Unterschiedliche Lösungsansätze

Hier geht es um die Philosophie selbst, denn sie kann sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens machen - zum Beispiel: Was ist Philosophie? Was sind die Themen der Philosophie? Wie grenzt sie sich von anderen Disziplinen ab? ...
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Stefanie
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Mi 14. Nov 2018, 21:28

Eine grundsätzliche Frage, zu der mir schon kein passender Betreff einfiel.

Die Philosophie hat verschiedene Teilgebiete. Sind hier im Forum abgebildet.
Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ontologie, Logik, Analytik, Phänomenologie etc.

Viele Themen und Fragen werden durch und in allen Teilgebieten bearbeitet, und dies durchaus unterschiedlich.
Es entstehen auch unterschiedliche Ergebnisse. Meine ich jedenfalls.
Beispiel: das Thema Denken.
Logik, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, was denn nun?
Beim Selbstbewusstsein, ähnlich.

Die Ansätze sind so unterschiedlich, dass ich mich frage, wie können die Fragen, Was ist Denken?, oder Was ist Selbstbewusstsein je beantwortet werden können.
Ist das eine Frage des persönlichen Geschmacks, welcher Ansicht gefolgt wird?

Wie führt man diese unterschiedlichen Ansätze zusammen? Es kann doch nicht sein, dass Philosoph A in der Logik zu einem Ergebnis kommt, welches mit dem Ansatz von Philosoph B im Bereich der Phänomenologie herzlich wenig gemein hat.



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scilla
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Mi 14. Nov 2018, 23:54

wenn die Philosophie so betrieben wird,
als ob es keine Zersplitterung gäbe,
kann ein hohes philosophisches Niveau nahezu alles erklären

ein derartiger Philosoph wird nur dann alternative Sichtweisen gelten lassen,
wenn diese aus einem ihm völlig fremden Kulturkreis kommen
(denn dort könnte es ja weitergehende Erkenntnis geben)

wenn man dagegen von Vorneherein eine Zersplitterung annimmt,
ist ein nicht-verstehen-Können vorprogrammiert
(und man achtet dann eben auf Unwesentliches)




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Jörn Budesheim
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So 18. Nov 2018, 16:31

Stefanie hat geschrieben :
Mi 14. Nov 2018, 21:28
Es kann doch nicht sein, dass Philosoph A in der Logik zu einem Ergebnis kommt, welches mit dem Ansatz von Philosoph B im Bereich der Phänomenologie herzlich wenig gemein hat.
Warum nicht? Alle oder fast alle mentalen Zustanden haben dies beiden Aspekte - wir haben in verschiedenen Zusammenhängen darüber diskutiert: die phänomenalen Aspekt und den intentionalen. Natürlich ist das nichts strikt getrenntes. Indem ich etwas erlebe, richte ich mich auf etwas. Diese verschiedenen Aspekte (des selben) können verschiedene Disziplinen verschieden untersuchen. Wobei eine logische Untersuchung andere Schwerpunkte hat als eine phänomenale. Kann auch sein, dass der eine Bereich dichter an den Denkakte ist, wahrend der andere allgemeine logisch/begriffliche Strukturen betrachtet.

Natürlich hat das nicht grundsätzlich "herzlich wenig" gemein, denn die beiden Bereiche gehören am Ende vielleicht auch zu einem Forschungsprogramm.




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Stefanie
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So 18. Nov 2018, 20:28

So ganz klar ist mir das nicht.
Es ist mit Sicherheit so, dass auch meine Fragestellung nicht ganz klar ist...weil ... anders kann ich es gerade nicht beschreiben.

Wenn die Logik oder die Analytik oder die Sprachwissenschaft eine Formel oder eine Sprachsystematik, Satzsystematik für das Selbtbewusstsein entwickeln, dann müsste diese doch auf die Ansichten, die aus z.B. aus der Metaphysik oder Ontologie stammen, anwendbar sein, oder nicht? Beide behandeln doch den identische Gegenstand.

