Ich - Leiden an der aporetischen Existenz

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Schimmermatt
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„Ich“ - Leiden an der aporetischen Existenz

Ich habe gar kein psychologisches Problem, es ist das Leben selbst. Ich sehe es nur klarer, deutlicher, schärfer als die anderen. Die neiden mir meinen „Durchblick“ meistens nicht, aber sie grenzen mich trotzdem aus – ich verstehe das, ich bin anstrengend. Ich bin anders, anders ist schlecht – sagt kaum einer, denkt aber jeder. Man ist ja tolerant.
Ich habe versucht, wie die anderen zu sein. Andere halten das Leben doch auch aus! Stell‘ Dich nicht so an, andere haben viel Härteres durchgemacht und jammern nicht. Die Anderen können alles Mögliche besser als ich. Ich kann bloß besser bis zum Grund gucken. Da ist übrigens keiner, aber das kann man nicht denken. Vieles kann man nicht denken.
Ich weiß, dass das Leben endlich ist. Ich weiß, dass es mich eigentlich aber jetzt schon gar nicht gibt. „Ich“ ist eine Ansammlung von Molekülen, die gelernt hat, zu diesem Aggregat „Ich“ zu sagen. Pädagogen und Kinderpsychologen finden das mit dem Ich gut, sie nennen es Identität, so was sollte man formieren. Formiere ich also. Gesund ist das, mancher erlernten Illusion zu folgen. Gesund ist gut. Wahrheit ist auch gut. Das reicht, um wahr eben das zu nennen, was gesund ist. Das reicht, um wahr eben das zu nennen, was sich flauschig anfühlt.
Ich pack‘ das nicht. Ich weiß, dass ich nicht bin. Cogito, ergo… nihil. Besser: Cogitans, ergo nihil. Der Gedanke ist so ungesund, die Sprache gibt keine passende Grammatik her, um ihn auszudrücken. Contradictio in adiecto – die sophistische Welt spottet.
Ich habe die Illusionen daher gut gelernt: jeder Mensch hat eine Seele, das „Ich“ ist metaphysisch ewig, der Körper ist nur zeitweilig Gefäß dafür. Ich habe sie so gut gelernt, dass es weh tut, zu wissen, dass sie nicht stimmen. Das Universum bleibt gleichgültig gegen meine Wünsche und Hoffnungen, gegen alle Wünsche und Hoffnungen, es ist selbst nicht ewig.
Ich bin depressiv. Das ist die Heilung – nicht für mich, aber für die anderen, die ich störe, beim flauschig fühlen bei ihren Wahrheiten. Nimm‘ ein paar Tabletten, sagt man, vielleicht wirst Du wie die anderen. Die können alles besser.
Ich werde in eine Kur geschickt – dann kann ich wieder funktionieren! Vielleicht nehme ich ja auch Drogen, davon kann man mich ja heilen. Als würde ich an zu vielen Illusionen leiden… als würden Drogen nützen.
Ich liebe meine Frau. Ich verteidige sie, verteidige, dass sie ein Wesen ist, dass sie ein schönes Wesen ist, ein edles, nicht nur ein Bioroboter. Ich kann ihr nur vor den wunderschönen Kopf gucken, vielleicht ist sie ja mehr. Sie ist meine Hoffnung. Die Liebe wird uns nicht die Wahrheit zeigen, letztendlich auch nicht glücklich machen. Sie muss es aber.
Ich habe jeden Absatz mit „Ich“ begonnen. Bin ich ein Lügner? Frag‘ die Anderen! Die gibt es, die können alles besser.



"Manche Leute werden heutzutage langsam wahnsinnig. Ich schnell." C. Schlingensief

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Jörn Budesheim
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Mo 9. Mär 2020, 10:35

Ich werde erst in den nächsten Tagen dazu kommen, zu antworten. Denn das Thema ist für mich sozusagen ein Kernthema.




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Schimmermatt
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Mo 9. Mär 2020, 11:12

Ich freue mich auf Deine Antwort, Jörn!



"Manche Leute werden heutzutage langsam wahnsinnig. Ich schnell." C. Schlingensief

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Jörn Budesheim
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Di 10. Mär 2020, 06:28

Der Text ist ganz offensichtlich das Musterstück einer Aporie, einer philosophisch/existenziellen ausweglosen Situation. Philosophie hier nicht verstanden als Glasperlenspiel, sondern als existenzielle Selbstbestimmung: Wer bin ich! Selbstbestimmung heißt Freiheit und dazu sind wir verdammt, wie es bei Sartre heißt. Natürlich kann man sich dieser Freiheit entledigen, dazu werden überall Entlastungsmaßnahmen angeboten, im Text kommt das "den anderen" zu. Es gibt seit jeher viele Wege und Angebote, sich von diesen Fragen, den Pflichten zur Selbstbestimmung, zu entledigen. Wer diese Angebote ablehnt, dem werden sie manchmal auch aufgezwungen! Schließlich erinnert der Abweichler sie alle an ihrer unerledigten Aufgaben. Die Last der Freiheit kann schwer wiegen!

"Wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nahe dran sich selbst zu finden!" Heißt es bei Hermann Hesse. Das klingt zwar etwas nach wohlfeilem Kalenderspruch, aber ich finde, es ist etwas dran. Ich vermute jedoch, das Gefühl ist weiter verbreitet, als derjenige, der es hat, denkt. Ich weiß natürlich, wovon ich hier rede. Manchmal habe ich das Gefühl, mich inmitten von Zombies wiederzufinden! Das ist einer der Gründe, warum ich in philosophischen Foren schreiben muss, male und zeichne, mich oft mit anderen Künstlern und anderen philosophisch neugierigen treffe…

Die philosophische Frage, die es zu klären gilt, besteht nach meinem Gefühl darin, zu fragen worin genau die Aporie besteht, was die Voraussetzungen ihres Bestehens sind und ob sie zu Recht besteht. Der Text ist ja ganz bewusst ein großer Selbstwiderspruch!

Doch wie sollte eine Ansammlung von Molekülen derart zerrissen sein und in Selbstzweifel geraten? Die Gesetze der Natur sehen das sicherlich nicht vor. Aus dem methodischen Zweifel von Descartes wird hier bei dir ein existentieller. Allerdings bietet Descartes nicht die Lösung an, sondern ist Teil des Problems. Wie soll man die beiden Teile, die Gewissheit, ein Ich zu sein und die Gewissheit, eine Ansammlung von Molekülen zu sein letztlich wieder zusammenfügen?

Wie kann man das lösen? Muss man es lösen? Dass man dieses Problem fühlen kann, das es einen im Ernst trifft, heißt meines Erachtens zugleich, dass eine der Voraussetzungen nicht triftig ist: nicht alles ist Molekül. Das Subjekt des Zweifels kann man nicht wegzaubern! Aus dieser Gewissheit kann keinen Weg herausführen. Bevor der "Verdacht" aufkommt: Das ist (für mich) keine religiöse Position, ich selbst glaube nicht an eine unsterbliche Seele. Das ist übrigens, nach meiner Vorstellung, eine der falschen Alternativen, die oben aufgemacht wird. Den Materialismus zu bezweifeln, führt meines Erachtens keineswegs automatisch in die Religion.

Meinen eigenen Weg kann ich hier nicht komplett in einem einzigen Beitrag darstellen. Ich fange mal skizzenhaft an: dass ich ein Ich bin und zugleich eine "Ansammlung von Molekülen" und vieles, vieles mehr…, das ist überhaupt kein Widerspruch. Ich muss mich nicht entscheiden, welche von den beiden Alternativen der Fall ist. Ich könnte schließlich kein Ich sein, wenn ich nicht auch eine "Ansammlung von Molekülen" - eigentlich ein biologischer Körper wäre. Das ist meines Erachtens sozusagen die erste Problemstelle: Ein biologischer Körper besteht zwar irgendwie aus Molekülen, aber er ist genau genommen keine Ansammlung von Molekülen. Organismen sind keine Bottom-up Dinge. Einen Organismus muss man immer als Ganzes in einer Umwelt betrachten, Bottom-up Erklärungen sind bei Organismen verfehlt. Wenn man bei ihnen "auf den Grund blickt", dann blickt man an ihnen vorbei, sie geraten dann, als das was sie wirklich sind, aus dem Blick. Wenn der Organismus sich selbst zu verstehen trachtet, indem er bei sich auf den Grund blickt, gleichsam seine Moleküle in den Blick nimmt, dann ist er schon naturgesetzlich auf dem falschen Weg, finde ich. Da wo er sucht, kann er sich aus prinzipiellen Gründen nicht finden, weil es ihn da einfach nicht gibt. Diese Suchen kann zu keinem Ergebnis kommen!

