Ich - Leiden an der aporetischen Existenz

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Jörn Budesheim
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Fr 13. Mär 2020, 06:35

Schimmermatt hat geschrieben :
So 8. Mär 2020, 20:54
Ich weiß, dass es mich eigentlich aber jetzt schon gar nicht gibt. „Ich“ ist eine Ansammlung von Molekülen, die gelernt hat, zu diesem Aggregat „Ich“ zu sagen.
Wenn man kein Physiker ist, woher weiß man das denn mit solcher Sicherheit? Es ist schließlich nicht so, dass in der Physik über alle Fragen Einigkeit herrscht. Die Idee, dass das Universum aus Grundelementen besteht, die letztlich das sind, was es wirklich gibt, ist zwar eine zweieinhalbtausend Jahre alte philosophische Idee, aber es ist nicht der Wissensstand der zeitgenössischen Physik.

In einem Vortrag habe ich vor kurzem von einem gewissen George Ellis gehört. Er hat als einer der führenden Kosmologen und Physiker gezeigt dass starke Emergenz/top-down Verursachung in der Physik auch schon bei kleinen Skalen zu finden ist. Aber das beschränkt sich nach seiner Sicht nicht auf den Bereich Physik. Ich habe ein Interview mit ihm gefunden, leider auf englisch, es ist mit deepl etwas holprig übersetzt, indem er das deutlich macht.

Damit kündigt er nach meinem Verständnis genau jene Metaphysik auf, von der ich weiter oben gesprochen habe. Unter Metaphysik verstehe ich den Bereich in der Philosophie bei dem es um das Ganze geht. In der Regel geht es dort mit Aussagen zu wie: alles ist Wasser, alles ist Geist, alles ist Atom.

Nach meinem Kenntnisstand steht diese Sichtweise nicht nur in der Philosophie, sondern anscheinend auch in der Physik auf dem Prüfstand - vorsichtig formuliert. Ich für meinen Teil sehe es wie Ellis: ich halte es für nachgerade selbstverständlich, dass diese Idee, alles ließe sich bottom-up erklären falsch ist. Wir selbst - jede/r einzelne von uns - sind real und keineswegs bloß ein Molekülhaufen. Und selbst wenn man sich der Ansicht Ellis nicht anschließen möchte, sollte man doch zumindest in Rechnung stellen, dass diese Ideen in der Physik auf keinen Fall als gesichertes Wissen gelten können. Mit anderen Worten, es ist einfach nicht richtig, dass man wissen kann, dass man eine Ansammlung von Molekülen ist.

Ellis z.b. hält den Glauben, dass die gesamte Realität physikalisch ist und mit den Mitteln der Physik vollständig verstanden werden kann für ein Hirngespinst.


[...]

Horgan: In einigen Ihrer Schriften warnen Sie vor einem übermäßigen Determinismus in der Physik und Wissenschaft. Könnten Sie Ihre Bedenken zusammenfassen?

Ellis: Viele Wissenschaftler sind starke Reduktionisten, die glauben, dass die Physik allein die Ergebnisse in der realen Welt bestimmt. Das ist nachweislich unwahr - zum Beispiel könnte der Computer, auf dem ich dies schreibe, unmöglich allein durch die Physik entstanden sein.

Das Problem ist, dass diese Wissenschaftler sich auf einige Stränge im Netz der Kausalzusammenhänge konzentrieren, die tatsächlich existieren, und andere ignorieren, die nachweislich vorhanden sind - wie Ideen in unseren Köpfen oder Algorithmen, die in Computerprogrammen verkörpert sind. Diese handeln nachweislich von oben nach unten, um physikalische Effekte in der realen Welt zu verursachen. All diese Prozesse und tatsächlichen Ergebnisse sind kontextabhängig, und dies ermöglicht die Wirksamkeit von Prozessen wie der adaptiven Auswahl, die der Schlüssel zur Entstehung echter Komplexität sind.

[...]

Horgan: Einstein schien im folgenden Zitat den freien Willen anzuzweifeln: "Wäre der Mond bei der Vollendung seines ewigen Weges um die Erde mit Selbstbewusstsein begabt, würde er sich zutiefst davon überzeugt fühlen, dass er seinen Weg aus eigenem Antrieb geht.... So würde ein Wesen, das mit höherer Einsicht und vollkommenerer Intelligenz ausgestattet ist, den Menschen und sein Tun beobachten und über die Illusion des Menschen lächeln, dass er nach seinem eigenen freien Willen handelt. Glauben Sie an den freien Willen?

