Nur zwei Dinge - Gottfried Benn

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infinitum
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Mo 8. Nov 2021, 19:33

Nur zwei Dinge
Gottfried Benn

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du musst.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.




erstmal möchte ich das Gedicht hier teilen, da ich es sehr schlicht und kurz und daher auf diese Weise schön finde. Aber auch gerne kann besprochen werden, ob es eine einseitige Darstellung einer sehr düsteren Weltsicht darstellt.
"es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich."
Oder ist es einfach nur realistisch?
"dein fernbestimmtes: Du musst."
was ist Eurer Meinung nach damit gemeint? Die Stimme des Verstands, die niemals ruht und ständig nach etwas sucht?



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Jörn Budesheim
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transfinitum hat geschrieben :
Mo 8. Nov 2021, 19:33
düster
schön
Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich es düster finde. Aber schön ist es doch ganz bestimmt oder vielleicht sogar zu schön?




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Jörn Budesheim
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Mo 8. Nov 2021, 21:01

Ich und Wir und Du
ob Sinn, ob Sucht, ob Sage
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere

In jeder der drei Strophen gibt es einmal eine solche Dreierkonstellation. Und man die Punkte aufeinander abbilden kann? Also: ich, Sinn, Rosen ...




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Jörn Budesheim
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transfinitum hat geschrieben :
Mo 8. Nov 2021, 19:33
"dein fernbestimmtes: Du musst."
was ist Eurer Meinung nach damit gemeint? Die Stimme des Verstands, die niemals ruht und ständig nach etwas sucht?
Oder die Stimme des Dichters?! Was muss er denn? Dichten! Schöne Formen schaffen, durch viele davon ist er schon geschritten. Fernbestimmt ist schließlich nicht fremdbestimmt, oder? In der Fernbestimmung kann sich auch ein Sehnen ausdrücken. Und in dem "du musst" eben die Notwendigkeit der Kunst.




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Jörn Budesheim
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Di 9. Nov 2021, 06:45

"... es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich."

Kann man das nicht auch so lesen, dass man die Aufgabe ist, sich selbst in die Leere zu zeichnen; wobei Leere meint, dass es keinen vorgegebenen oder festen Grund gibt.

Wobei der Ausdruck "das gezeichnete ich" natürlich auch einen wichtigen passiven Klang hat: Man ist irgendwie gezeichnet vom eigenen Schicksal von den Bedingungen etc.pp.

...

Letztlich ist das Lesen eines Gedichtes und das Zeichnen des Ich ähnlich. Beides ist nicht voraussetzungslos, aber dennoch offen und frei. Wenn es auch kein "definitives Richtig" für beides gibt, kann man dennoch falsch liegen ...




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Friederike
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Di 9. Nov 2021, 16:53

transfinitum hat geschrieben :
Mo 8. Nov 2021, 19:33
Nur zwei Dinge
Gottfried Benn

Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du musst.

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Ich empfinde das Gedicht auch als "düster". Zuerst müssen die nicht zu beantwortenden Fragen "erlitten" werden, später ist es das "fernbestimmte: Du mußt", das ertragen werden muß - das heißt, es muß eben ausgehalten werden, daß die "Wozu"-Fragen nicht zu beantworten sind. (ich denke auch, der "Verstand" ist es, der dies erkennen läßt). Es bleibt also nur ... und diese 2 Verse verstehe ich wie Du @Jörn:

Kann man das nicht auch so lesen, dass man die Aufgabe ist, sich selbst in die Leere zu zeichnen; wobei Leere meint, dass es keinen vorgegebenen oder festen Grund gibt.

Du hast anschließend noch die Passivkonstruktion ("gezeichnetes Ich") erwähnt, aber die Interpretation wäre mir einfach zu trostlos.

Die 3er "Päckchen" sind sicher das Spannende an dem Gedicht, aber das ist mir im Augenblick zu kompliziert. @transfinitum, mit "schlicht" hast Du, nehme ich an, die Sprache gemeint. Denn inhaltlich durchsichtig finde ich es kein bißchen.




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AndreaH
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Di 9. Nov 2021, 23:48

Wow,... ich finde das Gedicht faszinierend!!!
Es bietet so viel Raum für verschiedene Sichtweisen und doch ist es auf das Wesentliche konzentriert.
Ich finde das Gedicht realistisch. Düster empfinde ich es nicht.

