Weiterkommen in der Philosophie

Hier geht es um die Philosophie selbst, denn sie kann sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens machen - zum Beispiel: Was ist Philosophie? Was sind die Themen der Philosophie? Wie grenzt sie sich von anderen Disziplinen ab? ...
Nauplios
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Sa 19. Sep 2020, 18:40

Stefanie hat geschrieben :
Do 17. Sep 2020, 21:17

Geht es jetzt um die Fragestellung Weiterkommen in der Philosophie, oder um den Neuen Realismus? Bei letzteren bin ich raus, dazu habe ich mit damit zu wenig beschäftigt.
Jovis hat geschrieben :
Do 17. Sep 2020, 21:53

Ich bin begeistert von diesem thread, auch wenn ich nichts beitragen kann, solange es um den Neuen Realismus geht.
Ich bin, was das Beitragsquantum betrifft, für die Einführung einer Frauenquote. ;)

Ich bin auch etwas überrascht über die Bereitwilligkeit, mit der die Abstinenz vom Threadgeschehen offeriert wird. Deshalb erlaube ich mir den zarten Hinweis - der nicht als Kritik überbewertet werden soll - , daß die Themen einer Diskussion immer auch das Ergebnis aktiver Teilnahme ist. Wer das Feld frühzeitig räumt oder gar nicht erst betritt, überläßt es anderen zur Bestellung. Also ich will uns jetzt keine Gender-Debatte aufnötigen, aber ein Fortschritt ist mit der jetzigen Quotierung auch nicht verbunden. ;)




Nauplios
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Sa 19. Sep 2020, 19:31

Alethos hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 14:34
Weiterkommen - was heisst das? Weiter als was? Wahrscheinlich heisst es, weiterzukommen als das Erreichte. Gut.

Wir sind Kinder der Aufklärung. Das Mittelalter gilt den meisten als das dunkle Zeitalter. Dass in diesen 700-900 Jahren Mittelalter weniger Menschen starben wegen religiösen Konflikten als in de Zeit der Aufklärung, während der französischen Revolution etwa oder bei Exekutionen durch die Hand von machtbewussten Beamten in Hexenprogromen, das ist wohl kein Fortschritt im Sinne eines Bessermachens als zuvor. Dass wir im
20. Jahrhundert zigmillionen Menschen in den Tod schickten für Vaterland und Ehre, das ist wohl kein Fortschritt verglichen mit dem friedlichen Koexistieren in neolithischer Zeit, als wir uns gelegentlich mit der Keule
eins über die Rübe zogen, wenn das Fleisch knapp wurde. Ohnehin war die Jagd mit Speer und Schleuder weit ethischer als die Massentötung durch automatisierte Genickschüsse am Laufband.

Nicht das Neue ist besser als das Vorherige, bloss, weil es das Neue ist. Und das gilt für alles, wovon wir glauben, dass es gut ist, bloss weil es heute ist. Ist Multikulturalität besser bloss, weil es ein Phänomen der Neuzeit ist? Nein, wenn es besser ist, dann doch, weil wir darin etwas Gutes sehen. Aber gut, das ist es nicht von selbst, sondern weil wir davon Betroffene und überzeugt sind, dass es das ist.

Wir. Wir sind aber andere als die von gestern und übermorgen. Nicht bessere oder schlechtere, bloss andere. Das, was uns gut schien, das muss ihnen als künftig Betroffene nicht gut scheinen.
Was nun ist an diesem sogenannt Guten objektiv gut? Was bringt uns dazu zu glauben, dass das Gute und Schlechte in der Sache selbst liegt? Denn das heisst moralischer Realismus, dass das Gute real
ist. Nun aber real für wen?
Und ist das, was der von der Realität des Guten Betroffene über dieses Sosein des Guten denkt, irrelevant für das Sosein des Guten? Was um
Himmelswillen wollen wir den mit einer moralischen Realität anfangen, wenn sie nicht uns alle je einzeln betreffen soll und wie wollte sie uns betreffen, wenn nicht wir es wären, die diese moralische Realität je befördern? Durch unsere Meinungen und Ansichten. Durch unsere Emotionen und politischen Motivationen.