Aber es muss doch! Diese verschiedenen Räderwerke hängen doch irgendwie zusammen? Der Materialismus muss doch richtig sein, ist "man" geneigt zu glauben! "Man" setzt also auf das, was Karl Popper einen "versprechenden Materialismus/promissory materialism" nannte. Irgendwann heißt es, vielleicht sehr bald oder auch erst in 200 Jahren werden wir es sehen, dass alles von unten aus erklärt werden kann, nur jetzt ist es noch nicht plausibel. Von diesem ungedeckten Scheck werde ich mein Selbstbild nicht abhängig machen! im Bereich der harten physikalischen Naturwissenschaften, gibt es soviel fantastisches - man denke nur an die Quantenwelt - nur ich selbst als geistiges Wesen soll nicht möglich sein? Diese angebliche Unmöglichkeit, dieses angebliche Problem, basiert vielleicht einfach auf falschen Grundbildern.

Dass das Bottom-up Bild bei Organismen falsch ist, lehrt uns also schon die Naturwissenschaften selbst in Form der Biologie. Das gilt schon bei der Mücke :) umso mehr bei uns selbst, die wir uns auch noch aus anderen Zusammenhängen verstehen müssen: "[als] Ich, das Wir und [als] Wir, das Ich ist." (Hegel)

Ich versuche, in den nächsten Tagen noch mehr zu schreiben. Mein Hintergrund dabei ist die Ablehnung jeder Form von Metaphysik. Alle Versuche auf den Grund zu blicken, wie du es nennst, sind notwendig verfehlt. Und zwar nicht allein aus epistemischen Gründen.

Alethos, der es (zu gewissen Teilen) ähnlich sieht, kann vielleicht auch noch seinen Senf dazugeben :) alle anderen sind natürlich auch "aufgefordert", mitzumachen! Herbert hat hier seine ganze eigene Sicht, Stefanie und Friederike sicherlich auch. Die Frage "wer bin ich, und wenn ja wie viele?" beschäftigt uns doch wohl alle.




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Jörn Budesheim
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Di 10. Mär 2020, 07:42

Viele Schreibfehler und viel Redundanz, ich komme jetzt aber nicht mehr dazu, das aufzuräumen. Vielleicht im Laufe des Tages :) [Die schlimmsten Schreibfehler, die das Korrekturprogramm finden konnte, dürften jetzt eliminiert sein]




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Schimmermatt
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Di 10. Mär 2020, 14:36

Danke, Jörn, für die fundamentale Ernsthaftigkeit, mit der Du eben nicht in den "sophistischen Spott" verfällst, den ich im Text beklage.

Besonders möchte ich nachfragen, inwiefern ich nicht ganz besonders wieder in die Auflösung des Ich hinein falle, wenn ich die enorme Umweltbezogenheit, die Du als möglichen Lösungsweg aus der Aporie andeutest, verfolge. Ich löse mich dann zwar nicht in meine Moleküle auf, was Du als unzulässigen bottom-up-approach kritisierst, aber bekomme dafür eine top-down-Disintegration, in der ich metaphorisch gesprochen Drohne im Bienenschwarm, metapyhsich gesprochen Rädchen im spinozistischen Uhrwerk werde. Die nicht-metaphysische Lösung würde mich existenziell, nicht als theoretische Spielerei, mehr als interessieren!



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Friederike
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Di 10. Mär 2020, 17:39

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 06:28
Natürlich kann man sich dieser Freiheit entledigen, dazu werden überall Entlastungsmaßnahmen angeboten, im Text kommt das "den anderen" zu.
Bitte @Jörn, inwiefern entlasten "die Anderen" von der aufgezwungenen Freiheit -im Text? Ich (Erste Person Singular) möchte das unbedingt verstehen, weil mir die Funktion der Anderen im Text überhaupt nicht klar ist. Es ist so eine Ahnung von mir, beim Lesen des Textes, als seien die Anderen das Problem -was aber nicht explizit gesagt wird - bei der Frage nach "wer ist denn ich".

(@Schimmermatt, ich schreibe "Text" und nicht "Dein Text", weil es mir gefällt, das in der Schwebe zu lassen).




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Jörn Budesheim
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Di 10. Mär 2020, 18:15

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 06:28
Natürlich kann man sich dieser Freiheit entledigen, dazu werden überall Entlastungsmaßnahmen angeboten, im Text kommt das "den anderen" zu. Es gibt seit jeher viele Wege und Angebote, sich von diesen Fragen, den Pflichten zur Selbstbestimmung, zu entledigen. Wer diese Angebote ablehnt, dem werden sie manchmal auch aufgezwungen! Schließlich erinnert der Abweichler sie alle an ihrer unerledigten Aufgaben. Die Last der Freiheit kann schwer wiegen!
Friederike hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 17:39
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 06:28
Natürlich kann man sich dieser Freiheit entledigen, dazu werden überall Entlastungsmaßnahmen angeboten, im Text kommt das "den anderen" zu.
Bitte @Jörn, inwiefern entlasten "die Anderen" von der aufgezwungenen Freiheit -im Text?
Ja, das ist etwas missverständlich ausgedrückt, ich meine es ungefähr so: Es sind die Anderen, die von den Entlastungsmaßnahmen Gebrauch machen, um sich von der Last der Freiheit zu lösen.