Ich lasse das erst einmal auf mich wirken.... voll schön... :)
Zuletzt geändert von AndreaH am Di 9. Nov 2021, 23:49, insgesamt 1-mal geändert.




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AndreaH
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Mi 10. Nov 2021, 00:41

Das Gedicht lässt mich heute schon nicht mehr los...

Also ich hätte es so interpretiert.

"Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?


Der Mensch wird geprägt durch andere Menschen, aber auch er selbst bestimmt seine Formung mit, sowie das Schicksal gestaltet ihn auch mit.
Dieses "geschritten" ist diese beständige Veränderung die der Mensch in seiner Entwicklung (Formung) erlebt.
Leiden stellt sich nur ein, wenn er der Frage nachgeht: "wozu" sollte das jetzt (z.B. negatives Schicksal) sein.
Würde man das Schicksal akzeptieren, so wie es ist, leidet man nicht so.


"Das ist eine Kinderfrage,
Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du musst."


Es gibt nur eines, was man muss
-Sterben-
und mit diesem Fakt lernt man umzugehen, daher "ertrage"

die dritte Zeile ist mir aber nicht ganz klar.
Daher kann dieser Absatz für mich auch noch in eine ganz andere Richtung einschlagen.

"Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich."


Dieser Absatz fasst noch einmal die beiden oberen Absätze zusammen.
Alles was wächst, sich verändert und verformt wird auch irgendwann zum Ende kommen.
Es entsteht auch immer aus dieser Leere (aus diesem Neubeginn) diese neue Formung.
Mir gefällt deshalb auch die Interpretation von Jörn sehr gut.

Es ist also immer ein Wechsel zwischen Neubeginn und Formung da.
Man kann auch im Leben verschiedene Abschnitte als Neubeginn und Formung sehen.
Da der Dichter auch Meere in seinem Gedicht als einen Teil dieses Wechselspiels erwähnt, geht er nicht nur vom Menschen aus.
Wasser hat auch seinen Kreislauf und verändert immer wieder die Form, genauso wie die Rosen, .....
Elemente bleiben immer erhalten, sie verändern einfach nur die Form. ;)




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Jörn Budesheim
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Mi 10. Nov 2021, 06:20

geschritten
erlitten

bewusst
Du musst

Meere
Leere


Manche der Reim-Paare sind offenbar ziemlich kontrastreich :)

Schreiten ist ja bestimmt nichts düsteres, sondern in der Regel etwas Stolzes und Selbstbewusstes. Bei bewusst und du musst ist der Kontrast vielleicht nicht ganz so offensichtlich, aber ich finde er ist da, am stärksten ist es natürlich bei Meere und Leere.




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Jörn Budesheim
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Mi 10. Nov 2021, 07:51

Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich

Hier komme ich nicht so richtig mit. Das Rosen blühen und verbleichen, das verstehe ich noch aber Schnee und Meere? Der Schnee fällt und schmilzt? Die Meere sind entstanden und werden vergehen?




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Friederike
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Mi 10. Nov 2021, 18:11

Ich bin beeindruckt, was Ihr schon alles herausgearbeitet habt.
Das "fernbestimmte: Du mußt" für den Tod anzusehen, @Andrea, finde ich originell - wenn ich das so sagen darf. Aber es scheint mir nicht unplausibel. Das einzige Dreiergespann, in dem ich keine Verbindung erkennen kann, ist das der 2. Strophe:

Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du musst."


Worauf soll sich das beziehen? Egal, ob ich das Sterben, den Tod nehme oder die "wozu"-Fragen, es kommt mir unsinnig oder sinnlos vor. Habt Ihr dazu eine Idee?




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Jörn Budesheim
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Mi 10. Nov 2021, 18:22

Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du musst.
Sinn, Sucht und Sage sind vielleicht die Ferne aus der heraus das "du musst" kommt?! Was bestimmt das "Du musst" aus der Ferne? Ein bestimmter Sinn? Eine gewisse Sucht - vielleicht gar die Sucht nach Erfolg? Oder eine Sage, vielleicht im Sinn von Erzählung oder Mythos? Oder einfacher formuliert: warum muss ich? Weil es Sinn ergibt, weil ich einer Sucht nachgebe oder weil es die Sage ist?




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Friederike
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Mi 10. Nov 2021, 18:56

Aaah, ja ...

Mir war in der Zwischenzeit noch eingefallen, daß, bezöge man das "fernbestimmte: Du mußt" auf die Künstlerexistenz (@Jörn, Du hattest den Vorschlag u.a. gemacht), dann wäre "Sinn" eine mögliche Antwort auf das "wozu" oder "Sucht" - nur die "Sage" bekomme ich nicht untergebracht.




