Gedichte unserer Mitglieder

Raum für Besprechung von Romanen, Gedichten und Geschichten
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infinitum
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Do 27. Mai 2021, 11:57

als ich von Hannah Arendt in "Vom Leben des Geistes: Das Denken, Das Wollen" einen Abschnitt las, indem sie nach dem Ort fragt, an den man sich zurückzieht, wenn man denkt, hatte mich das zu folgendem Gedicht inspiriert:

Den Ort, den es nicht gibt

Nach so vielen Jahren,
steh ich hier,
soviel herumgefahren.

Hier an diesem Ort,
den niemand kennt,
er war nie fort.

Ich steh vor der Tür,
geh hinein,
was zeigt sich mir?

Ein umgefallener Baum,
ein ausgelaufener Weg,
und das in einem Raum.

Ich lauf entlang,
und setz mich auf den Baum,
mir wird nicht bang.

Der Raum erscheint ganz klein,
Und doch endlos zugleich,
wie kann das sein?

Vergessen sind die Sorgen,
Gedanken bewegen sich frei,
ohne zu denken an das Morgen.

Alles ist ruhig und vertraut,
wie einst bereits erlebt,
ohne Umlaut.

An einem Ort ohne Graus,
den niemand kennt,
bin ich zuhaus‘.

und wiederum das erinnerte mich das dann an ein Liede von Hilde.... :D




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AndreaH
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Do 27. Mai 2021, 20:54

Dein Gedicht berührt mich sehr @transfinitum. :)




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Jörn Budesheim
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Sa 19. Jun 2021, 18:52

Beim Rasieren schaue ich
In den Spiegel und
Mein Opa sieht mich an

Ich muss ihm
Meine Hände zeigen
Von beiden Seiten

Er fragt mich
Ob ich noch zeichne
Ich nicke vorsichtig




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Friederike
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Di 22. Jun 2021, 10:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 19. Jun 2021, 18:52
Beim Rasieren schaue ich
In den Spiegel und
Mein Opa sieht mich an

Ich muss ihm
Meine Hände zeigen
Von beiden Seiten

Er fragt mich
Ob ich noch zeichne
Ich nicke vorsichtig
Ich möchte nun doch etwas zu Deinem Gedicht sagen - das ich ziemlich großartig finde.

Einmal ist es der lakonische Tonfall, der von Anfang bis Ende durchgehalten wird; weiterhin "sitzt" jedes Wort, wie ich finde. Es ist keines zu viel und keines zu wenig. Die verschiedenen "Ichs", die da sprechen, gefallen mir; insbesondere die Unsicherheit, die ich als reizvoll empfinde, ob das nickende Ich dasselbe ist wie dasjenige, das in den Spiegel sieht.

Ja, und dann die letzte Verszeile ... "nicken" ist für mich eine starke Geste, viel stärker als ein geprochenes "ja". Durch das Adverb wird die Kraft zwar nicht zurückgenommen, aber irgendwie gebremst. Von der Wirkung her empfinde ich es wie einen Widerhaken, der mich aufmerken läßt.

Nachdem ich 2 Tage darüber herumgegrübelt habe, warum das Ich vorsichtig nickt, habe ich nun endlich meine Lösung gefunden! Die Frage, die gestellt wird, ist doch eine ganz einfache und klare Frage, die sich auf einen einfachen und klaren Sachverhalt bezieht "zeichnest du noch"? Eigentlich wäre die Frage mit einem ebenso einfachen und klaren "ja" (oder "nein") zu beantworten. "Ich nicke vorsichtig" heißt für mich, in einen anderen Satz übersetzt: "was tue ich da eigentlich?" Das Ich zeichnet offenkundig schon lange Zeit und auf einmal, auf diese einfache Frage hin, gerät die ganze Selbstverständlichkeit dieses Tuns wie in einen Strudel. Hm, das ist noch nicht richtig ausgedrückt. Alle Gewißheit, die bis zu diesem Moment (da gefragt wird) in dem Tun gelegen hat, geht über in eine suchende und fragende Bewegung. Das finde ich faszinierend.




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Alethos
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Di 22. Jun 2021, 12:56

Eine ganz spannende Szene.
Intim. Irgendwie gefährlich.
Wirklich eindrucksvoll.



