Fragebogen Alkohol

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Alethos
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So 29. Sep 2019, 13:27

von Max Frisch:

1. Wie oft haben Sie schon mit Alkohol aufgehört?

2. Was verdrießt Sie am andern Tag: dass Sie gesagt haben, was Sie nie haben sagen wollen, oder dass Sie nicht mehr wissen, was Sie gesagt haben, oder die Zerstörung von Hirnzellen?

3. Wann brauchen Sie eher Alkohol?
a. in Gesellschaft?
b. wenn Sie allein sind?

4. Wenn eine Person, die es wohlmeint mit Ihnen, unauffällig die Flasche wegnimmt: sind Sie gekränkt, d. h., bestreiten Sie dann, dass Sie unter Alkohol sind, oder sind Sie unter Alkohol imstande zu verstehen, warum man Sie nicht ernst nimmt?

5. Welche Erfahrungen, die Sie unter Alkohol gemacht haben, möchten Sie keinesfalls missen?

6. Kommt es vor, dass Sie unter Alkohol sich mit einem politischen Gegner versöhnen? Und wenn ja: wie verhalten Sie sich danach?

7. Irritieren Sie die Leute, die nichts trinken?

8. Wenn es nicht ohne Alkohol geht (wenn Sie sich ein erstes Glas bewilligen und später ein zweites, ein drittes usw.): wissen Sie, warum es nicht ohne Alkohol geht, oder trinken Sie, um gerade das nicht zu wissen?

9. Wie lang beflügelt Sie der Alkohol?

10. Sind die andern unter Alkohol, Sie aber nicht (weil Sie später dazugekommen sind, weil Sie gerade eine Krankheit hindert usw.): haben Sie dann den Eindruck, dass die Leute einander näherkommen unter Alkohol?

11. Was genießen Sie unter Alkohol besonders:
a. Verbrüderung?
b. dass man Ihnen am Arsch lecken kann?
c. dass Sie von allem, was Sie sagen, völlig überzeugt sind und eine Gegenrede zwar dulden, aber nicht hören?
d. Eigenlob ohne Hemmung?
e. dass Sie sich aufrichtig fühlen, indem Sie jeder üblen Nachrede freien Lauf lassen, beflügelt durch vermeintliche Zustimmung?
f. dass Sie auch singen können?
g. dass Sie jede Frau anzufassen wagen, auch wenn sie es widerlich findet, wenn sie ihren Ekel zeigt?
h. Erlösung durch Selbstmitleid?
i. dass Sie voller Einfälle sind, d. h., dass Ihnen alles, was Sie unter Alkohol reden, wie ein Einfall vorkommt?

12. Erinnern Sie sich anderntags an Ihre lange Beichte? Und wenn ja: finden Sie dann, dass es der richtige Partner gewesen ist?

13. Neigen Sie unter Alkohol zur Schlägerei?

14. Wenn Sie mit Alkohol aufgehört haben: finden Sie das gesellige Zusammensein ergiebiger oder meistens viel zu lang?

15. Haben Sie wieder mit Alkohol angefangen:
a. um die Leute zu mögen?
b. weil Sie sonst wissen, dass Sie alles, was Ihnen in den Sinn kommt, schon öfter gesagt haben?
c. um dankbar zu sein für jeden Witz?
d. weil Sie sich nicht mögen?
e. damit Sie hin und wieder aussprechen, was auszusprechen Ihnen ein besseres Wissen verbietet?
f. weil Sie sonst an Selbstmord denken?
g. zwecks Urlaub von Geiz?
h. um Freunde nicht so genau zu sehen?
i. um ohne Erwartung auszukommen?
k. weil Sie das eigene Bewusstsein ankotzt?
l. zwecks Mut für eine Liebesnacht?
m. um nicht Nein zu sagen als Gast?
n. weil Sie der eigene Wille langweilt?
o. weil Sie schon Alkoholiker sind?

16. Ist es schon dazu gekommen, dass Sie neben einer Frau erwachen, ohne sich erinnern zu können, wie Sie dahin gelangt sind? Und wenn ja: erkannten Sie den Alkohol als einen guten Berater?

17. Wem empfehlen Sie sich zu betrinken?

18. Erinnern Sie sich an Leute, die Sie als Spießer kennen und die unter Alkohol keine Spießer sind?

19. Wie erklären Sie es sich, dass fast alle, wenn sie von einem Besäufnis berichten, sofort bemüht sind, eine lustige Geschichte daraus zu machen?

20. Lachen oder lächeln Sie dann auch?

21. Gesetzt den Fall, Sie hätten jemand auf der Straße überfahren: würden Sie den Umstand, dass Sie unter Alkohol gewesen sind, als mildernden Umstand gelten lassen?