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Stefanie
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Di 10. Mär 2020, 22:07

Tja, ich bin etwas überfordert.

Erstmal eine Frage:
Was sind denn konkrete Entlastungsmaßnahmen? Verantwortung abgeben, Politiker, Lehrer, Medien, Eltern, Chef? Wobei geht das überhaupt, sich von der Freiheit zu entlasten, und warum sollte man es tun?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Schimmermatt
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Di 10. Mär 2020, 23:57

@ Friederike: Mir gefällt es auch sehr gut, wenn der Text nicht zwingend als mein Text gesehen und behandelt wird. Es fühlt sich etwas eigenartig an, als kränke dies mein Ego ein wenig, aber irgendwie vergrößert es die Bedeutung des Textes. Es gefällt mir mehr als es mir missfällt :-)

@ Jörn: Deine Interpretation der "leichten" Anklage, dass es sich "die Anderen" irgendwie zu einfach machen, trifft auf jeden Fall auch zu. Gleichsam ist das auch paradox: die Anderen kommen so ja offenbar ganz gut klar, ich nicht so...



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Jörn Budesheim
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Mi 11. Mär 2020, 07:57

ob das ICH des Textes ein Erzähler-ich ist oder einfach ich bedeutet, habe ich mich natürlich auch gefragt. Jedoch hatte ich soviel anderes auf dem Herzen, dass ich das einmal ausgespart habe :) Auf der anderen Seite könnte es natürlich auch ein Teil der Antwort sein.




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Jörn Budesheim
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Mi 11. Mär 2020, 08:07

Stefanie hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 22:07
Tja, ich bin etwas überfordert.

Erstmal eine Frage:
Was sind denn konkrete Entlastungsmaßnahmen? Verantwortung abgeben, Politiker, Lehrer, Medien, Eltern, Chef? Wobei geht das überhaupt, sich von der Freiheit zu entlasten, und warum sollte man es tun?
es gibt ja ganze Industriezweige, die hier Angebote bereithalten, man könnte fast von einer Entlastungs- und Zerstreuungs-Industrie sprechen.




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Friederike
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Mi 11. Mär 2020, 14:39

Ich meine es so:

Das lyrische Ich leidet am Leben (das wird dargelegt). Nun finde ich es sehr auffällig, daß das lyrische Ich viel von "den Anderen" spricht und zwar in der Hinsicht, wie sich die Anderen zu dem lyrischen Ich bzw. zu dem Problem, das das lyrische Ich mit dem "Ich" und dem Leben hat, verhalten. Warum ??? :lol: Die Anderen müssen eine wichtige Funktion für das Problem des lyrischen Ich haben, die ich rauskriegen will.

Ich habe 2 Ideen, von denen ich aber ziemlich sicher bin, daß sie nicht zutreffen. Ich schreib' sie nur, damit Ihr eine Ahnung habt, was mir vorschwebt. 1. Das lyrische Ich kann sich über die Abgrenzung zu den Anderen wenigstens eine Mini-Kontur für sein zerrissenes "Ich" sichern. 2. Die Anderen "Ich"s bedrohen das "Ich" (Sartre, glaube ich, hat dies thematisiert) des lyrischen Ichs und deswegen werden ihre Äußerungen gering geschätzt oder abgelehnt (obwohl es so scheint, als verhielte es sich andersherum - die Anderen schätzen das Problem des lyrischen Ich gering).




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Friederike
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Mi 11. Mär 2020, 16:05

Schimmermatt hat geschrieben : Ich bin depressiv. Das ist die Heilung – nicht für mich, aber für die anderen, die ich störe, beim flauschig fühlen bei ihren Wahrheiten.
Dies ist aus meiner Sicht ein schönes Beispiel dafür, was ich unter "Entlastung" verstehe. Die Anderen entledigen sich ihres Leidens an der Existenz, indem sie einen Anderen stellvertretend leiden und das Problem bedenken lassen.




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Stefanie
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Mi 11. Mär 2020, 21:43

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 11. Mär 2020, 08:07
Stefanie hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 22:07
Tja, ich bin etwas überfordert.