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Jörn Budesheim
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Di 22. Jun 2021, 13:17

Danke für Eure Gedanken dazu. Ich kann dazu sagen, dass es sich fast genau so zugetragen hat und ich es (mehr oder weniger) nur hingeschrieben habe.




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infinitum
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Do 24. Jun 2021, 10:30

Das Wasser

Unendliche Farben in Sicht,
Unendliche Weiten und Formen,
Licht, das sich in allen Facetten in dir bricht.

Reflektierst meine Ideen,
Ohne sie zu übernehmen.

In dir löst sich meine Vision
Ohne jeglich Pardon.

Fließt stets weiter trotz Widerstand,
in Gleichgültigkeit verkannt.

Umfließt jedes Hindernis,
und sogar in Finsternis.

Fließt durch jede noch so winzige Ritze,
Und gelingst so zu jedem Ort in Kürze.

In dir trägst du so viel Kraft
gewaltige Kraft der Zerstörung aus dir pafft.

Verletzliche Tiefe auf der anderen Seite,
auf dass sie dich ewiglich begleite.

Berühr ich dich zart,
so bist du smart.

begegne ich dir mit Gewalt,
so bist du hart wie Stein und so kalt.

Die Tiefe des Urgrunds scheint aus dir.
tanzende Fische, swingende Pflanzen
und wunderschöne Steine haben hier ihr Quartier.

Tosende Wellen verzerren die Sicht
wirst du ruhig,
so erkenn ich dich ganz schlicht.
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Jörn Budesheim
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Mi 18. Aug 2021, 10:02

Sieben Tage vor dem Tod
Kam das schönste Abendrot
Du bist schön und ich bin hässlich
Nur das Ende kommt verlässlich




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Jörn Budesheim
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Do 26. Aug 2021, 08:49

Immer

Immer ist dieses alte
Gesicht bei mir

Und schaut durch
Meine Augen

Beim Blick
In den Spiegel

Erschrickt
Es




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Jörn Budesheim
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Fr 27. Aug 2021, 14:51

Abzählreim

Ich muss sterben
Du darfst leben
Sie muss sterben
Er darf leben
Wir müssen sterben
Ihr dürft leben
Sie müssen sterben
Ich darf leben




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Alethos
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Sa 11. Sep 2021, 12:05

Am Horizont
versöhnen sich
Angst und
Zuversicht

Es ruht in ihm
im Lot
zwischen Tod
und Tod
das Leben

Und plötzlich steigt
in mir das Meer
weiter als zum
Himmel
Und ich ertrinke
Allein am Strand

Da zischt mir
eine Welle zu:
Sterben ist gut.
Leben ist besser.



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Jörn Budesheim
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Sa 23. Okt 2021, 09:17

Nur drei Worte


Das Sein vorsichtig
Auf den Tisch
Legen und dann
Den Raum verlassen

Aller Schatten drückt
Gegen das Fenster
In die Nacht

Unser Atem liegt
Im weiten Wind

Nur drei Worte




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Jörn Budesheim
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Do 2. Dez 2021, 11:16

An der Ampel stehen
Vogel sehen
rübergehen
wunderschön




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Jörn Budesheim
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Sa 30. Apr 2022, 09:33

Bild

Immer wenn es hell wird und ich mich aus dem Schlafbaum löse und den großen Gesang hinter mir lasse, fliege ich zu der Birke vor deinem Steinbaum ohne Äste. Du lebst in dem Baumloch ohne Rundung. Ganz oben, obwohl du keine Flügel hast. Ich kenne dein schnabelloses Gesicht. Ich warte. Ich warte bis du aus der Höhlung kommst und auf dem flachen Ast erscheinst. Du krallst dich nicht fest und fällst doch nicht. Deine Augen stehen so eng, ob du mich sehen kannst?

Dann hebst du deinen Krallenflügel - er hat keine Federn - und wirfst drei goldene Nüsse ins Gras.

Ich stürze hinterher, will sie fangen in ihrer Bahn. Es gelingt nicht. Doch ich finde sie schnell. Denn sie schauen mich an aus dem feuchten Grün. Zwei kann ich tragen. Das ist nicht leicht. Ich fliege sie ins Versteck, hoch oben in einen anderen Steinbaum. Dorthin wo die Schnabellosen nie erscheinen. Dann kehre ich zurück, hämmere die letzte Nuss auf und esse die Kerne.

