Ich - Leiden an der aporetischen Existenz

Raum für Besprechung von Romanen, Gedichten und Geschichten
Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Fr 3. Apr 2020, 13:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 3. Apr 2020, 05:55
Alethos hat geschrieben :
Do 2. Apr 2020, 23:09
Mein "Plädoyer" für Intersubjektivität resp. Übereinkunft galt vielmehr der Begünstigung des Verständnisses dafür, dass wir Dinge niemals ganz ergründen können und dennoch nicht so tun können, als stünden unsere Überzeugungen im Ontologie leeren Raum.
Ich will mal testen, ob ich das richtig verstanden habe :) Ein Beispiel aus der Literatur: ich meine, dort hinten Silvia gesehen zu haben. Dann jedoch stellt sich heraus, dass ich mich geirrt habe, es war Daniela. Irrtümer sind also oftmals nicht "total". Einige der Aspekte dessen, was ich geglaubt habe, entsprachen der Wahrheit. Dort drüben stand zwar nicht Silvia, aber es stand dort immerhin ein Mensch, es stand dort überhaupt etwas, der Ort war schließlich nicht leer
Ja, ich denke, das trifft es nicht so schlecht: Wir irren nie vollständig, wir wissen nicht nichts, denn obwohl wir nichts mit absolut letzter Gewissheit sagen können, so können wir doch immerhin etwas sagen. Und wir können es in einer vergewissernden Weise tun: "Siehst du dort auch Silvia?", "Siehst du dort auch einen Menschen?". Und wenn beide zum Schluss kommen, dass es sich um Silvia und einen Menschen handelt, dann haben sie in diesem intersubjektiven Moment doch wenigstens keinen Grund zu noch mehr Zweifel, sondern weniger.

Aber das Problem geht ja noch tiefer: Es wird ja bezweifelt, wenn ich es richtig sehe, dass es da überhaupt so etwas wie sinnvolle Beschreibungen dessen geben könnte, was Silviasein oder Menschsein bedeutet. Wenn wir feststellen, dass dort ein Mensch steht, dann geht der Zweifel nicht so sehr auf die Wahrnehmung, sondern auf die existenzialistische Dimension dieses Menschseins. Die Frage, ob das Menschsein materialistisch oder 'platonisch' verstanden werden soll, lässt sich aus der Warte der aporetischen Situation gesehen, nicht beantworten. Das ist die entscheidende Frage: Was ist dieses Etwas, dieser Mensch, diese Silvia?

Ich kann nachvollziehen, dass du den Ausdruck Intersubjektivität meidest, mir ist dabei auch nicht wohl dabei, weil er missverstanden wird.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Fr 3. Apr 2020, 13:55

Objektivität
Ich schliesse mich der Intepretation von Jörn an. Ein objektives Urteil ist ein solches, das die Wahrheitswerte <wahr/falsch> hat.
Nun, was aber bedeutet das genau mit Blick auf diese Urteile, wenn wir den Inhalt des Urteils selbst bezweifeln?

Wenn wir etwas in einem Urteil ausdrücken, z.B. "Dort steht ein Mensch", wir aber gar nicht eindeutig und mit letzten Gründen angeben können, weshalb es wahr sein soll, dass es ein Mensch ist, dann kriegen wir mit der Objektivität Probleme. Wenn die Wahrheitsbedingungen selbst zur Disposition stehen, dann bleibt nur ein Skeptizismus und ein melancholischer dazu. Das ist m.E. Schimmermatts Einwand, dass man <Objektivität> gar nicht zu fassen kriegt, weil sich das Objekt der Objektivität unserem Wissen resp. Wissenkönnen entzieht.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Sa 4. Apr 2020, 11:38

.. und ich möchte nachschieben: Dass sich das Wesen der Dinge entzieht, halte ich für einen Irrglauben. Es ist ja nicht so, dass wir das Wesen von Dingen in ihrer Gänze kennen und erfassen müssten, um zu wissen, dass es sich um diese Dinge handelt, dass es sich so und so mit ihnen verhält, dass sie in diesem Sinne das und in einem anderen jenes bedeuten.