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Stefanie
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Mi 10. Nov 2021, 19:42

Die Formen des Menschen, einmal das Ich, dann ist man auch das Wir, und für einen anderen das Du. Diese unterschiedlichen Formen durchschreitet jeder Mensch im Laufe seines Lebens. Die Frage ist, wieso, wieso bin ich nicht nur ein ich.
Dann zu akzeptieren, dass es eben so ist, dass man etwas tut, was man einfach tun muss, entweder weil, es von einem verlangt wird aufgrund überlieferten Konventionen (Sage), oder weil dich etwas antreibt, was wie eine Sucht sein kann, ohne dass man sich erklären kann, warum zum Kuckuck habe ich das jetzt gemacht? Weil ich einfach musste.
Alles ist vergänglich, es gibt zwei Dinge, die sind es nicht, die Leere und das gezeichneten Ich.
Die Leere bleibt, wenn man wahrscheinlich dieses fernbestimmte Du musst, nicht umsetzt, oder es nicht ertragen kann, weil entweder es durch Konventionen bestimmt ist, oder durch eine Sucht, die vielleicht auch die Sucht ist, unbedingt eine Sinn zu finden. Den man nicht findet.
Das gezeichnete Ich verstehe ich entsprechend dem Ausdruck, ein Mensch ist gezeichnet vom Leben.
Die Leeere bleibt, dieses Wir, dieses Du und alles andere führt dazu, dass der Mensch immer ein vom Leben gezeichneter Mensch ist, als Ich.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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Mi 10. Nov 2021, 19:43

Friederike hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 18:56
Aaah, ja ...

Mir war in der Zwischenzeit noch eingefallen, daß, bezöge man das "fernbestimmte: Du mußt" auf die Künstlerexistenz (@Jörn, Du hattest den Vorschlag u.a. gemacht), dann wäre "Sinn" eine mögliche Antwort auf das "wozu" oder "Sucht" - nur die "Sage" bekomme ich nicht untergebracht.
Kann man nicht statt Sage, Tradition, Erzählung, Geschichte, Mythos etc setzen?




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Jörn Budesheim
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Mi 10. Nov 2021, 19:48

Ich und Wir und Du
Interessant ist übrigens die Reihenfolge. Vielleicht ist es dem Reim geschuldet, vielleicht aber auch nicht ...




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AndreaH
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Do 11. Nov 2021, 01:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 07:51
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich

Hier komme ich nicht so richtig mit. Das Rosen blühen und verbleichen, das verstehe ich noch aber Schnee und Meere? Der Schnee fällt und schmilzt? Die Meere sind entstanden und werden vergehen?
Ich hätte es so gesehen, bei Rosen ist das Bild sehr klar, sie blühen und verbleichen. Das heißt sie haben einen Anfang und ein Ende. Wenn man es überträgt auf den Schnee findet dieser aus dem Wasserkreislauf heraus bei einer bestimmten Temperatur auch einen Anfang und mit einer anderen Temperatur findet der Schnee auch sein Ende. Während der Phase als Schnee, blüht dieser zwar nicht, aber in irgendeiner Art und Weise, hat er auch seine Zeit in der er durch Schneetreiben, Schneekristalle oder durch die Formung am Boden in seiner Daseinsform erstrahlt. Das Meer hat nach dem Urknall durch Wasserstoff und Sauerstoff irgendwann als Meer seinen Anfang gefunden und in seiner Daseinsform erblüht es vielleicht auch irgendwie. Ob das Meer ein Ende findet, es steht derzeit in der Blüte, (nunja, es verändert auch gerade etwas die Form ;) ) Daher hätte ich das Gedicht auch so interpretiert, das es dem Mensch genauso ergeht, dieser findet seinen Anfang steht dann in der Blüte und findet auch sein Ende.
Interessant ist doch aber, dass wenn man es von den Elementen her betrachtet nichts verloren geht. Es verändert einfach nur die Form.




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AndreaH
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Do 11. Nov 2021, 01:26

Ich finde alle eure Interpretationen sehr spannend und interessant!!! :)
Voll schön zu lesen, weil so eine Fülle entsteht und es in so unterschiedliche Richtungen geht. Ich mag das sehr.