Der Ansätze von Frege und Arendt zum Denken könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie schreiben aber über das Identische, Denken. Beide Ansätze müssten sich doch jeweils durch den anderen abbilden lassen. Tun sie aber nicht.

Ich habe es noch mal mit Rödl versucht...und aufgegeben. Wenn ich diesen Text gelesen habe, weiß ich zwar, was Selbstbewusstsein analytisch und sprachwissenschaftlich ist, aber was Selbstbewusstsein denn nun wirklich ist, weiß ich immer noch nicht. Es beschreibt die Form, die Hülle, aber nicht den Inhalt an sich.

Erstaunlich fand ich bei der Recherche zum Thema Denken, dass Frege und Popper beide ein drei Welten Modell entwickelt haben, was sich ziemlich ähnelt.. nur sie wenden es unterschiedlich an.

Rödl und Arendt verwenden für ihre Philosophie beide das Ödipus Beispiel und ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse. Auch eine Haus Beispiel haben beide zu bieten.

Ich finde das irgendwie erstaunlich. Als ob jeweils über was anderes geschrieben wird.



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Jörn Budesheim
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Mo 19. Nov 2018, 05:29

Ist es mit Physik, Chemie, Biologie, Soziologie, Philosophie und Kunst ... nicht ganz ähnlich? Wenn diese über den Menschen forschen, dann kommen doch auch ganz verschiedene Dinge heraus.




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Friederike
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Mo 19. Nov 2018, 14:54

Stefanie hat geschrieben :
So 18. Nov 2018, 20:28
Wenn die Logik oder die Analytik oder die Sprachwissenschaft eine Formel oder eine Sprachsystematik, Satzsystematik für das Selbtbewusstsein entwickeln, dann müsste diese doch auf die Ansichten, die aus z.B. aus der Metaphysik oder Ontologie stammen, anwendbar sein, oder nicht? Beide behandeln doch den identischen Gegenstand.
Eine persönliche Anmerkung: Deine Überlegungen erinnern mich öfter daran, das am Anfang der Philosophie das Staunen steht. Und wenn ich Deine Frage nachvollziehe, dann finde ich auf einmal auch, daß es höchst seltsam ist, in wie getrennten Welten die Teil-Disziplinen zu leben scheinen.
Stefanie hat geschrieben : Ich habe es noch mal mit Rödl versucht ... und aufgegeben. Wenn ich diesen Text gelesen habe, weiß ich zwar, was Selbstbewusstsein analytisch und sprachwissenschaftlich ist, aber was Selbstbewusstsein denn nun wirklich ist, weiß ich immer noch nicht. Es beschreibt die Form, die Hülle, aber nicht den Inhalt an sich.
Rödl hatte ich auch nicht vergessen. Aber jeder neuerliche Versuch, egal, welche Seite ich aufblättere, endet bei mir in einem gequälten "Nein". Vielleicht sollten wir wagen, ohne Rückgriff auf Mead, Hegel, Heidegger, Wittgenstein, ganz unbefangen :lol: zu überlegen, was das "Selbstbewußtsein denn nun wirklich ist".




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Stefanie
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Mo 19. Nov 2018, 19:09

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 19. Nov 2018, 05:29
Ist es mit Physik, Chemie, Biologie, Soziologie, Philosophie und Kunst ... nicht ganz ähnlich? Wenn diese über den Menschen forschen, dann kommen doch auch ganz verschiedene Dinge heraus.
Stimmt schon, nur sind das jeweils eigenständige Wissenschaften. In der Philosophie ist das anders, hier sind unterschiedliche Bereiche unter einem Dach.

Während in es in der Biologie, Chemie, Physik und auch Mathematik ziemliche viele Schnittstellen gibt, die auch genutzt werden, um gemeinsam zu einem Ergebnis zu kommen, wo sind denn die Schnittstellen in der Philosophie? In der Disziplin Philosophie denken die Teilbereiche alleine vor sich hin. So mein Eindruck. Interdisziplinäres arbeiten gibt es das?