Es kann nicht anders sein, als dass das Gute ein Vielklang all unserer Bestrebungen ist, es besser zu machen, ohne aber wissen zu können, was denn nun das Bessere ist. Denn das Gute ist veränderlich, immerzu etwas Anderes.
Ich sehe die Sache mit dem Fortschritt so wie Du, Alethos. Natürlich ist es ein Fortschritt, daß man Operationen heute unter Narkose ausführen kann, daß wir dank technischer Vorkehrungen weniger Unfälle im Straßenverkehr haben, daß eine Reise nach New York heute nicht mehr sechs Wochen dauert ... Der Fortschritt hat aber eben auch seine ambivalenten Seiten. Nicht alle "Errungenschaften" dienen ausschließlich der "friedlichen Nutzung". -

Es braucht weiteren Fortschritt, um die Weltmeere vom Plastik zu befreien, um den Verkehr umweltfreundlicher zu gestalten ... Klimaveränderungen, Wassermangel ... Die wissenschaftlich-technische Entwicklung hat dem Menschen Möglichkeiten eröffnet, die sich vor 150 Jahren niemand vorstellen konnte. Wir sehen heute auch die Schattenseiten dieses Fortschritts, die ihrerseits weiteren Fortschritt erfordern. -

Die Philosophie hat es mit diesen Veränderungen natürlich auch zu tun. Die Lebenswelt der Menschen ändert sich. Und da die Philosophie es u.a. auch mit dem Selbst- und Weltverhältnis des Menschen zu tun hat, ist sie betroffen von technischen Neuerungen und naturwissenschaftlichem Fortschritt. - Doch ist die Philosophie selbst keine Wissenschaft, zumindest nicht in meinem Verständnis. Sie kann nicht als Leitwissenschaft form- und zielbestimmend die "gesellschaftliche Entwicklung" steuern. Was gut für "die Gesellschaft" ist, was jetzt zu tun ist, wissen die Philosophen nicht. Das "Weiterkommen" umfaßt nicht mehr als das stete Interpretieren der menschlichen Situation des In-der-Welt-Seins. - Zu diesem In-der-Welt-sein wird künftig wohl auch der Umgang mit dem gehören, was unter dem Titel der künstlichen Intelligenz läuft. Für die Metaphorologie ist hier womöglich ein Paradigmenwechsel im menschlichen Selbstverständnis beobachtbar - vielleicht vergleichbar der kopernikanischen Wende. Die Philosophie muß das nicht steuern, sie muß uns davor nicht bewahren. Es ist einfach nur eine weitere Station im langen Prozeß humaner Selbstbeschreibung. Insofern teile ich Deine Zuversicht und auch die von @Burkart, was die Künstliche Intelligenz betrifft. -




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Jovis
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Sa 19. Sep 2020, 19:56

Nauplios hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 18:40
Ich bin, was das Beitragsquantum betrifft, für die Einführung einer Frauenquote. ;)

Ich bin auch etwas überrascht über die Bereitwilligkeit, mit der die Abstinenz vom Threadgeschehen offeriert wird. Deshalb erlaube ich mir den zarten Hinweis - der nicht als Kritik überbewertet werden soll - , daß die Themen einer Diskussion immer auch das Ergebnis aktiver Teilnahme ist. Wer das Feld frühzeitig räumt oder gar nicht erst betritt, überläßt es anderen zur Bestellung. Also ich will uns jetzt keine Gender-Debatte aufnötigen, aber ein Fortschritt ist mit der jetzigen Quotierung auch nicht verbunden. ;)
:lol:

Ich kann hier nur für mich sprechen: Ich kann ganz gut eine Weile einfach nur mal zuhören, wenn das Thema so interessant ist, ich hatte dabei nicht das Gefühl das Feld zu räumen. Warum sollte ich eine spannende Diskussion unterbrechen? Wäre doch schade gewesen. Ich hatte aber weder Zeit noch Lust mich soweit in das Thema einzuarbeiten, dass ich etwas hätte beitragen können.

