Gibt es Fortschritte in der Philosophie?

Hier geht es um die Philosophie selbst, denn sie kann sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens machen - zum Beispiel: Was ist Philosophie? Was sind die Themen der Philosophie? Wie grenzt sie sich von anderen Disziplinen ab? ...
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Jörn Budesheim
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Mi 3. Jan 2024, 13:54

Gibt es Fortschritte in der Philosophie? Meine Antwort lautet ja. Dafür gibt es mindestens zwei einfache Gründe.

(01) Ein wichtiger Grund ist, dass wir mit jeder neuen Antwort die philosophischen Fragen, die wir uns stellen, und die philosophischen Begriffe, mit denen wir umgehen, besser verstehen und vertiefen. Ich glaube, es ist schwer vorstellbar, dass mehr als 2000 Jahre Philosophiegeschichte nur dazu führen, dass wir unseren Blick auf die Realitäten verengen, ich glaube, das Gegenteil ist der Fall.

(02) Darüber hinaus steht die Philosophie oft in engem Austausch mit anderen Disziplinen wie den Naturwissenschaften, der Mathematik, der Logik, den Religionen und den Künsten. Fortschritte in diesen Disziplinen können (müssen aber nicht notwendigerweise) auch Fortschritte in der Philosophie bedeuten.

(Ich kann mich noch gut an Zeiten erinnern, in denen man den Begriff des Fortschritts nur mit spitzen Fingern angefasst hat. Dass dies heute nicht mehr der Fall ist, könnte gegebenenfalls auch ein Fortschritt sein).




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Jörn Budesheim
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Mi 3. Jan 2024, 14:18

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 3. Jan 2024, 13:54
(02) Darüber hinaus steht die Philosophie oft in engem Austausch mit anderen Disziplinen wie den Naturwissenschaften, der Mathematik, der Logik, den Religionen und den Künsten. Fortschritte in diesen Disziplinen können (müssen aber nicht notwendigerweise) auch Fortschritte in der Philosophie bedeuten.
Wobei man hier vielleicht noch ergänzen sollte, dass die meisten Wissenschaften aus der Philosophie hervorgegangen sind.




Tishk
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Do 4. Jan 2024, 22:31

Diese Frage stelle ich mir oft....Ich denke es gibt Schritte in der Philosophie, aber Fortschritt würde ich es nicht nennen :D

Fortschritt bedeutet, dass wir einem Etwas näher kommen. Was kommen wir denn in der Philosophie näher? Gibt es Fragen, die endgültig beantwortet wurden und allgemein akzeptiert wird, so wie in der Mathematik oder Physik?
Weil Philosophie eben nicht so "linear" wie andere Wissenschaften ist, ist es schwierig einen allgemeinen "Fortschritt" zu verzeichnen. Vielleicht in den jeweiligen Teilgebieten, aber nicht generell.




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Jörn Budesheim
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Fr 5. Jan 2024, 08:33

Tishk hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 22:31
Diese Frage stelle ich mir oft...
Dann scheint es sich für Dich um eine philosophische Frage zu handeln, die nicht endgültig verneint oder bejaht werden kann. Denn sonst könntest du die Frage schließlich einmal stellen, beantworten und zu den Akten legen.




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Jörn Budesheim
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Tishk hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 22:31
Fortschritt bedeutet, dass wir einem Etwas näher kommen. Was kommen wir denn in der Philosophie näher?
Dazu habe ich in meinem Beitrag bereits andere Vorschläge gemacht. Fortschritt kann auch bedeuten, zu einem tieferen Verständnis der Fragen zu gelangen, die uns beschäftigen. (Oder überhaupt erst die richtigen, herausfordernden Fragen zu stellen, siehe weiter unten) Das kann zu einer weiteren Durchdringung der Begriffe führen oder erst die richtigen Begriffe hervorbringen, mit denen man hantiert.

(Es kann aber auch zu ganz neuen Fragen führen, z.B. zu der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit. Kant zum Beispiel war natürlich ein epochaler Fortschritt in der Philosophie, was sonst?)