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Stefanie
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Do 28. Mai 2020, 23:20

Ich versuche mal zu erklären, warum ich gerade mal wieder irritiert bin, wie bei subjektiv und objektiv. Und ausserdem ist diese Frage des Threads für mich immer noch nicht abgeschlossen, weil die Frage noch nicht geklärt ist.

Wir Menschen sind sehr komplex, um es mal so zusagen. Es werden viele Fragen gestellt, der Mensch stellt sich viele Fragen.
Wie ist unsere Stellung zur Welt, wie die Welt zu uns, was ist die Welt, Leben, Tod, wer bin ich, Wahrheit, Vernunft, Verstand, Tatsachen, objektiv, subjektiv, Gefühle, usw. Unser Verhältnis zu uns und anderen. Also die gesamten Themen der Philosophie, von A-Z.
Wenn für einen Themenkomplex eine Theorie entwickelt wurde, stellt sich die Frage, gelten diese Thesen dann auch für andere Themenkomplexe.
Entwerfe ich eine Konzept für objektiv subjektiv in einem Bereich, muss dieser dann auch für andere Bereiche gelten, ist es also ein Konzept, stringent von A-Z aufeinander aufbauend, unabhängig von unterschiedlichen sagen wir mal Lebenswelten?
Oder mache ich lauter Schubladen, jede für sich in sich geschlossen, und streng sortiert, in die eine Wahrheit, in die andere Bewusstsein, in die andere Gefühle, in die andere Vernunft usw. Ohne Verbindung zueinander.
Oder sage ich, o.k. ich habe hier den Bereich der Gefühle und Empfindungen, hier den Bereich der Sprache, hier den Bereich der Dinge, hier die Logik, das logische Denken usw. und frage, ist das was ich zur Wahrheit und Tatsachen entwickelt habe, auch für den Bereich Empfindungen, Gefühle passend.
Die Frage, macht der Baum ein Geräusch, wenn er umfällt, wenn niemand da ist, ist eine andere Fragestellung, als was ist schmerzempfinden, subjektiv, objektiv oder beides. Es ist ein Unterschied, ob ich Kriterien für die Logik entwickel, oder ob es um Gefühle geht. Kann man Gefühle mit einer philosophischen, logische Formel erklären?
Einerseits ist der Mensch und seine ihm umgebende Welt sehr komplex, und im Grunde nicht einzelnd zu betrachten, und alles hängt zusammen, was bei A passiert, kann sich bei Z noch auswirken.
Andererseits ist es nicht doch ein Unterschied, ob ich den Wahrheitsgehalt eines Satz untersuche, oder den Wahrheitsgehalt einer Empfindung (nicht die Aussage über eine Empfindung).

Versteht wahrscheinlich keiner so richtig was ich meine, macht nichts.



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Nauplios
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Fr 29. Mai 2020, 03:21

"Unterschiedliche Lösungsansätze"

Gelöst werden vorzugsweise Probleme, manchmal Rätsel. Favorisiert werden dabei solche Lösungen, die den Anspruch auf Endgültigkeit erheben, also mehr als nur Ansätze offerieren. Im Lösungsansatz klingt die Hoffnung an, daß es beim Ansatz nicht bleiben muß, derweil der Plural unterschiedlicher Lösungsansätze diese Hoffnung eintrübt, ist doch jene Unterschiedlichkeit schon Zeichen für einen Mangel an Einheitlichkeit. -

Das Philosophieren als Suche nach Lösungen zu denken, unterstellt als selbstverständlich, daß Lösungen sich zu allen Zeiten als Ergebnisse von Problembehandlungen verstanden haben und immer noch verstehen, was im Falle des "Vergessens" in die Verlegenheit führt, auf Antworten die Fragen suchen zu müssen.