Mir ging beim Lesen manchmal Adornos "Dialektik der Aufklärung" durch den Kopf, aber auch hierfür fehlt mir gerade die Konzentration, um das genauer auszuführen. Wird vertagt. ;)




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Stefanie
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Sa 19. Sep 2020, 20:02

Solange es um den neuen Realismus geht, kann ich nichts beitragen. Mir hat sich dieses Gebiet, insbesondere Gabriel noch nicht erschlossen. Vielleicht gibt es irgendwann sowas wie neuer Realismus für dummies, oder sowas in der Art. Mehr sagt mein Beitrag nicht aus.
Ich erlaube mir den Luxus, mich ausserhalb meines beruflichen Umfeldes mit Themen quer Beet zu befassen, die mich interessieren und die mich eingefangen haben. Ich habe heute Nachmittag das einzelzeitfahren bei der Tour de France sehr interessiert verfolgt, da war die Philosophie abgemeldet.

Zum technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt und zu den Naturwissenschaften braucht es ein Gegengewicht.
Dazu zähle ich, welch Überraschung, das Recht und die Geisteswissenschaften. Also vor allem Geschichte, Kunst- und Kulturwissenschaften ( wobei die Kunstwissenschaft einem schon mal das interesse an der Kunst verleiden kann) und die Philosophie. Wer sonst könnte dies. Wenn sie nicht stehen bleibt, insofern sind Philosophen wie z.B. Gabriel wichtig, der nichts anderes macht, wie so manch anderer Philosoph vor ihm, nämlich altes neu zu denken. Was davon in Jahrzehnten übrig bleibt, wird von uns wahrscheinlich keiner mehr mitbekommen.
Wir Menschen sind mehr als nur die MINT Fächer.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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So 20. Sep 2020, 15:52

Jovis hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 19:56

Mir ging beim Lesen manchmal Adornos "Dialektik der Aufklärung" durch den Kopf ...
Stefanie hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 20:02

Zum technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt und zu den Naturwissenschaften braucht es ein Gegengewicht.
Dazu zähle ich, welch Überraschung, das Recht und die Geisteswissenschaften. Also vor allem Geschichte, Kunst- und Kulturwissenschaften ( wobei die Kunstwissenschaft einem schon mal das interesse an der Kunst verleiden kann) und die Philosophie.
Vorab: ich fordere keine Rechenschaft. ;)

"Dialektik der Aufklärung" und das "Gegengewicht zum technisch-naturwissenschaftlichen Fortschritt" - beides fügt sich ein in eine philosophische Tradition der Kritik, d.h. da ist ein Fortschrittsgedanke implementiert, der bei Adorno und Horkheimer zwar nur noch sehr schwach durchschimmert, aber letztlich auch da auf eine Einhegung des "falschen" Fortschritts durch "richtigen" Fortschritt hinausläuft. Ja gut, ich will das jetzt nicht weiter vertiefen. Danke für die Rückmeldung. -




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Jovis
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So 20. Sep 2020, 16:02

Wir haben es hier ja mit zwei Themen zu tun (Gabriel ausgeklammert), erstens dem philosophischen Weiterkommen und zweitens dem moralischen, rechtlichen, wissenschaftlichen … Fortschritt. Jörn hatte gleich anfangs nach Beispielen der ersten Art auch einige Beispiele der zweiten Art geliefert, als Gegenargumente gegen meine Fortschrittsskepsis. Diese Beispiele waren so gut gewählt, dass man eigentlich gar nicht ausdrücklich beteuern muss, dass man für Fortschritte dieser Art ist, auch wenn Alethos einige relativiert hat.