Vieles davon, was wir über Dinge wissen, besser gesagt, was wir über sie aussagen, verknüpft sich mit Annahmen darüber, die ein ganzheitlicheres Bild dieses Etwas rekonstruieren lässt. Aber dass wir etwas rekonstruieren, dass wir Meinungen in der Annahme erweitern, es verhalte sich mit den Dingen so, das muss keinen unpräzisen Wahrheitsbegriff implizieren. Die "Rekonstruktionstheorie der Wahrheit", man erlaube mir diese anekdotische Bemerkung, besagt nur, dass wir uns auf dem Weg einer immer präziseren Erkenntnis dessen befinden, was faktische Sachlage ist. Wir haben nichts anderes als dieses iterative Verfahren, aber es ist schon viel.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

So 5. Apr 2020, 11:10

Alethos hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 12:51
Was ich sagen will: Mag es auch kein Wissen über das Gute geben, weil es keinen Gegenstand gibt, der in platonischer Manier als solch' Gutes erfasst und erkannt werden kann, so bleiben uns wenigstens unsere mehr oder weniger gut fundierten Meinungen darüber, was dieses sein könnte und warum. Wir kommen, anders gesagt, gar nicht umhin, uns in eine Lage zu versetzen, in der es uns plausibel erscheint, dies oder das für wahr zu halten. Und das ist der rationalistische Boden, auf dem die (zugegebenermassen minimale) Hoffnung ihre Überlebensmöglichkeit findet: Dass man es sich herbeireden könne! Performativ und pragmatisch zwar, aber sich doch wenigstens entschieden gegen das Nichts wendend.
Lieber Alethos, ich wollte nicht dazwischengehen und außerdem dachte ich mir, daß ichs vielleicht doch noch verstünde - was aber nicht der Fall. Sag' mal, daß man sich was herbeireden könne? (irgendetwas für wahr zu halten?) oder liegt die Betonung auf dem "herbeireden"? Dann verstehe ich Deine Äußerung aber genauso wenig, denn Du zeigst auf, daß wir niemals ohne irgendwelche Grundannahmen auskommen. Die aber müssen doch nicht herbeigeredet werden?! Weswegen mir Dein Zusatz "performativ und pragmatisch" ebenfalls nicht klar ist. Du analysierst, wie ich es sehe und wo ist da das pragmatische Moment?




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

So 5. Apr 2020, 13:45

Friederike hat geschrieben :
So 5. Apr 2020, 11:10
Alethos hat geschrieben :
So 29. Mär 2020, 12:51
Was ich sagen will: Mag es auch kein Wissen über das Gute geben, weil es keinen Gegenstand gibt, der in platonischer Manier als solch' Gutes erfasst und erkannt werden kann, so bleiben uns wenigstens unsere mehr oder weniger gut fundierten Meinungen darüber, was dieses sein könnte und warum. Wir kommen, anders gesagt, gar nicht umhin, uns in eine Lage zu versetzen, in der es uns plausibel erscheint, dies oder das für wahr zu halten. Und das ist der rationalistische Boden, auf dem die (zugegebenermassen minimale) Hoffnung ihre Überlebensmöglichkeit findet: Dass man es sich herbeireden könne! Performativ und pragmatisch zwar, aber sich doch wenigstens entschieden gegen das Nichts wendend.
Lieber Alethos, ich wollte nicht dazwischengehen und außerdem dachte ich mir, daß ichs vielleicht doch noch verstünde - was aber nicht der Fall. Sag' mal, daß man sich was herbeireden könne? (irgendetwas für wahr zu halten?) oder liegt die Betonung auf dem "herbeireden"? Dann verstehe ich Deine Äußerung aber genauso wenig, denn Du zeigst auf, daß wir niemals ohne irgendwelche Grundannahmen auskommen. Die aber müssen doch nicht herbeigeredet werden?! Weswegen mir Dein Zusatz "performativ und pragmatisch" ebenfalls nicht klar ist. Du analysierst, wie ich es sehe und wo ist da das pragmatische Moment?
Stellen wir uns eine Situation vor, die wir vielleicht als aporetische bezeichnen würden. Dort steht ein hungernder Obdachloser. Zwei Passanten gehen an ihm vorbei. Beide schauen sich an und fragen sich: Müssen wir ihm helfen? Müssen wir ihm zu essen geben oder ein wenig Geld, damit er weniger leidet? Der eine kommt zum Schluss, es sei geboten, dass man dem hungernden Obdachlosen auf der Strasse hilft. Der andere behauptet das Gegenteil, dass es geboten ist, es nicht zu tun. Wie wollen wir hier zu einer objektiv richtigen Meinung darüber kommen, was geboten ist? Wir können es nicht. Wir können es zumindest dann nicht, wenn wir <Objektvität> so auslegen, als ob sie nur Sachverhalte beträfe, die nichts mit dem zu tun haben, was wir denken, fühlen und tun.

