jahren Restauration - wieder in der Alten Nationalgalerie. Es soll weniger "melancholisch" wirken, die Farbe der Romantik, blau, kommt wieder mehr zum Vorschein. Die Anzahl der Möwen hat sich dadurch von 16 auf 20 erhöht. Die Originalausgabe von The Language Animal. The Full Shape of Human Linguistic Capacity erschien ebenfalls 2016; d.h. die Arbeit am Sprachbegabten Tier fällt damit womöglich in die Zeit der Restauration des Mönchs am Meer. - Zeigt uns der Umschlag die restaurierte Fassung? ;)

Die englische Originalversion zeigt auf dem Umschlag übrigens ein Bild von Cézanne: Die Terrasse im Garten bei Les Lauves. ;)

https://www.thegospelcoalition.org/arti ... age-animal




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Jörn Budesheim
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Friederike hat geschrieben :
Do 3. Aug 2017, 10:49
Gelesen habe ich den erstmals 1988 ins Deutsche übersetzten Aufsatz von Ch. Taylor, "Bedeutungstheorien", in dem er das Dreigestirn Herder, Humboldt, Hamann für den Entwurf einer, wie Taylor sie damals genannt hat, "romantischen" Bedeutungstheorie, herangezogen hat. Offenbar haben die 3 HHH ihn seither nicht mehr losgelassen, wenn nun jüngst aus der Vertiefung ihrer Ideen ein, wie kann es bei Taylor anders sein, schöner dicker Wälzer ("Das sprachbegabte Tier", Leseprobe) geworden ist. Lustig das Zusammentreffen von Begriff und Name. Joachim Schulte, den Übersetzer schätze ich sehr, weil ich über seine Interpretation mit Wittgensteins späterer Sprachphilosophie bekannt und vertraut geworden bin. Und da ich mir den Aufsatz heute nochmals vorgenommen habe, lese ich im letzten Abschnitt* einen der Begriffe (Lebensform), der zentral für das menschliche Sprachverstehen Taylors (und Wittgensteins) ist:
Wir können nicht begreifen, wie Wörter sich auf Dinge beziehen, wenn wir nicht das Wesen der Aktivität erfaßt haben, in der sie zu Dingen in Beziehung gesetzt werden. Hier wird das Argument weitergeführt und auf diejenigen Theoretiker angewandt, die sich in Freges Gewänder hüllen: wir können nicht begreifen, wie Sätze sich auf ihre Wahrheitsbedingungen oder Ausdrücke auf ihre Erfüllungsbedingungen bzw. ihre Behauptbarkeitsbedingungen beziehen, bevor wir die Natur der (gesellschaftlichen) Aktivität, die Lebensform, in der sie aufeinander bezogen werden, verstanden haben.

*Ch. Taylor, "Bedeutungstheorien", in "Negative Freiheit", Frankurt/M. 1992, S. 52 - 118, S. 117.
ich habe mir gerade die Leseprobe heruntergeladen und überlege sehr sehr stark, ob ich das Buch kaufe.




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Jörn Budesheim
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zwei sehr unterschiedliche Rezensionen werden hier angedeutet > https://www.perlentaucher.de/buch/charl ... -tier.html




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