Re: Wolken gucken
Verfasst: Sa 12. Sep 2020, 17:08
Na ja, die Entgegensetzung muss nicht immer ganz so diametral sein, aber ich denke schon, dass es sich hier nicht nur um eine begriffliche Abhängigkeit handelt, sondern auch um eine reale. Würde ich meinen Zustand als "glücklich" fühlen können, wenn ich nie einen anderen kennengelernt habe? Das ist doch wie bei anderen qualitativen Sachen auch, die sich nur durch den wechselseitigen Bezug ergeben - hell/dunkel, warm/kalt usw. Alles relative Werte, keine absoluten.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 17:01Das scheinen mir aber nur begriffliche Abhängigkeiten zu sein? Oder?
Und umgekehrt? Jemand, der nach unseren Begriffen sein ganzes Leben lang unglücklich ist, merkt der davon nichts, weil er nie das Glück kannte?
Ja, umgekehrt müsste das natürlich genauso funktionieren. Aber das kommt dann darauf an, was man unter Glück und Unglück verstehen will. Äußere Umstände oder innere Verfassung? Dass jemand sein ganzes Leben lang arm ist, das aber nicht als Unglück empfindet, weil er nichts anderes kennt, denn alle Leute in seinem Dorf sind (nach unseren Begriffen!) arm und er ist nie darüber hinaus gekommen - das kann ich mir vorstellen. Dass jemand sein ganzes Leben lang unglücklich ist, ohne je andere Gemütszustände zu haben - das kann ich mir nicht vorstellen. Depressive vielleicht? Aber sind die wirklich unglücklich? Ich glaube, das beschreibt es nicht angemessen.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 17:50Und umgekehrt? Jemand, der nach unseren Begriffen sein ganzes Leben lang unglücklich ist, merkt der davon nichts, weil er nie das Glück kannte?
Hier haben wir ja ein starkes Beispiel für die Abhängigkeit. Die Momente des Glücks sind ja vermutlich umso intensiver, je größer der überwundene Widerstand (das "Unglück") ist.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 17:50Unter Abhängigkeit von Glück und Unglück würde ich mir auch eher eine andere Art Abhängigkeit vorstellen als eine begrifflich/epistemische. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: jemand setzt sich ein wichtiges Ziel und versucht es zu erreichen - unter großen Mühen, vielen Rückschlägen, Umwegen, aber auch vielen Momenten des Glücks, weil Fortschritte zu verzeichnen waren et cetera.
Ja, Zustimmung. Mir gefällt dieses Denken in Gegensätzen eigentlich auch gar nicht. Glück/Unglück hatte ich nur als naheliegendes Beispiel gewählt, ohne tiefer drüber nachzudenken. Bin also selbst schuld, wenn das etwas zu plakativ geworden ist.Jörn Budesheim hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 17:50Man könnte vielleicht sagen ein erfülltes Leben kennt in aller Regel viele Facetten: Höhen, Tiefen, Alltag und Abgründe und alles mögliche andere ...
Das stoische Ideal (auch Epikur und die pyrrhonische Skepsis sprechen von der Seelenruhe, der Ataraxie) ist Ziel einer Lebenskunst, einer, wenn man das so sagen darf, Lebenstechnik. Die Theorie der Lebenskunst ist in den letzten Jahrzehnten wieder populär geworden und man arbeitet dort u.a. mit Rückgriffen auf antike Glückslehren (Epikur in seinem Garten, Diogenes in der Tonne usw.) Es sind die Leitfragen philosophischer Lebensklugheit (Selbstgenügsamkeit, Umgang mit dem Tod, das gelingende Leben) bis hin zu Fragen der Selbstoptimierung, die in dieses Feld von Beratung, Coaching, Praxen, Flow, u.ä.) hineinspielen. Ob dann die "Meeresstille des Gemüts" als Ziel des glücklichen Lebens verstanden wird oder als Flaute, also als Stillstand und Verhinderung flotter Fahrt, dazu finden sich bestimmt unterschiedliche Auffassungen. - Wie auch immer muß die Theorie der Lebenskunst eine Vorstellung davon entwickeln, was sie unter Glück versteht, zumindest als Zielvorstellung. Ansonsten könnte sie kaum beratend tätig werden. -Jovis hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 17:06
Wobei mir jetzt gerade die "Meeresstille des Gemüts" auch als etwas schiefe Metapher vorkommen will. Denn das Meer ist nicht dauerhaft still, das ist ja nur eine Momentaufnahme. Alles befindet sich in Veränderung. Insofern wäre dieses stoische Ideal (das schon immer eine große Anziehungskraft für mich hatte) nur zu erreichen, wenn man den Grundcharakter der Wirklichkeit leugnet? Kann man unveränderlich sein in einer veränderlichen Welt?
Nauplios hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 19:10Eine Ideengeschichte der Bilder, in denen der Mensch seine Vorstellung von Leben, von Lebensglück, weiter gefaßt vom Dasein schlechthin, entwirft, hat den Vorzug, daß sie sich inhaltlich gar nicht festlegen muß, was denn das Glück ist, ob es in der Meeresstille oder in den Turbulenzen des Gemüts liegt und wie es denn zu erlangen ist oder ob man den "Grundcharakter der Wirklichkeit leugnen" muß, um es zu erreichen. Eine solche historisch-anthropologische Denkschule würde sich die Frage stellen: Was hat der Mensch denn für das Glück gehalten? Und nicht: Was ist das Glück, seinem Wesen oder seiner Definition nach?
Na ja, ich glaube nicht, dass alle in diesem Forum dasselbe Anliegen und dieselbe Herangehensweise haben. Und dass es jemandem bei der Philosophie ums "Weiterkommen" geht, würde mich auch wundern. Eigentlich findet hier doch ein ständiges Umkreisen statt. Und genau in diesem Engerziehen und Weiterwerdenlassen des Kreises klären sich manche Gedanken, während gleichzeitig andere Fragen auftauchen. (Aber vielleicht beurteile ich das auch zu sehr aus meiner eigenen Sicht.)Nauplios hat geschrieben : ↑Sa 12. Sep 2020, 19:10Man darf sich das Ganze nun allerdings nicht als ein reines Archivieren von Ideen vorstellen. Historisches und Systematisches verschränken sich ineinander. Schnelle Ergebnisse sind jedoch nicht zu erwarten. Insbesondere die Blumenberg´sche "Beschreibung des Menschen" ist umwegig, erzählend, abschweifend, ausschweifend. Da es hier im Forum in erster Linie um "Weiterkommen", um Problemlösung u.ä. geht, steht Umwegiges im Verdacht des Überflüssigen, bestenfalls "Gelehrten", ansonsten "Verknöcherten". Wo es nur eine Wirklichkeit, nur eine Wahrheit gibt, wird auch nur eine "Herangehensweise" geduldet.
Hier gibt es im Forum einen Faden mit vielen interessanten Beiträgen und Links zum Thema Glück > viewtopic.php?t=319
Mir geht es ums weiterkommen und ich habe dazu mal einen Thread eröffnet > viewtopic.php?t=962
Ja, da war und bin ich mir aber nicht sicher, ob es sich um Wasserspiegelungen oder Land handelt - links unten in der Ferne sieht man nämlich auch etwas wolkenähnliches und das, meine ich, sind Schiffe.