Wenn <Objektivität> so vorgestellt wird, dass sie nur nackte Dingtatsachen umfasst, dann gibt sie keine Antworten darauf, was in einer Situation geboten und verboten ist. Eine solche Objektivität kann nur deskriptiv sein. Aber ist das wirklich ein praktikabler Objektivitätsbegriff? Ist es wirklich sinnvoll, so zu tun, als kämen wir in der Welt als Denkende, Fühlende und Handelnde gar nicht vor? Wir sind Teil von Welt und unsere Ansichten haben einen intentionalen Gehalt, sie haben einen Bezug zur Wirklichkeit. Wenn wir über Sachverhalte zu Ansichten kommen, z.B. über die Frage nachdenken, ob es geboten sei oder nicht, dem Hungernden zu helfen, dann befragen wir ja nicht einfach unser "Inneres", irgend ein Dumpfes Gefühl, sondern wir fragen nach Gründen in der objektiven Welt, die für ein bestimmtes Tun sprechen. Rationalität hat es also nicht einfach mit Meinungen zu tun, sondern mit begründeten Meinungen über die Welt.

Hier wendet der (moralische) Skeptiker ein, dass wir nie über das Meinen hinauskommen. Wir bleiben Nichtwissende, egal, welche Annahmen wir treffen. Denn entweder täuscht uns da ein Täuschergott vor, dass es sich so und so mit den Dingen verhalte, obwohl es nicht so ist. Dann ist Objektivität eine Täuschung und wir können uns nicht auf sie berufen, um unsere Ansichten zu begründen. Oder aber es gibt da tatsächliche eine Objektivität, die wir aber nie erfassen können, weil alle unsere Theorien, um diese Wirklichkeit zu beschreiben, fallibel sind.

Und nun kommt das pragmatische Moment: Auch wenn unsere Ansichten fallibel sind und unsere Theorien unpräzise, in letzter Konsequenz, nicht einmal einen letzten Grund erfassen können, so nehmen wir dennoch an, dass etwas an ihnen wahr ist. Der Skeptiker sagt, Objektivität sei immer ein epistemischer Begriff und unsere Episteme stifteten keine Wahrheit. Aber es ist doch auch für diesen Skeptiker so, dass er sich darauf verlässt, dass ihn der Stuhl tragen wird, wenn er sich auf ihn setzt. Er wird davon ausgehen, dass er vorankommt, wenn er geht. Er fällt nicht ins Bodenlose und ins Grundlose, wenn er die letzten Gründe für seine Ansichten nicht finden kann.