Für dieses Problem gibt es unterschiedliche Lösungsansätze. ;) Einer könnte darin bestehen, die systematische Perspektive um eine historische zu ergänzen. Die "Komplexität" der Frage nach "dem Menschen" und seinem Welt- und Selbstverhältnis, die Du ansprichst, Stefanie, findet ihre Ursache nämlich u.a. auch darin, daß diese Verhältnisse historisch gewachsene sind. - Eine rein systematische Betrachtung der "Stellung des Menschen zur Welt", oder der Frage was die "Welt" ist oder das "Leben", das "Ich" oder die "Wahrheit" oder die "Vernunft" blendet die historischen Vorgeschichten aus, die das Verständnis all dieser Großkonzepte bedingen. Die Welt und die Wirklichkeit, die Stellung des Menschen in der Welt und sein Selbstverständnis - mal zoon politikon, mal cogito, mal Dasein ... - sind ja das Ergebnis geschichtlicher Verläufe und Texturen.

Im Wurzelwerk der Geschichten vom Menschen und seinen Bedrängnissen durch "Leben" und "Tod", seiner Kunst des Überlebens, ist das methodische Paradigma das Verstehen. "Interdisziplinäres Arbeiten" heißt hier, daß die Philosophie in Sichtkontakt zur Literatur und Kunst steht.




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Jörn Budesheim
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Sa 30. Mai 2020, 07:16

Nauplios hat geschrieben :
Fr 29. Mai 2020, 03:21
Eine rein systematische Betrachtung der "Stellung des Menschen zur Welt", oder der Frage was die "Welt" ist oder das "Leben", das "Ich" oder die "Wahrheit" oder die "Vernunft" blendet die historischen Vorgeschichten aus, die das Verständnis all dieser Großkonzepte bedingen. Die Welt und die Wirklichkeit, die Stellung des Menschen in der Welt und sein Selbstverständnis - mal zoon politikon, mal cogito, mal Dasein ... - sind ja das Ergebnis geschichtlicher Verläufe und Texturen.
Martin Heidegger hat geschrieben : Das Selbst-Sein ist der schon im Suchen liegende Fund.
Martin Heidegger weist hier, meines Erachtens, auf eine überhistorische Invariante hin. Dass der Mensch nach sich selbst fragt, ist nicht das Ergebnis geschichtlicher Verläufe, sondern stößt geschichtliche Verläufe, die Geistesgeschichte erst an. Die systematische Perspektive wird hier nicht um eine historische ergänzt, gleichsam als kontingente Zutat, sondern macht verständlich, wieso es geschichtliche Verläufe überhaupt geben musste.




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Alethos
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Sa 30. Mai 2020, 10:36

Nauplios hat geschrieben :
Fr 29. Mai 2020, 03:21
Das Philosophieren
Sehr schön, dass du geschrieben hast.



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Nauplios
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In der Schultradition der Phänomenologie gibt es das sogenannte Anthropologie-Verbot. Heidegger spricht deshalb in Bezug auf den Menschen vom "Dasein". Das Dasein hat eine "ontische Auszeichnung", d.h., daß ihm "mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist". (Sein und Zeit; S. 11) - Diese Erschlossenheit des Daseins für das Dasein selbst bringt Heidegger auf die Formel: "Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist". - Entscheidend ist für Heidegger, daß das Dasein nicht von der Art eines bloßen Vorhandenseins ist. Im Unterschied zum Vorhandensein kann sich das Dasein zu sich selbst verhalten, sich "entwerfen". - In Heideggers Theoriearchitektonik ist das Dasein eingebunden in eine Fundamentalontologie.

"Das Selbst-sein ist der schon im Suchen liegende Fund." (Beiträge zur Philosophie ; S. 398) - In dem unauffälligen, deshalb im Original kursiv gesetzten "im" liegt - fast möchte man sagen - ein Wink: das Selbst kann sich nicht verlieren. Es ist unhintergehbar. Wolfram Hogrebe spricht deshalb von einem "transzendentalperformativen" Verstehen: "Unser Verstehen unter der Bedingung szenischen Existierens ist nun auch 'transzendentalperformativ' in dem Sinne, daß wir uns selbst vor Ort (on the spot), auch unter Unwissen, immer schon gefunden haben. Wenn wir in der Tat Intentionalität als stehendes mentales Muster akzeptieren müssen, hat sich in diesem Suchvektor der Intentionen, wie fehlbar diese auch sein mögen, unser Selbst nie verloren, sondern ist darin vorintentional präsent. Heidegger hat das später so ausgedrückt: 'Das Selbst-sein ist der schon im Suchen liegende Fund'." (Wolfram Hogrebe; Riskante Lebensnähe; S. 63)