22. Wenn Sie nicht unter Alkohol sind: fühlen Sie sich dann sicherer oder unsicherer?

23. Erinnern Sie sich an einen Einfall unter Alkohol, ein Gespräch unter Alkohol, einen Entschluss unter Alkohol usw., wovon Sie sagen können, dass sich dadurch etwas verändert hat?

24. Möchten Sie unter Alkohol sterben?

25. Haben Sie schon einmal geträumt, dass Sie betrunken seien im Traum?



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Jörn Budesheim
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So 29. Sep 2019, 15:48

Es war einmal... irgendwann mal hatte ich einen Ratgeber in der Hand, da ging es um die Frage, ob man zuviel trinkt oder nicht. Dazu gab es einen Test. Der war ganz einfach: wenn man es ohne Probleme schafft, über einen langen Zeitraum etwa ein halbes oder ein ganzes Jahr, nichts zu trinken, dann hat man nicht zu viel getrunken. Das habe ich an einem 1. Januar ausprobiert (Ergebnis: es gab keine Probleme) und seither trinke ich nichts mehr. Wie lange das her ist, weiß ich leider nicht. Es könnten aber gut zwei Jahrzehnte sein.

Eine Ausnahme mache ich an Weihnachten und Silvester. Weihnachten gibt es ein halbes Glas Rotwein und Silvester ein halbes Glas Sekt :)




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Alethos
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So 29. Sep 2019, 16:40

Da ich wirklich sehr selten etwas trinke, bin ich wohl überhaupt nicht gefährdet. Aber als ich in Brüssel war, da trank ich an einem Abend wieder einmal etwas, dafür zünftig :) Und ich kam mir in meinem Zustand lächerlich vor, da ich mich beobachten konnte in meiner eingeschränkten Motorik, in meiner verhaspelnden Rede, in meinem Überschwang. Ich fühlte mich gar nicht berauschend, eher dysfunktional.

Jedenfalls habe ich den Fragebogen heute gelesen und fand ihn witzig. Es gibt noch mehr Fragebögen von Frisch über Moral und dergleichen. Ich werde sie bei Gelegenheit raussuchen.



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Stefanie
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So 29. Sep 2019, 16:50

Max Frisch hatte so seine Probleme mit dem Alkohol. Vor diesem Hintergrund ist dieser Fragenkatalog etwas bedrückend und wohl auch so was wie ein beschäftigen mit sich selbst.



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Alethos
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So 29. Sep 2019, 17:38

Stefanie hat geschrieben :
So 29. Sep 2019, 16:50
Max Frisch hatte so seine Probleme mit dem Alkohol. Vor diesem Hintergrund ist dieser Fragenkatalog etwas bedrückend und wohl auch so was wie ein beschäftigen mit sich selbst.
Das kann es wohl sein, ja, aber ich denke, es muss nicht nur ein 'Beschäftigen mit sich selbst' sein. Es kann für jedermann/jedefrau geschrieben sein.

Ich empfinde den Fragebogen auch vor dem Hintergrund nicht "bedrückend", dass Frisch Alkoholprobleme hatte. Der ironische (auch der selbstironische) Unterton ist nicht zu überhören. Er ist erfrischend, wie ich meine.



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Stefanie
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So 29. Sep 2019, 18:04

Stimmt, selbstironisch ist es. Das macht es eben bedrückend, traurig paßt auch, irgendwie so eine Mischung daraus.



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Alethos
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So 29. Sep 2019, 18:13

Warum empfindest du es so?



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Stefanie
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So 29. Sep 2019, 19:43

Weil Max Frisch mit dem Alkohol kämpfte und glücklich war er deshalb nicht. Er hatte Angst. Ich hatte darüber schon mal was gelesen, und heute noch mal etwas quer gelesen.
Vor dem Hintergrund, und auch, dass viele, viele Menschen mit dem Alkohol kämpfen, viele dabei aufgegeben haben, oder verloren haben, versetzen einem einige Fragen so richtig einen Stich.
Wie die Frage Nr. 15, die Nr.20, und die Fragen Nr. 24 und die Nr. 25.
"Haben Sie schon einmal geträumt, dass Sie betrunken seien im Traum?" Oh, man, was für ein Gedanke.

Es geht hier ja nicht um mal einen Absturz, nach einer Feier oder so was in der Art. Die Fragen beschreiben ein Leben, in dem der Alkohol das Leben bestimmt.



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Alethos
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So 29. Sep 2019, 21:27

Also ist es Mitleid/Mitgefühl, weil du denkst, dass diese Fragen die Krise plastisch werden lassen, in der er steckte. Eine Art Schrift gewordene Verzweiflung.
Das kann ich nachvollziehen.

Aber Max Frisch hat, als Schriftsteller immerhin eine öffentliche Person, doch dieses Medium der Schriftstellerei zeitlebens als Versuch der Selbstdiagnose und -heilung gesehen. Vielleicht ist es tragisch-komisch, dass er sich darin selbst reflektiert, aber es ist auch witzig. Irgendwie.



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