Fortschritt hat aber mehr als eine Facette. Er ist nicht nur der strahlende Weg in eine immer bessere Zukunft. Nauplios hat es schon erwähnt: Manche Fortschritte brauchen wir inzwischen dringend (Klima, Armut, Ressourcenknappheit), weil es vorher Fortschritte gegeben hat, die sich im Nachhinein als vorsichtig ausgedrückt zwiespältig herausgestellt haben – Goethes Zauberlehrling lässt grüßen. Mit der Erfindung des Plastiks wurde ein billiger, haltbarer, vielseitig einsetzbarer Werkstoff gefunden, der nun bis in den letzten Winkel der Erde gelangt und den wir nicht wieder loswerden. Die Massenproduktion von Kleidung oder von Fleisch, die eine Erhöhung des Lebensstandards in der „westlichen“ Welt zur Folge hatte, führt inzwischen zu unhaltbaren Zuständen in den Textilfabriken der „Dritten“ Welt und in den Fleischfabriken. Technische Geräte für jedermann in immer schnellerem „Innovations“-Rhythmus landen auf giftigen Schrotthalden in Afrika. Ein Auto für möglichst jedes Familienmitglied, immer größer, immer stärker – und was machen wir jetzt gegen den Feinstaub in den Städten? – Solche Beispiele für Fortschritt gibt es halt auch, und daher rührt meine Skepsis.

Was das Weiterkommen in der Philosophie anbelangt:
Stefanie hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 20:02
[…] insofern sind Philosophen wie z.B. Gabriel wichtig, der nichts anderes macht, wie so manch anderer Philosoph vor ihm, nämlich altes neu zu denken.
Da ich nichts von Gabriel kenne, hätte ich so etwas nicht schreiben können, aber dran gedacht hatte ich auch schon, denn das ist ja eine bekannte Beschreibung aus der Philosophiegeschichte, dass die Themen sich im Grunde seit den alten Griechen nicht geändert haben, sondern nur immer wieder den neuen Zeiten angepasst wurden. Ist das nun ein Weiterkommen? Ja und nein. Ich kenne mich in Philosophiegeschichte nicht so aus, aber zumindest bei Descartes und Kant würde ich allerdings vermuten, dass hier tatsächlich etwas Neues in die Philosophie eingebracht worden ist. Wie grundlegend sich aber ein Neuer Realismus vom alten und von anderen philosophischen Strömungen unterscheidet, vermag ich nicht zu beurteilen.




Nauplios
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So 20. Sep 2020, 17:32

Ja, die Fortschritte in den Fragen des Klimawandels, der Ressourcenknappheit, Corona usw sind solche, gegen die wohl in unserem Kreis hier niemand Einspruch erheben würde. Das ist dann eine Frage der politischen Diskussion und schließlich auch der politischen Machtverhältnisse, ob ein Land aus der Kohleverstromung aussteigen will (und wie schnell) oder ob ein Land aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigt. - Die Philosophen nehmen am politischen Meinungsbildungsprozeß natürlich teil.

Die entscheidende Frage ist dann: Haben sie als Philosophen eine vorzügliche oder gar exklusive Einsicht in das, was politisch jetzt notwendig und richtig ist? - Man könnte sagen (und eine Tradition innerhalb der Philosophie sagt das auch): Ja, das haben sie. Der Grund: es ist ihre Profession, das moralisch Gute zu wissen; sie wissen, worin der moralische Fortschritt besteht. - Dann brauchen die Philosophen einen Platz am Kabinettstisch. Das läuft dann - in irgendeiner Form - auf die "Philosophenherrschaft" hinaus. Natürlich nicht so wie bei Platon, aber das Paradigma bleibt. -

Was befähigt die Philosophen als Philosophen zu solch' exklusiven Erkenntnissen? - Jörn würde vielleicht sagen: die Wahrheit. - Schaut man sich die letzten Stunden in der KI-Diskussion an oder seinerzeit die Debatte um die Schönheit oder die um das Sein/Seiende vor einigen Wochen oder die um die Blumenberg'sche Unbegrifflichkeit oder um "subjektiv/objektiv" oder um die Unreinheit der Zeit ... was auch immer man nimmt: was ist jeweils in all diesen Punkten die Wahrheit? - Und was man hier im Kleinen beobachten kann, zeigt sich im Großen bei sehr vielen Fragen der Philosophie, insbesondere bei den "großen Fragen". Und zu diesen "großen Fragen" gehört dann auch die Frage nach dem moralischen Fortschritt. - Würde die Welt wirklich besser, wenn die Philosophen die "Könige" wären? - Obschon ich nicht im Verdacht stehe, etwas gegen die Philosophie zu haben, wäre meine Antwort: nein. - ;)