Während Hogrebe auf das Finden im "Fund" abzielt, was ja als "transzendentalperformatives" eigentlich ein Immer-schon-Gefundenes ist, legt Markus Gabriel den Akzent auf das "Suchen", welches nach seinem Verständnis das Verlorensein gerade voraussetzt:

"Der Mensch weiß nicht, wer er ist. Er beginnt mit der Suche. Menschsein bedeutet, sich auf der Suche danach zu befinden, was der Mensch ist. Heidegger hat dies besonders zugespitzt formuliert: 'Das Selbstsein ist der schon im Suchen liegende Befund.' Damit wir uns suchen können, müssen wir uns verloren haben." (Markus Gabriel; Warum es die Welt nicht gibt https://books.google.de/books?id=wgaaAw ... nd&f=false

Markus Gabriel nimmt an anderer Stelle ein weiteres Mal Bezug auf den Heidegger-Satz:

"Fiktionen lassen sich nicht endgültig einhegen, weil sie Ausdruck unseres geistigen, freien Lebens sind, dessen historische, variable Selbstbestimmung niemals ein für alle Mal überblickt werden kann. Die formale, nicht ihrerseits historisierbare Invariante der Genese von Fiktionen ist der Geist als das menschliche Vermögen der Selbstbildfähigkeit. Der Mensch lebt sein Leben im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist. Heidegger drückt diesen Gedanken in den Beiträgen zur Philosophie prägnant so aus: 'Das Selbst-Sein ist der schon im Suchen liegende Fund.'" (Markus Gabriel; Fiktionen ; https://books.google.de/books?id=tJW2Dw ... nd&f=false

Hieß es in Warum es die Welt nicht gibt noch, daß der Mensch "nicht weiß, wer er ist", lebt der Mensch in den Fiktionen nun sein Leben "im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist". - Für beide Thesen muß Heidegger herhalten.

(An der ersten Stelle zitiert Gabriel ein "Selbstsein", an der zweiten ein "Selbst-Sein"!)

"Jemand zu sein, bedeutet paradigmatisch, sich ein variables Bild davon zu machen, wer man ist und wer man sein will" heißt es in den Fiktionen weiter. Es ist jene "historische und variable Selbstbestimmung", von der oben die Rede war als Eigenart unseres "geistigen, freien Lebens". Voraussetzung dafür ist das "menschliche Vermögen der Selbstbildfähigkeit"; diese ist natürlich "nicht historisierbar". Der Mensch verfügt über das Vermögen, sich Bilder von seinem Selbst zu machen. Das ist die "formale Invariante". Diese variable Selbstbestimmung ist sogar so variabel, "daß sie niemals ein für alle Mal überblickt werden kann". -

Heidegger geht es um Fundamentalontologie. Sein "Dasein" unterliegt natürlich keiner historischen Veränderung. (Mein Eindruck ist, daß Gabriel in Warum es die Welt nicht gibt das "Selbstsein" in seinem ontologischen Status mißversteht als ein Sich-verloren-Haben, während er in Fiktionen dem "Selbst-Sein" ein Licht aufgehen läßt, nämlich jenes "Licht der Vorstellung", welche der Mensch hat von dem, "wer oder was er ist".) - Die variablen Bilder jedoch, die sich der Mensch von sich macht, angeregt von seinem "Geist" als invariantes "Vermögen der Selbstbildfähigkeit" (Blumenberg-Leser sehen diesen Geist, der sich "in seinen Bildern selbst voraus ist und sich im Mut zur Vermutung seine Geschichte entwirft" bereits vor ihrem geistigen Auge) sind es, die ich einer Historischen Anthropologie - also einem Mehrfachverstoß gegen das phänomenologische Anthropologie-Verbot - überantworten möchte. Eine solche Anthropologie hätte es genau mit jenen Selbstbildern, Selbst- und Weltverhältnissen und ihren historischen Veränderungen zu tun, von denen Gabriel als "historische, variable Selbstbestimmung" spricht.