Wir befinden uns also als Menschen in einer pragmatischen Grundsituation, in der wir setzen und annehmen müssen, dass es sich so und so verhält, damit wir in dieser Welt überleben können. Wir müssen Grundannahmen gelten lassen, auch wenn es keine logischen Beweise dafür gibt, dass sie wahr sind, weil es ausreicht, rationale Gründe zu haben, die dafür sprechen, bestimmte Meinungen über die Welt zu haben. Und so verhält es sich auch mit der Frage, ob es geboten oder verboten ist, dem Hungernden zu helfen. Es mag keine Einsicht in die absolut letzten Gründe geben, die dafür sprechen, dem Hungernden zu helfen, aber es gibt sehr wohl rationale und objektive Gründe, die dafür sprechen, und diese sind hinreichende Gründe dafür, so und so zu handeln. Diese Gründe gelten also, weil wir so handeln, als ob sie letztbegründend wären. So wie wir uns setzen, als ob wir wüssten, dass der Stuhl uns trägt. So helfen wir in der Annahme, es sei richtig zu helfen: Weil es sich bewährt hat zu glauben, dass es gut sei.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23424
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 5. Apr 2020, 14:21

Alethos was ist mit dir los?, ich habe alles verstanden! :)




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23424
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 5. Apr 2020, 14:41

Ich würde einen kleinen Einwand, bzw eine kleine Ergänzung machen wollen. Was bedeutet denn die Rede von den letzten Gründen? Nach meinem Gefühl ist das von einem bestimmten Bild von Gründen geleitet. Gründe sind in diesem Bild eine Art begriffliche Angelegenheit. Ist der Grund gegeben worden, kann gleich der nächste erfragt werden. Gibt es hier einen Grund, folgte nächste auf den Fuß... Bis ultimo oder eben bis zum letzten zwb ersten Grund.

Aber wenn Gründe von Tatsachen geliefert werden und nicht von begrifflichen Strukturen, dann liegen die Dinge meines Erachtens anders. Die Situation des Hungernden selbst liefert einen Grund, ihm zu helfen. Das ist kein semantisches Spiel, dass wir unendlich lang weiterspielen können, sondern eine ganz konkrete Situation. Dass er Hilfe braucht, liefert uns einen Grund ihm zu helfen. Es gibt keinen ersten, es gibt keinen letzten Grund es gibt diese Tatsache.

Das ist das gleiche Spiel wie bei epistemischen Gründen. Wenn man mich fragt, woher ich weiß, dass der Schlüssel auf dem Tisch liegt und ich sage: ich sehe ihn doch, dann hat es an dieser Stelle in aller Regel einfach keinen Sinn weiter zu fragen. Dass ich ihn dort sehe, das bietet mir einen Grund, zu meinen, dass er dort liegt. Die Rede von ersten oder letzten Gründen ist hier ganz sinnlos. Gründe sind in den Zusammenhängen, die ich skizziert habe, wenn man so sagen möchte, etwas lokales.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

So 5. Apr 2020, 15:20

Ah ja, nach mehrfachem Lesen verstehe ich nun auch - die "pragmatische Grundsituation" ist der Schlüssel ... zu meinem Verstehen.




Benutzeravatar
Jovis
Beiträge: 228
Registriert: So 19. Apr 2020, 08:46

So 19. Apr 2020, 17:46

Da ich neu in diesem Forum bin, wollte ich eigentlich nur ein wenig hier und da hineinlesen, aber dann bin ich ganz schnell an diesem Thema hängengeblieben, zunächst, weil mir der Name Schimmermatt noch so gut in Erinnerung war, aber dann vor allem wegen der existentiellen Wucht, die hier drinsteckt und die mich sehr berührt hat.
Ich denke, dieses Thema ist bei Literatur ganz gut aufgehoben. Denn so viele gute Gründe hier auch genannt werden, so habe ich den Eindruck, dass es gerade die Gründe sind, die einen nur noch tiefer hineinreißen. Dass gerade Gründe es nur noch schlimmer machen, denn diese Gründe sind ja alles Konstrukte, unsere Konstrukte, und genau das ist es ja, was dieses existentielle Leiden ausmacht: dass es keinen festen Grund außerhalb von uns gibt, sondern wir alles selbst begründen und gründen müssen.*
Da unsere Gründe aber an keinem festen Grund verankert sind, schweben sie frei umher. Was noch nicht mal das Schlimmste wäre, sondern eigentlich ein ganz schönes Bild, mit dem es sich vielleicht sogar leben ließe. Aber alle diese Gründe kann man zerplatzen lassen, einen nach dem anderen, wie Schimmermatt es hier ja fast lustvoll vorgeführt hat. Was sind solche Gründe wert?
Das Ich als Konstrukt, das Gründe für seine eigene Existenz konstruiert. (Münchhausen wurde ja schon erwähnt.) Und trotzdem kann man den Gedanken kaum aushalten, dass es dieses Konstrukt irgendwann einmal nicht mehr geben soll. Hybris schwingt da mit, und Selbstmitleid (was ich nicht abwertend meine – warum soll man nicht auch für sich selbst Mitgefühl haben).
Ob diese Sicht auf die Dinge allerdings „klarer, deutlicher, schärfer“ ist, will mir zumindest zweifelhaft erscheinen. Und genau deshalb finde ich es so interessant, dass du, Schimmermatt, dich mit diesem Thema (und auch anderen, wie ich gesehen habe) anscheinend im „Literarischen“ wohler fühlst als im „Philosophischen“. Dem Leben und dem Ich ist eben nicht nur mit Gründen beizukommen.