Zudem profitiert die Philosophie vom Fortschritt der anderen Wissenschaften, die sich aus ihr entwickelt haben. Und umgekehrt können natürlich auch die anderen Wissenschaften von den Erkenntnissen der Philosophie profitieren.

Im parallelen Thread zum Thema "Multiple Realisierbarkeit" wurde mehrfach der Naturwissenschaftler Christof Koch zitiert. In einem Interview sagt er über Philosophen wie René Descartes, David Chalmers und John Searle, dass sie für ihn zum Fortschritt in der Erforschung des Bewusstseins gehören. John Searle zum Beispiel habe spannende Fragen gestellt, wie das Gedankenexperiment des chinesischen Zimmers, die den Verstand wirklich herausfordern, und er fügte sinngemäß hinzu: "Ich glaube, man sollte den besten philosophischen Fragen nachgehen, die gestellt werden. Die Antworten, die die Philosophen geben, sind vielleicht nicht immer überzeugend, aber die Fragen, die sie stellen, sind oft grundlegender, herausfordernder als die Fragen, die ein Biologe, Physiker oder Chemiker stellen würde".

Und natürlich hat er auch auf den historischen Zusammenhang von Philosophie und Wissenschaft hingewiesen: "Wenn man sich alle Wissenschaften anschaut, auch die älteste aller Wissenschaften, die Astronomie, so ist sie immer vor oder mit der Philosophie entstanden und aus der Philosophie hervorgegangen".

Zum Fortschritt kann man also, wie Koch meint, auch beitragen, indem man die richtigen, grundlegenden und herausfordernden Fragen stellt.
Tishk hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 22:31
"linear"
Für mich gibt es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Fortschritt und Linearität. Wie im wirklichen Leben können Umwege, Irrwege, Fehler usw. zum Fortschritt beitragen. Wer ein neues Narrativ, eine neue Argumentationsstrategie oder was auch immer einführt, trägt ggf. zum Fortschritt bei, auch wenn er am Ende scheitert.




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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim hat geschrieben : Gibt es Fortschritte in der Philosophie?
Tishk hat geschrieben :
Do 4. Jan 2024, 22:31
Vielleicht in den jeweiligen Teilgebieten, aber nicht generell.
Wenn es in Teilgebieten der Philosophie Fortschritt gibt, dann gibt es Fortschritt der Philosophie, finde ich.




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AufDerSonne
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Fr 5. Jan 2024, 09:23

Macht die Philosophie auch in dem Sinne Fortschritte, dass die Begriffe immer wie brauchbarer oder genauer werden?



Ohne Gehirn kein Geist!

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Jörn Budesheim
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Fr 5. Jan 2024, 10:48

Ich erinnere mich vage an eine Vorlesung von Richard Schröder, in der er gewissermaßen eine "empirische Begründung" dafür gab, dass es in der philosophischen Tradition, in der wir stehen, Fortschritte geben konnte. Das hatte mit vielen Dingen zu tun, unter anderem mit einer bestimmten geographischen Lage, die zu einer Konzentration von Handelswegen führte, so dass verschiedene Erzählungen, Sichtweisen und Theorien bekannt wurden. Es gab dafür eine gewisse Offenheit, weil es keine herrschende Kaste gab, die das Denken unterdrückte. Das ist natürlich nur das gröbste Muster, an das ich mich entsinne.

Kurze Rede, kurzer Sinn: Fortschritt hängt also mit einer gewissen Offenheit zusammen. Fortschritt ist hier wohl eher das Gegenstück zu Stillstand, statt zu Rückschritt.




Quasarkarotte
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Fr 5. Jan 2024, 15:31

Kann nicht alleine schon eine gute Frage als ein Fortschritt angesehen werden?

>> Wenn Du die richtigen Antworten finden willst, musst Du die richtigen Fragen stellen. <<
Vanessa Redgrave




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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim
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Scobel ist auch der Ansicht, dass es einen Fortschritt in der Philosophie gibt und er verknüpft ihn in ähnlicher Weise, wie es oben vorgeschlagen wurde, mit der Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen.