Da ich ja den zweiten Absatz, eher auf den Tod beziehe.
Könnte es auch, nach der menschlichen Suche nach Antwort und Frage zum Tod gehen.
Also, wie man diesen Fragen nachgeht
-ob Sinn, ob Sucht , ob Sage-




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Friederike
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Do 11. Nov 2021, 15:14

So richtig anfreunden kann ich mich mit dem Gedicht nicht - mich stört meine Vermutung :lol: ("stören" beziehe ich auf die Vermutung und auch aufs Gedicht), daß Benn zu viele Wörter nicht deswegen ausgesucht hat, weil es die inhaltlich treffendsten sind, sondern um der Form(en) willen. Ich, wir, du (die Abfolge) wegen des Reimes; geschritten, erlitten ebenfalls, damit es sich reimt und Sinn, Sucht, Sage wegen der Buchstaben am Beginn (ich weiß den Fachausdruck nicht). Dadurch erhält das Gedicht für mich zu viel Gezwungenes.

Was ich toll finde, das ist die Entdeckung der "Formen", "Form" als das Schlüsselwort des Gedichts (aber diese Entdeckung habt Ihr ja gemacht).




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infinitum
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So 14. Nov 2021, 10:45

Ich bin auch fasziniert über Eure tollen Gedanken und Interpretationen!
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 9. Nov 2021, 06:45
"... es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich."

Kann man das nicht auch so lesen, dass man die Aufgabe ist, sich selbst in die Leere zu zeichnen; wobei Leere meint, dass es keinen vorgegebenen oder festen Grund gibt.

Wobei der Ausdruck "das gezeichnete ich" natürlich auch einen wichtigen passiven Klang hat: Man ist irgendwie gezeichnet vom eigenen Schicksal von den Bedingungen etc.pp.
Den Gedanken habe ich auf mich wirken lassen.
Dabei habe ich mir vorgestellt, wie man ein Bild mit einem Holzstück in den Sand malt und das Wasser es dann wegspült oder wie man mit dem Finger an eine beschlagene Scheibe etwas malt und danach löst sich der Beschlag wieder auf. Es wird etwas gezeichnet, was aber vergänglich ist. Dieses Gezeichnete bleibt demnach also gar nicht dauerhaft.
Das wiederum führt aber zum Schluss, dass es nicht zwei Dinge, sondern nur eines gibt, das wäre dann die Leere. In der 2. Strophe spricht er davon: „Es gibt nur eines….“ Und in der letzten Strophe gibt es dann zwei Dinge.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 07:51
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich

Hier komme ich nicht so richtig mit. Das Rosen blühen und verbleichen, das verstehe ich noch aber Schnee und Meere? Der Schnee fällt und schmilzt? Die Meere sind entstanden und werden vergehen?
guter Punkt. Nun vermute ich auch leicht, wie Fredericke äußerte, dass einige Wörter zur Verstärkung eingesetzt wurden und auch dem Reim geschuldet sind.
In dieser Hinsicht bin ich aber skeptisch, ob man Gedichte anhand Sprachkonstruktionen analysieren kann. Es hängt ja noch ein verdeckter Kontext dahinter. Aber vielleicht kann man dadurch das Gesamtbild des Gedichts etwas entmystifizieren.
Friederike hat geschrieben :
Do 11. Nov 2021, 15:14
… daß Benn zu viele Wörter nicht deswegen ausgesucht hat, weil es die inhaltlich treffendsten sind, sondern um der Form(en) willen. Ich, wir, du (die Abfolge) wegen des Reimes; geschritten, erlitten ebenfalls, damit es sich reimt und Sinn, Sucht, Sage wegen der Buchstaben am Beginn (ich weiß den Fachausdruck nicht). Dadurch erhält das Gedicht für mich zu viel Gezwungenes.
Friederike hat geschrieben :
Di 9. Nov 2021, 16:53

Die 3er "Päckchen" sind sicher das Spannende an dem Gedicht, aber das ist mir im Augenblick zu kompliziert. @transfinitum, mit "schlicht" hast Du, nehme ich an, die Sprache gemeint. Denn inhaltlich durchsichtig finde ich es kein bißchen.
Ja, ich meinte die einfach gehaltene Sprache und auch die Kürze der einzelnen Strophen. Es wird auf Ausschmückungen verzichtet und das macht das ganze Gedicht sehr minimalistisch. So scheint es zumindest auf mich, dass nicht vom Eigentlichen abgelenkt wird.
AndreaH hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 00:41


"Das ist eine Kinderfrage,
Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage-
dein fernbestimmtes: Du musst."