*Und auch können! Aber darauf will ich jetzt nicht eingehen, sondern mich erst einmal in Schimmermatts Position einfühlen, die mir sehr vertraut ist, auch wenn ich sie nicht mehr teile.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Mo 20. Apr 2020, 10:23

Jovis hat geschrieben :
So 19. Apr 2020, 17:46
[...] Denn so viele gute Gründe hier auch genannt werden, so habe ich den Eindruck, dass es gerade die Gründe sind, die einen nur noch tiefer hineinreißen. Dass gerade Gründe es nur noch schlimmer machen, denn diese Gründe sind ja alles Konstrukte, unsere Konstrukte, und genau das ist es ja, was dieses existentielle Leiden ausmacht: dass es keinen festen Grund außerhalb von uns gibt, sondern wir alles selbst begründen und gründen müssen.* [...]
*Und auch können! Aber darauf will ich jetzt nicht eingehen, sondern mich erst einmal in Schimmermatts Position einfühlen, die mir sehr vertraut ist, auch wenn ich sie nicht mehr teile.
Auf die Erläuterung Deiner Fußnote irgendwann ... gelegentlich vielleicht ...? bin ich ziemlich neugierig @Jovis. Insbesondere die Bedeutung des "können" interessiert mich. Daß wir alles selbst begründen und Grund in und durch uns legen müssen, das können wir natürlich auch, weil wir es ja offensichtlich tun, aber wenn es dann wieder Gründe + Grund sind, die mit einem Fingerschnipp wegzunichten sind, dann wäre dieses "können" doch eigentlich auch für die Katz?!




Benutzeravatar
Schimmermatt
Beiträge: 182
Registriert: Mo 2. Okt 2017, 10:34
Wohnort: Ruhrpottrand
Kontaktdaten:

Mo 20. Apr 2020, 17:40

Ich werde mir mal wieder widersprechen, indem ich spreche. Philosophisch habe ich weiterhin nichts anzubieten, ich fühle mich aber von Jovis recht gut charakterisiert. "Hybris und Selbstmitleid" mögen sich wenig schmeichelhaft anhören, aber das trifft es schon sehr genau, so spreche ich auch in dem Gedicht nebenan von "jugendlicher Hybris". Mir sind dabei zwei Dinge absolut bewusst: 1. Es geht um ein aporetisches Gefühl, welches mit philosophischen Mittelchen nicht weggeht - die diversen Optimismen, Pragmatismen, Realismen überzeugen mich nicht, dabei lasse ich es bewenden. 2. Das "Einfühlen" in meine Position halte ich selber nicht aus, daher kann ich es auch nicht empfehlen. Das ist natürlich ein pragmatischer Selbstwiderspruch und bringt mir Kopfschütteln philosophischer Communities ein, deshalb war ich auch seinerzeit froh über so viel Widerspruch und andererseits schweige ich nun zu allen diesbezüglichen Argumenten. Es tut aber, schon wieder paradox, irgendwie gut, nicht unverstanden zu bleiben.