Erstmal eine Frage:
Was sind denn konkrete Entlastungsmaßnahmen? Verantwortung abgeben, Politiker, Lehrer, Medien, Eltern, Chef? Wobei geht das überhaupt, sich von der Freiheit zu entlasten, und warum sollte man es tun?
es gibt ja ganze Industriezweige, die hier Angebote bereithalten, man könnte fast von einer Entlastungs- und Zerstreuungs-Industrie sprechen.
O.k. dann habe ich das etwas falsch verstanden. Ich hatte verstanden, dass man sich der Last der Freiheit und von deren Verpflichtung entledigen will, also Verantwortung ab gibt. Aber das sind ja Maßnahmen, die einem den Umgang mit der Verantwortung erleichtern sollen.



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Schimmermatt
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Mi 11. Mär 2020, 22:38

Im Gegensatz zu meiner früheren Verschanzung hinter einer Netzidentität bekenne ich mich diesmal: Ich "bin" das lyrische Ich, der Text ist eine autobiografische Darstellung meiner Schwierigkeiten.



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Jörn Budesheim
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Do 12. Mär 2020, 12:47

Ich kann nicht versprechen, dass ich heute was schreiben kann - zu viel Arbeit!




herbert clemens
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Do 12. Mär 2020, 14:53

Ich finde den Beitrag von Jörn großartig formuliert, und möchte „auf meine eigene Art“ an der folgenden Stelle von Jörn anknüpfen.
"Das Subjekt des Zweifels kann man nicht wegzaubern! Aus dieser Gewissheit kann keinen Weg herausführen. Bevor der "Verdacht" aufkommt: Das ist (für mich) keine religiöse Position, ich selbst glaube nicht an eine unsterbliche Seele. Das ist übrigens, nach meiner Vorstellung, eine der falschen Alternativen, die oben aufgemacht wird. Den Materialismus zu bezweifeln, führt meines Erachtens keineswegs automatisch in die Religion."

Ich weiß nicht, ob es einen unsterbliche Seele gibt.
An diesem Punkt der Betrachtung ist jedenfalls die Möglichkeit dazu gegeben, die geistige Dimension der jeweiligen Individualität plausibel zu finden.
„Ich“ bin frei, weil ich denkend, fühlend, wollend, mich in Distanz zu meiner Umgebung begebe und zu meiner individuellen Sprache finde, mich mit meiner Realität zu beschäftigen.
Und ich kann auf Verständnis hoffen.
Es gibt die wertschätzenden Anderen. Es gibt Liebe.
Ich-Selbst kann mich durch meditative, kontemplative, philosophische Anstrengung stärken. (Unterforum Meditation)
Offensichtlich ist ein „molekularer“ Ansatz in der Betrachtung menschlichen Seins nicht weiterführend.
Diese Grundgewissheit des Selbst, in sich lebendig zu machen, heißt der Möglichkeit nach: ich kann Depressionen überwinden.




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Friederike
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Do 12. Mär 2020, 15:46

Schimmermatt hat geschrieben :
Mi 11. Mär 2020, 22:38
Im Gegensatz zu meiner früheren Verschanzung hinter einer Netzidentität bekenne ich mich diesmal: Ich "bin" das lyrische Ich, der Text ist eine autobiografische Darstellung meiner Schwierigkeiten.
Dein Text ist einfach abgefahren, irre, großartig. Das Persönliche ins Allgemeine gehoben. Ich habe ihn vorhin erneut zweimal gelesen und seither schwirren meine Gedanken ... worin besteht die Aporie? Ist es wirklich so? Geht man die Aporie philosophisch, psychologisch an? Wie löst man sie auf? Wo finden sich in Deinem Text Ansätze der Lösung? Ist es mein Problem? Unser aller Problem? Naklar, es geht ans Eingemachte. Ha, am Ende wird mir bewußt, alles, was ich in den vergangenen 3 Stunden umrundet habe, ist darauf ausgerichtet: Das Leiden muß weg. Lösungen suchen zur Leidensvermeidung. Selbst der Einfall, das Aporetische und das Leiden in oder an ihr zu bejahen, zielt dahin, das Leiden wegzukriegen. Ich komm' also nicht weiter. Mein Schreiben ist völlig unphilosophisch. Und @Schimmermatt, warum im "Literaturfach"? Fragen stellen, um das Thema nicht weiter bedenken zu müssen. Die lebenspraktische Lösung, ich esse jetzt was. "Grübeln sie nicht" und Grübeln ist, wenn das Denken sowieso zu keinem Resultat führt.




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Schimmermatt
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Fr 13. Mär 2020, 00:04

Friederike, wow, danke, bin überwältigt, würde gern noch etwas mehr schreiben, aber muss schlafen, es ist wie bei Jörn, morgen ist ein weiterer sehr fordernder Tag...



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