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So 20. Sep 2020, 19:38

Stefanie hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 20:02

Was davon in Jahrzehnten übrig bleibt, wird von uns wahrscheinlich keiner mehr mitbekommen.
Das ist ein wichtiges Momentum bei der Frage nach dem Fortschritt in der Philosophie. Es weist nämlich auf einen Zeitverzug in der geistesgeschichtlichen Entwicklung hin. Heute hören wir musikalische Kompositionen mit "anderen Ohren" als vor hundert Jahren. Was damals "Skandal" war (etwa manche Uraufführung von Arnold Schönberg), ist heute "Klassik der Moderne". Nun ist aber an unseren Ohren gar nichts anders als 1920. Wir hören ein akustisches Arrangement; letztlich Schwingungen im Raum, die wir physikalisch dezidiert aufschlüsseln können. Auch manche bildende Kunst sehen wir heute mit "anderen Augen", ebenso lesen wir den Ulysses von James Joyce heute "anders". Auch das platonische Höhlengleichnis lesen wir heute "anders" ... - Frequenzen, Farben, Texte ändern sich ebenso wenig wie unser Hör- und Sehvermögen; es ändert sich - mit zeitlichem Verzug - unsere Sicht, unser Abstand, unsere Perspektive, unsere Zeitgenossenschaft, unsere Beschreibungsparameter, unsere Interpretationen, unsere Erfahrung, unser naturwissenschaftliches Wissen, unsere Metaphorik, unser Geschmack, unser Verständnis.

Was uns als Wirklichkeit gilt, ist nicht mehr das, was der Antike als wirklich galt. Es ist der Zeitverzug oder hermeneutisch gesprochen die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, welche unseren "Blick" verändert. Was jedoch noch kaum Wirkungsgeschichte hat, ist in seiner Wahrheit kaum zu beurteilen. Philosophen verfahren ja nicht wie Naturwissenschaftler, die unter festgelegten Laborbedingungen bei einem Experiment immer wieder ein ganz bestimmtes Ergebnis erzielen, die dann im Forscherkreis dieser Naturwissenschaft als vorläufig richtig, als Popper'sche falsifizierbare "Hypothese" o.ä. anerkannt und wahr gilt. - Das Nachleben philosophischer Gedanken in deren Wirkungsgeschichte, der Zeitverzug ("was davon in Jahrzehnten übrig bleibt") ist etwas ganz Entscheidendes. - Wenn ein Philosoph sagt: "Ich weiß, was das moralisch Richtige ist. Vertraut mir einfach und macht, was ich sage!" dann spricht gerade der Zeitverzug für Skepsis. -

Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern für eine zurückhaltende, vorsichtige und zögernde "Nachdenklichkeit", worin als Nach-denklichkeit der Zeitverzug schon eingearbeitet ist. Doch es geht einerseits um Zeitverzug, andererseits um Zeitdruck. Denn der Mensch muß Entscheidungen treffen ohne absolute Maßstäbe des Richtigen zu haben. Er kann nicht ewig warten. Aber er kann zögern. Das Vermögen dieses Zögerns heißt Vernunft. Es befähigt ihn dazu, sich im Provisorischen einzurichten - bis auf weiteres.