Daß der Mensch nach sich selbst fragt, stößt geschichtliche Verläufe an, die Anlaß dafür sind, daß der Mensch nach sich selbst fragt. Oder mit Blumenberg: Die Rezeption der Quellen schafft die Quellen der Rezeption. ;)




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 10:52
Hieß es in Warum es die Welt nicht gibt noch, daß der Mensch "nicht weiß, wer er ist", lebt der Mensch in den Fiktionen nun sein Leben "im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist". - Für beide Thesen muß Heidegger herhalten.
Gabriel nennt diesen Gedanken Neo-Existentialismus. Diese Idee findet sich in verschiedenen Ausprägungen in Philosophiegeschichte. Gabriel entwickelt seine Gedanken immer in Auseinandersetzungen mit herausragenden Ideen seines Fachs, von der Antike bis zur Gegenwart. Hier zwei Beispiele:

"Hegel drückt dies so aus: 'Der Geist ist nur, wozu er sich macht; er ist Tätigkeit, sich zu produzieren, sich zu erfassen.'"

Der Begriff der »geistigen Freiheit«, den ich entwickeln werde, knüpft an den von Jean-Paul Sartre (1905–1980) so genannten »Existenzialismus« an. Sartre hat in seinen philosophischen und literarischen Werken ein Bild der Freiheit gezeichnet, dessen Ursprünge in der Antike liegen und dessen Spuren in der französischen Aufklärung, bei Immanuel Kant, dem Deutschen Idealismus (Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel), Karl Marx, Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und weit darüber hinaus zu finden sind. In der Gegenwartsphilosophie wird diese Tradition vor allem im Namen von Kant und Hegel in den USA vorangetrieben, wobei aber auch Kierkegaard und Nietzsche eine Rolle zugewiesen wird. Vor Albert Camus und Sartre weicht man bisher aus. Ich nenne diese Namen hier nur als Repräsentanten einer ihnen gemeinsamen Idee. Diese Idee nenne ich den »Neo-Existenzialismus«, um anzuzeigen, dass sie in einer zeitgemäßen Form ohne den Ballast auskommen muss, der ihr bei den genannten Denkern anhaftet. Der Neo-Existenzialismus behauptet, dass der Mensch insofern frei ist, als er sich ein Bild von sich selber machen muss, um überhaupt erst jemand zu sein. Wir entwerfen Selbstporträts von uns, wer wir sind, sein wollen und sein sollen und orientieren uns an diesen in der Form von Normen, Werten, Gesetzen, Institutionen und Regeln verschiedener Art. Wir müssen uns selber deuten, um überhaupt eine Vorstellung davon zu haben, was wir tun sollen. Dabei entwickeln wir unvermeidlich Werte als Orientierungspunkte.

(Markus Gabriel, in Ich ist nicht Gehirn)




Nauplios
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 13:09
Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 10:52
Hieß es in Warum es die Welt nicht gibt noch, daß der Mensch "nicht weiß, wer er ist", lebt der Mensch in den Fiktionen nun sein Leben "im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist". - Für beide Thesen muß Heidegger herhalten.
Gabriel nennt diesen Gedanken Neo-Existentialismus. Diese Idee findet sich in verschiedenen Ausprägungen in Philosophiegeschichte. Gabriel entwickelt seine Gedanken immer in Auseinandersetzungen mit herausragenden Ideen seines Fachs, von der Antike bis zur Gegenwart.
Ja, das schon und es gehört ja auch zu den Gepflogenheiten akademischer Philosophie, daß das philosophische Denken der Gegenwart sich in Auseinandersetzungen mit der philosophischen Tradition entwickelt, aber das ein und dasselbe Zitat (von Heidegger) zwei Thesen (von Gabriel) stützen sollen, deren zweite das Gegenteil der ersten ist, ist - bemerkenswert.