Die Klarheit, Deutlichkeit und Schärfe attribuiere ich mir, weil mir jedes der hier angebotenen Philosopheme, aber auch Kant, Leibniz, Descartes, u.v.m. wie eine letztliche Kapitulation vor dem Grauen im Angesicht des sicher kommenden Nichts erscheint. Alle kulturellen Erscheinungen, auch die Philosophie, sind nur Beruhigungspillen zur Ablenkung vor dem Tod. Selbst die Sprache ist so gebaut, dass mein Nihilismus nicht ausdruckfähig ist, ohne gegen Logikregeln zu verstoßen, weshalb ich mir auch die bitter schmeckende Ironie erlaube, poetisch in Ausdruck zu bringen, was philosophisch nur zu fühlen, aber nicht zu argumentieren ist. Was hier als schlecht für meine Argumentation erkannt werden könnte, sehe ich als Zeichen dafür, dass meine These vom kulturellem Zirkus als Ablenkungsprogramm gegen das Grauen zutrifft. Daher treffen mich auch Kritiken wie "widersprüchlich", "Hybris und Selbstmitleid", "Narzissmus", "Nihilismus", "lustvoller Skeptizismus" nicht - stimmt alles, nutzt aber auch nix. In meinen Augen bin ich von einer Konsequenz, die sonst kaum jemand zu ziehen bereit ist, vermutlich weil das Grauen nichtdepressive Geister vorzeitig innehalten und nach "gesünderem" Denken suchen lässt, aber das weiß ich nicht und möchte nicht psychologisch spekulieren.

Ich liebe und hasse meinen Text. Ich möchte nicht, dass ihr das so seht wie ich, aber ich möchte in meiner Verzweiflung auch verstanden werden. Eigentlich möchte ich, dass jemand von Euch überzeugend zaubert und festen Grund und Ewigkeit schafft. Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht passieren wird und ich auf jeden Fall in kosmisch sehr kurzer Zeit sterben werde. Noch einige kosmische Wimpernschläge später wird niemand mehr wissen, dass es mich je gab.



"Manche Leute werden heutzutage langsam wahnsinnig. Ich schnell." C. Schlingensief

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23424
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mo 20. Apr 2020, 20:16

Wenn der Wert des Lebens nicht im Leben selbst liegt, wie sollte denn eine Verlängerung des Lebens auf unendlich etwas bewirken? Oder anders ausgedrückt, warum sollte man von etwas unendlich viel haben wollen, was keinen Wert hat?




Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Mo 20. Apr 2020, 21:53

Ich denke nicht, Jörn, dass Argumente jedweder Art verfangen werden. Schimmermatt hat es ausdrücklich vorweggenommen, dass sie es nicht tun.
Vielleicht müssen wir, die das Leben mit Freude begehen, einfach einsehen und verstehen: Es gibt da eine Schwere, eine Traurigkeit mit Blick auf den eigenen Tod, die alles andere überschattet. Wir müssen vielleicht auch einsehen, dass der einzige Weg, einander dabei zu helfen, es zu ertragen, der ist, dass wir einander beistehen. Nicht mit Rat und guten Argumenten, sondern mit Verständnis und Mitgefühl.

Schliesslich spendet es doch Trost, irgendwo, dass wir alle sterben müssen. Darin sind wir uns wenigstens ganz sicher gleich: Dass wir geboren werden und sterben. Und wenn sich auf diesem grössten gemeinsamen Nenner doch kein Frohmut und keine Hoffnung entwickeln lässt, so vielleicht aber wenigstens ein kleines Stück Miteinander.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23424
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 21. Apr 2020, 06:03