Nauplios
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Di 22. Sep 2020, 15:54

Alethos hat geschrieben :
Do 17. Sep 2020, 20:48

Zudem fände ich es wichtig fürs Forum, dass es ein Gleichgewicht der Kräfte gibt, dass sich eine Atmosphäre der Offenheit, des gegenseitigen Verständisses bildet, in der sich verschiedene Ansichten entfalten können. Es sind ja primär Menschen, die hier schreiben, und nicht Repräsentanten einer ideologischen Front. Und es sind gelegentlich vielleicht nur am Rande philosophisch Interessierte, die sich spielerisch auf philosophischen Boden wagen. Ihnen sollten wir das Gefühl zu vermitteln versuchen, dass sie willkommen sind und dass ihre ersten Gehversuche hier nicht ein Gang vor den Philosophenrichter bedeuten. Aber das bedeutet auch, dass wir es vermeiden sollten, den Vorstössen hier die Beine mit dem argumentativen Einhänder abzuhacken. Lassen wir auch Raum für Irrtümer, gerade auch für jene, die wir für solche halten.
Schaut man auf die letzten Schlußsequenzen im KI-Thread ("es hat einfach keinen Sinn" ... "ich sehe mich außerstande, Dir das zu vermitteln" ... "Du liest nicht richtig ..." ... "Du klingst wie ein Jörn II" ...) oder auch hier ("ich werde hier nicht mehr schreiben"), dann sind das nach meiner Beobachtung Hinweise für einen Zustand der Erschöpfung, der Ratlosigkeit und der Entmutigung. Es folgt eine Art Lockdown, an den sich irgendwann wieder eine Kommunikationsofferte anschließt, die dann alsbald in eine erneute Phase der Überhitzung mündet. - Solche Verläufe sind inzwischen fast schon die Regel. - Deshalb sollte man den Hinweis von Alethos nicht vorschnell in den Wind schlagen. -




sokrates_is_alive
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Sa 26. Sep 2020, 17:58

Stefanie hat geschrieben :
Sa 19. Sep 2020, 20:02
Zum technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt und zu den Naturwissenschaften braucht es ein Gegengewicht.
Dazu zähle ich, welch Überraschung, das Recht und die Geisteswissenschaften. Also vor allem Geschichte, Kunst- und Kulturwissenschaften ( wobei die Kunstwissenschaft einem schon mal das interesse an der Kunst verleiden kann) und die Philosophie.
Hier würde ich weitergehen: es braucht nicht nur ein Gegengewicht, sondern eine Ergänzung, eine zweite Seite. Beide für sich allein, sind in der heutigen Zeit unfertig. Spannend fand ich die Unterscheidung "Recht" und "Geisteswissenschaft". War diese Trennung beabsichtigt? Oder rechnest Du nur bestimmte Teile der Rechtswissenschaft als geisteswissenschaftlich ? Aber zurück zum eigentlichen Thema. Technischer/ naturwissenschaftlicher Fortschritt bzw. die Naturwissenschaften werfen nicht nur Fragen der Verantwortung für das Machbare auf, ihre Erkenntnisse stellen auch die Herausforderung nach Bedeutungen für unser Weltverständnis dar und was dies für die Lebenspraxis bedeutet. Ein praktisches Beispiel: Die Fortschritte in der Medizin werfen Fragen auf wie z.B. wie verändere ich durch lebenserhaltende Transplantationen das Selbstbild des Patienten, wann spreche ich noch von Leben, wie gewichte ich das Leben der Mutter gegenüber dem des ungeborenen Kindes. In anderen Disziplinen ist ein philosophischer Kontext nicht ganz so offensichtlich, aber es sind gerade die spannendsten Unterhaltungen zwischen Wissenschaftlern und Philosophen, leider scheint mir der deutschsprachige Raum dem amerikanisch-angelsächsischen da hinterherzuhängen. Exemplarisch sei das Projekt "Bridging the divide - philosophy meets science" in Cambridge genannt. Oder die Behauptung von Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt (insofern würde ich Deiner Kritik, dass Gabriel nur bereits Bekanntes noch einmal denkt, widersprechen). In der Tat wird aber der Dialog zwischen Philosophie und Naturwissenschaften immer schwieriger, je mehr von einer vermeintlichen Mehrheit behauptet wird, die Welt bestehe nur aus Formeln, Mathematischen Konzepten und Computer I/0, letzteres betitelt Rebekka Reinhard in "Hohe Luft" Heft 6/2020 so herrlich als "verblödete Vernunft". Sie urteilt dort ebenfalls zutreffend im Kontext des Internets: "Der moderne Mensch hält viel von aufgeklärter Vernunft, nicht aber von umständlichen ,Selbstdenken´". Wie können wir das ändern?