"Der Mensch weiß nicht, wer er ist." (Warum es die Welt nicht gibt)

"Der Mensch lebt sein Leben im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist." (Fiktionen)




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Alethos
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Der Mensch weiss nicht, wer er ist in dem Sinne, dass er nicht auf eine Gebrauchsanweisung referenzieren kann, in der steht: "So bist du!" Aber er weiss doch, dass er jemand ist (und damit so!), weil er im Zuge einer existenzialistischen Performierung eine Vorstellung davon entwickelt, dieser Jemand zu sein.

So würde ich diesen Widerspruch bei Gabriel auflösen?



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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 13:31
... aber dass ein und dasselbe Zitat (von Heidegger) zwei Thesen (von Gabriel) stützen sollen, deren zweite das Gegenteil der ersten ist, ist - bemerkenswert.

"Der Mensch weiß nicht, wer er ist." (Warum es die Welt nicht gibt)

"Der Mensch lebt sein Leben im Licht einer Vorstellung davon, wer oder was er ist." (Fiktionen)
Ach, verstehe. Ich bin ehrlich gesagt überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass man meinen könnte, dass die eine These das Gegenteil der anderen ist. Sprachlich ist es sicherlich auch nicht so. Ein Beispiel: Als ich 20 war wusste ich sicherlich nicht, was es heißt Vater zu sein, ich hatte aber dennoch eine gewisse Vorstellung davon, wenn auch die falsche.

Das erste Zitat gehört ja zu einem Kontext, in dem Gabriel sich eine fiktive Geschichte über den Beginn der Geistesgeschichte ausdenkt. Die ersten Menschen erwachen in dieser Geschichte (nicht etwa aus ihrem dogmatischen sondern) aus dem animalischen Schlummer. Und sie fragten sich "Was soll das Ganze?" "Warum jagen wir diese Tiere?" "Warum sind wir hier?" die Geistesgeschichte beginnt mit dieser Irritationen, dass man plötzlich nicht mehr weiß, was das soll, dass die eigene Existenz in diesen ganzen Drumherum fragwürdig wird. "Der Mensch weiß nicht wer ist" und daher macht er sich Vorstellungen, die weit über seinen Erfahrungshorizont hinausgehen von einem Ganzen, in dem er in irgendeiner Form einen Platz findet, mit anderen Worten, man macht Metaphysik.

Aber die Antwort auf diese Frage steht nicht fest. (Alethos hat das ja bereits dargelegt.) Deswegen wird sie auch immer wieder anders und neu beantwortet. Der Mensch bestimmt sich selbst immer wieder neu. Und das heißt schließlich Freiheit, selbstbestimmt zu sein. Etwas bestimmen, hat ja diese Doppeldeutigkeit: wir bestimmen, dass dies ein Fliegenpilz ist. Und wir bestimmen, was zu tun sein wird. Die Selbstbestimmung hat von beiden Aspekten etwas. Sie ist kein reines Erfinden und kein reines Finden. Und sie geschieht natürlich auch nicht im luftleeren Raum, weil wir ja schließlich zu der Geschichte dazu gehören, in der wir dann wieder selbst unseren Ort finden müssen.




Nauplios
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Sa 30. Mai 2020, 18:23

Die beiden Textstellen von Gabriel sind Internetfunde; deswegen auch die Links, weil die Seitenzahlen dort nicht angezeigt wurden. Daß "der Mensch" nicht gleichzeitig eine Vorstellung davon haben kann, "wer er ist" und "nicht weiß, wer er ist" lag für mich auf der Hand. ;) Ich habe beide Stellen nicht weiträumig eingesehen. Nimmt man den Faktor Zeit hinzu, läßt sich der vermeintliche Widerspruch natürlich entfalten, so daß "der Mensch" zu einem Zeitpunkt x (ob nun biographisch oder historiographisch)) natürlich nicht weiß, wer er ist (Erwachen aus dem "animalischen Schlummer"), während er zum Zeitpunkt y eine Vorstellung davon haben kann.