Es gibt nur eines, was man muss
-Sterben-
und mit diesem Fakt lernt man umzugehen, daher "ertrage"
Auch wenn Sterben tatsächlich das einzige ist, dass man wirklich muss, vermute ich nicht, dass Benn hier dies anspricht. Das würde nicht zum fernbestimmten Du musst passen. Ich denke, dass es sich darauf bezieht, dass man in die Welt geworfen ist und Einflüssen/ Ziele/Projektionen gegenüber ausgesetzt ist und die Quasi-Ausgeliefertheit gegenüber den Sinnen, Süchten, Sagen und ertragen „muss“.
AndreaH hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 00:41
"Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich."


Dieser Absatz fasst noch einmal die beiden oberen Absätze zusammen.
Alles was wächst, sich verändert und verformt wird auch irgendwann zum Ende kommen.
Es entsteht auch immer aus dieser Leere (aus diesem Neubeginn) diese neue Formung.
Mir gefällt deshalb auch die Interpretation von Jörn sehr gut.

Es ist also immer ein Wechsel zwischen Neubeginn und Formung da.
Man kann auch im Leben verschiedene Abschnitte als Neubeginn und Formung sehen.
Da der Dichter auch Meere in seinem Gedicht als einen Teil dieses Wechselspiels erwähnt, geht er nicht nur vom Menschen aus.
Wasser hat auch seinen Kreislauf und verändert immer wieder die Form, genauso wie die Rosen, .....
Elemente bleiben immer erhalten, sie verändern einfach nur die Form. ;)
Ich denke auch, dass Benn diesen Wechsel zum Ausdruck bringen möchte. Der Vergleich mit dem Wasser ist vermutlich aus deshalb von ihm verwendet, weil Wasser sinnbildlich für Veränderung und Wandelbarkeit steht. Nur deutet er in seiner letzten Strophe darauf hin, dass etwas bleibt, was eigentlich nicht bleiben kann. Denn die Leere ist nichts, was bleibt oder in einer Form erhalten bleiben kann. Sie ist Voraussetzung, dafür, dass etwas in Form eintritt. Der Krug kann nur Wasser aufnehmen, wenn darin eine gewisse Leere vorherrscht.
Dazu nur ein kurzer Einschub von Laotse:
Das Sein des Nichts
Dreißig Speichen treffen die Nabe,
die Leere dazwischen macht das Rad.
Lehm formt der Töpfer zu Gefäßen,
die Leere darinnen macht das Gefäß.
Fenster und Türen bricht man in Mauern,
die Leere damitten macht die Behausung.
Das Sichtbare bildet die Form eines Werkes,
das Nicht-Sichtbare macht seinen Wert aus.

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 18:22
Sinn, Sucht und Sage sind vielleicht die Ferne aus der heraus das "du musst" kommt?! Was bestimmt das "Du musst" aus der Ferne? Ein bestimmter Sinn? Eine gewisse Sucht - vielleicht gar die Sucht nach Erfolg? Oder eine Sage, vielleicht im Sinn von Erzählung oder Mythos? Oder einfacher formuliert: warum muss ich? Weil es Sinn ergibt, weil ich einer Sucht nachgebe oder weil es die Sage ist?
Aus der Ferne würde ich so interpretieren, dass es etwas ist, was nicht aus einem selbst entspringt. Es wurde von außen aufoktroyiert. Seien es Sucht nach Erfolg oder der der Drang als Künstler ein berühmtes Meisterwerk zu erschaffen.
Stefanie hat geschrieben :
Mi 10. Nov 2021, 19:42
Die Leere bleibt, wenn man wahrscheinlich dieses fernbestimmte Du musst, nicht umsetzt, oder es nicht ertragen kann, weil entweder es durch Konventionen bestimmt ist, oder durch eine Sucht, die vielleicht auch die Sucht ist, unbedingt eine Sinn zu finden. Den man nicht findet.
Würde es so sehen, dass die Leere unabhängig von der Erfüllung der Aufgabe besteht. Sie ist quasi Voraussetzung und einfach da. Selbst wenn das fernbestimmte du musst ausgeführt wird, führt es zu keiner Erfüllung, da es nicht aus dem Selbst entspringt. (Ob dieses eigene du musst aber da ist, ist wieder eine andere Frage..) Benn weist m. E. darauf hin, dass man nur lernen kann, es zu ertragen und damit umzugehen.



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