"Der Teufel ist ein Optimist. Er glaubt, er könnte die Menschen schlechter machen." (nach Karl Kraus) :roll:

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Sa 26. Sep 2020, 19:07

sokrates_is_alive, herzlich willkommen im Forum!




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Jovis hat geschrieben :
So 20. Sep 2020, 16:02
Fortschritt hat aber mehr als eine Facette. Er ist nicht nur der strahlende Weg in eine immer bessere Zukunft.
sokrates_is_alive hat geschrieben :
Sa 26. Sep 2020, 17:58
Die Fortschritte in der Medizin werfen Fragen auf wie z.B. wie verändere ich durch lebenserhaltende Transplantationen das Selbstbild des Patienten
Guter Punkt! Fortschritte in einem Bereich, sagen wir in der Medizin können verspielt werden, wenn sie nicht mit Fortschritten in anderen Bereichen, sagen wir z.b. "der" Philosophie "koordiniert" werden. Hierzu ein Zitat von Gernot Böhme aus seinem Buch "Leib".
Gernot Böhme hat geschrieben : Ich habe in einer älteren Studie gezeigt, wie sich das am Wissen um Geburtshilfe durch die Klinisierung der Geburt und die Unterordnung der Hebammen unter die Gynäkologen verändert hat. Damit war bereits eine Änderung der sozialen Stellung der Hebammen verbunden, aber auch ihres Wissenstyps und ihrer Ausbildung. War ursprünglich eine Hebamme eine ältere, erfahrene Frau – lange wurde sogar vorausgesetzt, dass sie selbst geboren haben müsse, ihr Wissen also Erfahrungswissen war und die Geburt für sie ein natürlicher Vorgang, der Arzt wurde nur im Fall einer Komplikation hinzugezogen –, war also das Hebammenwissen ursprünglich lebensweltliches Erfahrungswissen, so wurde die Hebamme Schritt für Schritt zu einer technischen Assistentin des Gynäkologen. Damit veränderte sich auch die Sicht auf den Geburtsvorgang selbst, er wurde nun als ein naturwissenschaftlich erkannter und steuerbarer Prozess gesehen.
Das heißt, wir haben hier auf der einen Seite einen sehr begrüßenswerten Fortschritt, eine Zunahme des Wissens eines Typs, aber auf der anderen Seite werden "im Gegenzug" ältere Formen des Wissens, die von großem Wert sind, wieder vergessen, was ein Rückschritt ist. Hier wäre es aus meiner Sicht ein Fortschritt, wenn man die verschiedenen Verständnisse, dessen was der Mensch ist, besser zusammen denken könnte.




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sokrates_is_alive hat geschrieben :
Sa 26. Sep 2020, 17:58
In der Tat wird aber der Dialog zwischen Philosophie und Naturwissenschaften immer schwieriger, je mehr von einer vermeintlichen Mehrheit behauptet wird, die Welt bestehe nur aus Formeln, Mathematischen Konzepten und Computer I/0
Ich denke, das sehe ich ganz ähnlich. Hier ein Beispiel: Bei dem Symposium "nature after nature" erläuterte der Journalist, Biologe und Philosoph Cord Riechelmann, dass er im Biologie-Studium zunächst einmal “lernte”, dass Biologie nicht wirklich eine harte Naturwissenschaft sei, denn das gelte nur für die Physik. Nach meiner Vorstellung basieren manche Formen von Fortschrittsgläubigkeit genau darauf, nämlich der Idee, dass wir es mit einer einheitlichen Wirklichkeit zu tun haben, die letztlich vollständig (und allein mit) mit physikalischen Mitteln zu erklären ist, auch wenn wir heute noch nicht dort sind, aber vielleicht irgendwann im goldenen Zeitalter.