Artangriel
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Sa 20. Jan 2024, 07:12

Ist es nicht der größte Fortschritt in der Philosophie, wenn aus ihr eine neue Disziplin hervorgeht in der sie selber nur noch eine untergeordnete Rolle spielt?




Burkart
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Sa 20. Jan 2024, 09:58

Artangriel hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2024, 07:12
Ist es nicht der größte Fortschritt in der Philosophie, wenn aus ihr eine neue Disziplin hervorgeht in der sie selber nur noch eine untergeordnete Rolle spielt?
Tja, einerseits kann man es so sehen, dass sie sozusagen einen Teil ihrer selbst erfolgreich versachlicht hat, andererseits hat sie einen Teil quasi verloren bzw. ausgelagert wie z.B. die Psychologie.
=> Stimmt schon, insgesamt eine Erfolgsgeschichte.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Stefanie
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Mo 18. Mär 2024, 20:29

https://www.spektrum.de/kolumne/warkus- ... ie/2210509
Der Skandal der Philosophie?
Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen befasst sich die Philosophie seit Jahrtausenden mit den gleichen Fragen. Ist sie damit gescheitert? Fünf mögliche Antworten von unserem Kolumnisten.

Einer der gängigsten Vorwürfe an die Philosophie ist, dass sie auf der Stelle trete, um sich selbst kreise, sich immerzu wiederhole. Naturwissenschaften und technische Fächer machen rasend schnell Fortschritte(...)

Was hat die Philosophie dagegen vorzuweisen? Es lässt sich kaum bestreiten, dass bestimmte Kernprobleme, mit denen sie sich beschäftigt, seit Jahrtausenden dieselben sind und man nicht feststellen kann, dass sie gelöst und ad acta gelegt werden wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Während in der Humanbiologie zum Beispiel niemand mehr anzweifelt, dass der Mensch einen Blutkreislauf hat oder Infektionskrankheiten durch Bakterien, Viren und andere mit bloßem Auge nicht sichtbare Pathogene hervorgerufen werden, setzt sich die Philosophie bis heute etwa damit auseinander, was existiert, was Gut und Böse unterscheidet und ob der Mensch einen freien Willen hat. Zeigt sich hier also nicht ein skandalöses Scheitern?
Es gibt mehrere Möglichkeiten, auf diesen Vorwurf zu reagieren, von denen ich einige nennen möchte – die Liste ist allerdings keineswegs abschließend.
(...)

Damit in Zusammenhang steht eine fünfte Möglichkeit, mit dem »Skandal der Philosophie« umzugehen – eine elegante und nach meinem persönlichen Empfinden durchaus plausible. Dieser Ansatz behauptet, dass, gerade weil sich die Welt und die Menschen fortwährend ändern und damit auch die Stile des Denkens, Sprechens und Schreibens innerhalb und außerhalb der Philosophie, bestimmte Probleme immer neu diskutiert, bestimmte Begriffe immer wieder neu hergeleitet werden müssen. Der britische Philosoph Peter F. Strawson hat dies in der berühmten Einleitung seines Buchs »Einzelding und logisches Subjekt« aus dem Jahr 1959 formuliert, allerdings bezogen auf Metaphysik und nicht das Fach als Ganzes: »Denn obgleich der zentrale Gegenstand der deskriptiven Metaphysik derselbe bleibt: Die kritische und analytische Sprache der Philosophie ändert sich fortwährend. Beständige Verhältnisse werden in einer unbeständigen Sprache beschrieben, die einerseits das geistige Klima der Zeit, andererseits den persönlichen Denkstil des individuellen Philosophen widerspiegelt.«