Jovis hat geschrieben :
So 19. Apr 2020, 17:46
Ich denke, dieses Thema ist bei Literatur ganz gut aufgehoben. Denn so viele gute Gründe hier auch genannt werden, so habe ich den Eindruck, dass es gerade die Gründe sind, die einen nur noch tiefer hineinreißen. Dass gerade Gründe es nur noch schlimmer machen, denn diese Gründe sind ja alles Konstrukte, unsere Konstrukte, und genau das ist es ja, was dieses existentielle Leiden ausmacht: dass es keinen festen Grund außerhalb von uns gibt, sondern wir alles selbst begründen und gründen müssen
Alethos hat geschrieben :
Mo 20. Apr 2020, 21:53
Ich denke nicht, Jörn, dass Argumente jedweder Art verfangen werden. Schimmermatt hat es ausdrücklich vorweggenommen, dass sie es nicht tun.
Der Philosoph der Derek Parfit berichtet, dass er sein ganzes Leben auch im Hinblick auf seine Sterblichkeit viel leichter genommen hat, nachdem er eine neue Sichtweise bei der Frage nach der personalen Identität entwickelt hat. Bei dem Philosophen Wolfgang Welsch habe ich gelesen, dass ein längerer Aufenthalt am Meer einen turnaround für sein gesamtes Denken bedeutete. Das Meer als Argument!

Da wir nicht voraussehen können, welchen Tatsachen wir im Leben noch begegnen werden, können wir auch nicht wissen, ob uns Argumente letztlich überzeugen werden oder auch nicht. Offenbar geht es hier ja nicht um ein philosophisches Glasperlenspiel, Jovis sprach von einer existenziellen Wucht. Ich glaube nicht, dass die Philosophie hier zur Wirkungslosigkeit verdammt ist. Schließlich hat sie die Suppe auch eingebrockt, meine ich.


Archaischer Torso Apollos (Rilke)

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23424
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 21. Apr 2020, 06:13

Alethos hat geschrieben :
Mo 20. Apr 2020, 21:53
Es gibt da eine Schwere, eine Traurigkeit mit Blick auf den eigenen Tod, die alles andere überschattet
Ludwig Wittgenstein hat geschrieben : “6.4311
Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.
Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.
Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.
Der Tod kann keinen Schatten werfen. Denn den Tod gibt es schließlich gar nicht. Ich habe mal meine Enkelin gefragt, wo sie war, lange bevor sie geboren wurde. Ich weiß nicht mehr, wie alt sie da war, auf jeden Fall noch vor der Schulzeit. Sie ist kurz in sich gegangen, hat nachgedacht und dann hat sie geantwortet: "So etwas wie tot?" Damit hat sie ein bekanntes philosophisches Argument ins Spiel gebracht, natürlich ohne es zu kennen. Tot sein heißt einfach, nicht zu existieren. Damit haben wir viel "Erfahrungen", die meiste Zeit der Geschichte des Universums haben wir schließlich nicht existiert. Der Tod sollte uns also nicht so sehr bedrücken, dass wir unser Leben richtig gestalten hingegen sehr! Denn das ist das, was es wirklich gibt! Und es ist das, was wir formen können.

Es gibt hier auf diesem Planeten ein wunderliches Ereignis. Inmitten des Schwarz des Universums ist Leben entstanden. Und wir dürfen dabei sein :) das war sicherlich unwahrscheinlicher als ein 6er, 7er, 8er ... 1000er im Lotto. Dieser fantastische Gewinn ist doch eigentlich Grund zur Freude!

Günter Kunert
Frist

Und Sonne war und fiel heiß auf sie nieder
und fiel auf mich der ich doch bei ihr war.
Die Wellen gingen fort und kamen immer wieder
zurück voll Neugier zu dem nackten Paar.

Ein wenig Fleisch auf soviel Sandgehäufe
ein wenig Frist in ziemlich viel Unendlichkeit
ein wenig Leben und zwei Lebensläufe
darüber Sonne und darunter Dunkelheit.