Ich würde es für einen Fortschritt halten, wenn man gemeinhin bestimmte Formen der Fortschrittsgläubigkeit hinter sich lassen könnte :)




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So 27. Sep 2020, 07:04

Jovis hat geschrieben :
So 20. Sep 2020, 16:02
Fortschritt hat aber mehr als eine Facette. Er ist nicht nur der strahlende Weg in eine immer bessere Zukunft. Nauplios hat es schon erwähnt: Manche Fortschritte brauchen wir inzwischen dringend (Klima, Armut, Ressourcenknappheit), weil es vorher Fortschritte gegeben hat, die sich im Nachhinein als vorsichtig ausgedrückt zwiespältig herausgestellt haben – Goethes Zauberlehrling lässt grüßen. Mit der Erfindung des Plastiks wurde ein billiger, haltbarer, vielseitig einsetzbarer Werkstoff gefunden, der nun bis in den letzten Winkel der Erde gelangt und den wir nicht wieder loswerden. Die Massenproduktion von Kleidung oder von Fleisch, die eine Erhöhung des Lebensstandards in der „westlichen“ Welt zur Folge hatte, führt inzwischen zu unhaltbaren Zuständen in den Textilfabriken der „Dritten“ Welt und in den Fleischfabriken. Technische Geräte für jedermann in immer schnellerem „Innovations“-Rhythmus landen auf giftigen Schrotthalden in Afrika. Ein Auto für möglichst jedes Familienmitglied, immer größer, immer stärker – und was machen wir jetzt gegen den Feinstaub in den Städten? – Solche Beispiele für Fortschritt gibt es halt auch, und daher rührt meine Skepsis.
Das würde ich so ähnlich beschreiben wie weiter oben. Es gibt zwar auf der einen Seite große Fortschritte in dem, was technisch möglich ist. Und auf der anderen Seite haben "wir" anscheinend keine gute Vorstellung von den vielen Wirklichkeiten in und vor allem von denen wir leben. Zudem hängt einiges davon vermutlich mit gewissen rassistischen Vorstellungen zusammen...




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Jovis hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 19:42
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 15. Sep 2020, 05:42
Man sollte zwei Dinge nicht miteinander vermischen: den Fortschritt und wie man ihn erreicht.
Warum nicht?
Das bezieht sich auf das folgende Zitat von dir:
Jovis hat geschrieben :
So 13. Sep 2020, 20:42
Zu den „Gegenbegriffen“ Stillstand und Rückschritt: Beide halte ich im Prozess des Philosophierens für unbedingt notwendig.
Und als Bild dazu habe ich das Gedicht von Jandl gebracht:

Der Knabe und die Straßenbahn
(Ernst Jandl)

Immer fährt so ein kleiner
rothaariger Knabe
auf dem Trittroller neben
der Straßenbahn her.
Plötzlich dreht er und fährt
in die andere Richtung
und weiß auf einmal
genau, was er tun muß,
um die Straßenbahn zu überholen,
auch wenn er bloß ein kleiner
rothaariger Knabe
auf dem Trittroller ist.




Timelaios
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Mo 28. Sep 2020, 18:19

Ich lese z.zT. das interessante, aber recht umfangreiche: "Resonanz - eine Soziologie der Weltbeziehung" von Hartmut Rosa im stw (5.Aufl. 2020), der u.a. in der Tradition von J.Habermas und Th.W.Adorno Kommunikationstheorie weiterdenkt. Da steckt, wie der Untertitel verrät, ein globaler, konstruktiver Fortschrittsbegriff mitdrin.




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Jörn Budesheim
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Mi 4. Nov 2020, 19:17



Ich bin jetzt ungefähr bei der Hälfte und finde es sehr empfehlenswert! Das Interview startet exakt mit dem Punkt, der letztlich in diesem Thread geführt hat, nämlich eine Herangehensweise an die Philosophie bei der es sowohl ums Kritisieren als auch ums Bewahren geht.

Gegen Schluss geht es - wenn man so will - auch um den moralischen Fortschritt :)




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