Wenn sich dies verallgemeinern lässt, dann besteht die Aufgabe der Philosophie ganz oder zumindest zu großen Teilen darin, als ein Kanal zu fungieren, durch den bestimmte unabänderliche Verhältnisse immer wieder neu beschrieben werden, um sie immer wieder anders tickenden Zeitaltern von Neuem verständlich zu machen. Probleme als gelöst zu archivieren wäre dann gar nicht möglich.
Insofern macht die Philosophie durchaus Fortschritte.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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Di 19. Mär 2024, 08:18

Versuch einer Zusammenfassung:
  1. Philosophie als Zeitverschwendung: Philosophie wird gänzlich abgelehnt und als nutzlos betrachtet.
  2. Radikale Neuorientierung: Die bisherige Philosophie wird als gescheitert angesehen und eine neue, "wissenschaftliche" Philosophie angestrebt.
  3. Philosophie als Nicht-Wissenschaft: Philosophie wird nicht als Wissenschaft, sondern als Lebenspraxis oder Religionsalternative betrachtet.
  4. "Unsichtbare" Fortschritte: Die Philosophie macht Fortschritte, die nicht als Lösungen erkennbar sind, sondern z.B. in der Verfeinerung von Begriffen und Argumenten liegen.
  5. Kontinuierliche Neuorientierung: Die Philosophie passt sich den Veränderungen der Welt und des Denkens ständig an, indem sie zentrale Probleme und Begriffe immer wieder neu beleuchtet.
Zu (5) Von Nietzsche gibt es den schönen Satz: "Der Mensch ist das noch nicht festgestellte Tier". Entsprechend schwierig ist es, endgültige Feststellungen über dieses Tier zu treffen. (Außer eben auf der Metaebene...) Ein Punkt dabei ist der folgende: Dem Mond dürfte es egal sein, was die Naturwissenschaftler über ihn denken und was sie über ihn herausgefunden haben, er ist, wie er ist, als vierdimensionales Gebilde. In der Philosophie und in der Selbstreflexion des Menschen ist das etwas anders: Wie wir über uns denken, verändert oft, wie wir sind, so dass die Reflexion immer auch ihren Gegenstand verändern kann.

Zu (1) Zeitverschwendung muss nicht unbedingt negativ verstanden werden, finde ich. Muße zum Beispiel ist eine sehr angenehme Form der Zeitverschwendung. Paul Feyerabend hat seine Autobiografie "Zeitverschwendung" genannt, ich kenne das Buch nicht, aber es würde mich sehr wundern, wenn der Titel nur negativ zu verstehen wäre :-)

Ich finde, man kann Philosophie auch einfach als Lebensmittel betrachten :-)




Wolfgang Endemann
Beiträge: 11
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

Fr 26. Apr 2024, 16:48

Man kann die Frage "gibt es Fortschritt in der Philosophie?" schon biologistisch beantworten. Alle Tiere stehen unter dem Druck zur Anpassung, sie sind autopoietische Systeme, die Fortschritte machen, bis sie optimal angepaßt sind, ein stabiles Gleichgewicht gefunden haben. Da aber hauptsächlich das belebte Universum keine stabile Größe ist, bleibt immer die Notwendigkeit der Nachjustierung, die meisten Arten sind gezwungen, sich weiterzuentwickeln (= zum Fortschritt gezwungen). Die Evolution definiert das Vor und gelegentliche Zurück. Beim Menschen ist das kognitive Organ extrem entwickelt, es ist nicht nur das wirkungsvollste Mittel zur Anpassung, sondern es befähigt, die Umwelt im Eigeninteresse umzuwandeln, der Mensch paßt sich nicht nur an die Umwelt an, sondern paßt auch weit mehr als andere hochentwickelte Tiere die Umwelt sich an. Damit bildet er einen selbsterzeugten Zwang und macht den Fortschritt zur Daueraufgabe. Die kulturelle Entwicklung definiert, was vorne heißt. In diesem Sinn unterliegt der Mensch à la longue allgemein und ganz speziell einem kognitiven und noch spezieller einem philosophischen Fortschrittszwang. Das beantwortet allerdings nicht, worin der zukünftige Fortschritt besteht.




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