Es liegt damit natürlich die Frage in der Luft, ob ein Erwachen (etwa aus dem "dogmatischen Schlummer") sich dem ersten Erwachen nicht noch anschließt und ob es noch weitere Erwachen gibt. Was der Mensch über sein Selbst- und Weltverhältnis weiß, ob er ein "Subjekt" ist oder ein "nicht festgestelltes Tier", ob er einen (griechischen) kosmos über sich hat oder einen christlichen "Himmel", ob er sich von einer fürsorgenden Instanz als "Geschöpf" eingesetzt glaubt oder von einem Demiurgen getäuscht wähnt oder einfach nur in eine "Welt" durch einen Zufall "geworfen" denkt oder ob ihm die Welt gänzlich abhanden kommt oder er ihr ... all das unterliegt geschichtlichen Umständen.

Blickt man allein von möglichen "Lösungen" für mögliche "Probleme" auf das Treiben der Philosophie, fahren im Windschatten dieser Perspektive schnell Präsuppositionen mit, welche die Sehkraft dieses Blickes eintrüben und für die es kaum einen Impfstoff gibt, weil alles Philosophieren dann als Problemlösen erscheint - eine Auffassung, die ja auch in der Philosophie vertreten wird. -




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 18:23
Daß "der Mensch" nicht gleichzeitig eine Vorstellung davon haben kann, "wer er ist" und "nicht weiß, wer er ist" lag für mich auf der Hand. ;) Ich habe beide Stellen nicht weiträumig eingesehen. Nimmt man den Faktor Zeit hinzu, läßt sich der vermeintliche Widerspruch natürlich entfalten, so daß "der Mensch" zu einem Zeitpunkt x (ob nun biographisch oder historiographisch)) natürlich nicht weiß, wer er ist (Erwachen aus dem "animalischen Schlummer"), während er zum Zeitpunkt y eine Vorstellung davon haben kann.
Ich finde auch ohne zeitlichen Abstand haben wir hier keinen Widerspruch. Das kann sich jeder an sich selbst klar machen. Ich weiß nicht, wer ich bin. (Man müsste klären, was damit überhaupt gemeint sein kann.) Aber ich habe natürlich natürlich durchaus verschiedene Vorstellung, wer ich bin und sein möchte.




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Jörn Budesheim
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Ebenso verhält es sich meines Erachtens bei der Frage "was ist der Mensch?" wenn ich sie beantworten soll. Ich würde keineswegs sagen, dass ich weiß, was der Mensch ist, einfach weil die Frage viel zu viele Aspekte umfasst. Natürlich auch, weil ich zweifle, dass die Frage sich letztgültig beantworten lässt. Ich denke, auch naturwissenschaftlich ist die Frage nicht näherungsweise geklärt.

Dennoch habe ich natürlich gewisse Vorstellung, was der Mensch ist und sein sollte.




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Jörn Budesheim
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Nauplios hat geschrieben :
Sa 30. Mai 2020, 18:23
Blickt man allein von möglichen "Lösungen" für mögliche "Probleme"
Karl Popper und Ludwig Wittgenstein sind bei einem legendären Aufeinandertreffen darüber in Streit geraten, ob es genuin philosophische Probleme gibt oder nicht. Der Wittgenstein dieser Zeit vertrat bekanntermaßen die Ansicht, dass sich alle "Probleme" dieser Art nicht lösen, sondern auflösen lassen. Ein bekannter Buchtitel von Popper hingegen lautet: "Alles Leben ist Problemlösen".

Ob Wittgenstein dabei Popper tatsächlich mit einem Schürhaken bedroht hat? Die Ansichten der Augenzeugen scheinen darüber auseinander zu gehen...




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