Morgen sehen wir uns wieder.




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NaWennDuMeinst
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Fr 29. Jul 2022, 22:43

Endlos

Endlose Schönheit
Endlose Lust
Endlose Liebe
Endlose Schwäche
Endloses Suchen
Endlose Verführung
Endloses Verlangen
Endloses Lügen
Endlose Scham
Endloses Verlassen
Endloses Vermissen
Endloser Schmerz
Endloses Ende.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

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Jörn Budesheim
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So 7. Aug 2022, 20:11

Naturordnung

Du darfst im
Garten furzen

Vögel können
kaum riechen




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Jörn Budesheim
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Fr 28. Okt 2022, 08:20

Der Mensch ist bald vergessen
Achim von Arnim (1781 - 1831)

Der Mensch ist bald vergessen
der Mensch vergisst so bald,
der Mensch hat nichts besessen,
er sterb´ jung oder alt.

Der Mensch ist bald vergessen,
nur Gott vergisst uns nicht,
hat unser Herz ermessen,
wenn es in Schmerzen bricht.

Wir steigen im Gebete
zu ihm wie aus dem Tod,
sein Hauch, der uns durchwehte,
tat unserm Herzen not.

.....

Das Gedicht oben ist das Original Achim von Arnim. Gestern gab es bei Facebook von einer Autorin aus Wien den Wunsch, man möge versuchen, die beiden letzten Strophen umzuschreiben. Das folgende ist mein Versuch, einer "weltlichen" Version:

.....

Der Mensch ist bald vergessen
der Mensch vergisst so bald,
der Mensch hat nichts besessen,
er sterb´ jung oder alt.

Der Mensch ist bald vergessen.
Nur ich vergess dich nicht.
Du hast mein Herz besessen.
Und ich bin dein Gedicht.

Wir sinken in die Beete.
Das kümmert keinen Mond.
Der Hauch, der uns durchwehte...
Hier haben wir gewohnt.




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Jörn Budesheim
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Sa 29. Okt 2022, 13:39

Bild

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Heute in der Post! Im Sommer habe ich bei einem Kurs der Schule für Dichtung / Vienna Poetry Academy bei Martin Fritz teilgenommen, zum Thema Kritik der Tiere und ein Text von mir wurde für diese Zeitschrift ausgewählt. [Stolz!]

Als ich 16 oder 17 war habe ich oft gedichtet, wenn ich die Schule geschwänzt habe. Dann hat sich das also letztlich doch ausgezahlt. :)




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AufDerSonne
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Di 1. Nov 2022, 16:50

Das ästhetische Wiesel

Ein Wiesel saß auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel.
Wisst ihr weshalb?
Das Mondkalb verriet es mit im Stillen,
Das raffinierte Tier tat es um des Reimes Willen.

Ich weiß nicht mehr von wem das Gedicht ist, aber ich finde es herzig. Ich habe es gefunden. Es ist von Christian Morgenstern.



Ohne Gehirn kein Geist!

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Lucian Wing
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Di 1. Nov 2022, 18:57

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 29. Okt 2022, 13:39

Heute in der Post! Im Sommer habe ich bei einem Kurs der Schule für Dichtung / Vienna Poetry Academy bei Martin Fritz teilgenommen, zum Thema Kritik der Tiere und ein Text von mir wurde für diese Zeitschrift ausgewählt. [Stolz!]
Gratuliere - und den Stolz kenne ich. Ich hab's mal mit zwei Gedichten vor vielen Jahren in den Sammelband des Wilhelm-Busch-Preises geschafft und war auch sehr beeindruckt von mir. :mrgreen: Irgendwo steht der Band noch rum, wenn ich ihn finde, schaue ich mal, wie ich heute drüber denke übers Gereimte.



Als ich vierzehn war, war mein Vater so unwissend. Ich konnte den alten Mann kaum in meiner Nähe ertragen. Aber mit einundzwanzig war ich verblüfft, wieviel er in sieben Jahren dazu gelernt hatte. (Mark Twain)

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