Benutzeravatar
Jovis
Beiträge: 228
Registriert: So 19. Apr 2020, 08:46

Di 21. Apr 2020, 07:08

Friederike hat geschrieben :
Mo 20. Apr 2020, 10:23
Auf die Erläuterung Deiner Fußnote irgendwann ... gelegentlich vielleicht ...? bin ich ziemlich neugierig @Jovis.
Ja, da habe ich den Mund ziemlich voll genommen, nicht wahr? Das ist mir hinterher auch aufgefallen, aber ich hoffte, es würde niemand bemerken. Nun legst du genau darauf den Finger! 8-)

Eine Antwort in Kladde würde ungefähr in diese Richtung gehen: Gründe sind für mich nichts Statisches, also nichts, was einer Statik bedürfte wie ein Haus, das ein Fundament braucht, damit es steht, und darauf setzt man dann Stockwerk auf Stockwerk, und wenn das Fundament wegbricht, stürzt das ganze Haus ein. Sondern Gründe sind für mich eher etwas Organisches oder etwas Relationales. Gründe beziehen sich auf andere Gründen und bilden mit der Zeit ein Geflecht, das immer stärker wird und immer besser hält. Wenn dieses Geflecht an einer Stelle einreißt, so trägt es im Großen und Ganzen trotzdem noch. Und in diesem Sinne können wir eigentlich ganz gut begründen, finde ich.




Benutzeravatar
Jovis
Beiträge: 228
Registriert: So 19. Apr 2020, 08:46

Di 21. Apr 2020, 07:09

Jörn, das Rilke-Gedicht spukte mir auch schon durch den Kopf in diesem Zusammenhang!




Benutzeravatar
Jovis
Beiträge: 228
Registriert: So 19. Apr 2020, 08:46

Di 21. Apr 2020, 07:11

Zu Hybris und Selbstmitleid, Schimmermatt:

Man könnte es auch anders ausdrücken: Das Wissen um meine Einzigartigkeit, und die tiefe Trauer, dass diese Einzigartigkeit nach kurzer Zeit einfach wieder vernichtet wird.

Mehr später, jetzt muss ich zur Arbeit.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Di 21. Apr 2020, 12:04

Schimmermatt hat geschrieben :
Mo 20. Apr 2020, 17:40
[...]Ich liebe und hasse meinen Text. Ich möchte nicht, dass ihr das so seht wie ich, aber ich möchte in meiner Verzweiflung auch verstanden werden. Eigentlich möchte ich, dass jemand von Euch überzeugend zaubert und festen Grund und Ewigkeit schafft. Gleichzeitig weiß ich, dass das nicht passieren wird und ich auf jeden Fall in kosmisch sehr kurzer Zeit sterben werde. Noch einige kosmische Wimpernschläge später wird niemand mehr wissen, dass es mich je gab.
Weil mir Deine Grundbefindlichkeit vertraut ist, deswegen bin ich auf Deine Anmerkung @Jovis, sofort angesprungen. Daß wir mit Gründen einen Grund bauen können, das schien mir wie eine Verheißung, der ersehnte Zauberspruch fände sich vielleicht doch noch.

I. Aichinger schreibt: Keinen Trost mehr zu erwarten ist der Ursprung der Fröhlichkeit. Verzweiflung erwartet immer noch Trost, sie schielt, ist wie ein Kind, das beim Einschauen durch die Finger sieht, um zu erfahren, wo sich die andern verstecken. ("Kleist, Moos, Fasane", 1991, S. 55).

Ich habe keinerlei Ambitionen, andere Menschen zu retten, mich hingegen schon; die Einwilligung in die Trostlosigkeit erscheint mir immer wie die ultima ratio , die zu wählen ich jetzt -jeweils das gegenwärtige "jetzt"- noch nicht bereit bin, weil ich mich dann gegebenenfalls der letzten aller Möglichkeiten beraube.




Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Di 21. Apr 2020, 14:27

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 20. Apr 2020, 20:16
Wenn der Wert des Lebens nicht im Leben selbst liegt, wie sollte denn eine Verlängerung des Lebens auf unendlich etwas bewirken? Oder anders ausgedrückt, warum sollte man von etwas unendlich viel haben wollen, was keinen Wert hat?
Nur um des Argumentes willen, @Jörn. Wie das Leben beurteilt/bewertet wird, bemißt sich daran, ob es ewig dauert oder vergänglich ist, könnte man doch sagen, oder nicht?




Antworten