Ellis: Ja. Einstein verewigt den Glauben, dass alle Ursachen von unten nach oben gerichtet sind. Das ist einfach nicht der Fall, wie ich an vielen Beispielen aus der Soziologie, den Neurowissenschaften, der Physiologie, der Epigenetik, den Ingenieurwissenschaften und der Physik zeigen kann. Außerdem hätte Einstein, wenn er keinen freien Willen in einem sinnvollen Sinne gehabt hätte, nicht für die Relativitätstheorie verantwortlich sein können - sie wäre ein Produkt von Prozessen auf niedrigerer Ebene gewesen, aber nicht das Ergebnis eines intelligenten Verstandes, der zwischen möglichen Optionen wählt.

Es fällt mir sehr schwer, dies zu glauben - es scheint in der Tat keinen Sinn zu ergeben. Physiker sollten die vier Formen der Kausalität des Aristoteles beachten - wenn sie den freien Willen haben, zu entscheiden, was sie tun. Wenn sie das nicht haben, warum dann Zeit mit ihnen reden?

Sie sind dann nicht verantwortlich für das, was sie sagen.

[...]

George Francis Rayner Ellis (* 11. August 1939 in Johannesburg, Südafrika) ist Kosmologe und Professor für angewandte Mathematik an der Universität Kapstadt in Südafrika.

Neben seinen über 200 wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Kosmologie und Relativitätstheorie ist Ellis (zusammen mit Stephen Hawking) der Co-Autor des Standardwerks The Large scale Structure of Space Time. Er gilt als einer der international führenden Kosmologen.

https://blogs.scientificamerican.com/cr ... free-will/




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Mär 2020, 06:51

Ähnlich liegt es nach meinem Verständnis mit deinem existenziell - philosophischen Problemen. Nicht etwa die Moleküle haben es verursacht, sondern deine Vorstellung davon, was dein eigener Platz im Universum ist. Was ist das anders als top-down Verursachung? Das ist mentale Verursachung.

Machen wir dazu ein kleines Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, ich könnte dich mit rationalen Argumenten davon überzeugen, dass deine Metaphysik verfehlt ist und damit dein Selbstbild. Dass ich oder jemand anderes dich davon überzeugt, ist schließlich logisch nicht ausgeschlossen :)

Wenn das gelänge, hätte es doch einen großen Einfluss auf dein Selbstbild. Und das würde zeigen, dass dass du ein freies geistiges Wesen bist, weil deine Selbstbestimmung, sprich deine Freiheit ein Einfluss darauf hat, natürlich nicht als einziges, wer du bist und wie du lebst. Wäre es anders, hätte es nicht mal Sinn, überhaupt darüber zu reden, denn du müsstest du schließlich denken: so sind sie eben die physikalischen Naturgesetze.




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Friederike
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Fr 13. Mär 2020, 16:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Mär 2020, 06:51
Ähnlich liegt es nach meinem Verständnis mit deinem existenziell - philosophischen Problemen. Nicht etwa die Moleküle haben es verursacht, sondern deine Vorstellung davon, was dein eigener Platz im Universum ist. Was ist das anders als top-down Verursachung? Das ist mentale Verursachung.
Jörn hat geschrieben : Mit anderen Worten, es ist einfach nicht richtig, dass man wissen kann, dass man eine Ansammlung von Molekülen ist.
Ich frage nur nach, um mich zu vergewissern, ob ich Deine Argumentation richtig verstanden habe.

Beide Formen der Verursachungs-Theorie lehnst Du ab? (bottom-up + top down).

Deine, die nicht-metaphysische Lösung hast Du bisher nicht dargelegt, oder ist sie in dem, was Du für "falsch" erachtest, entweder impliziert oder läßt sich konsequent daraus ableiten?




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Mär 2020, 16:48

Friederike hat geschrieben :
Fr 13. Mär 2020, 16:22
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Mär 2020, 06:51
Ähnlich liegt es nach meinem Verständnis mit deinem existenziell - philosophischen Problemen. Nicht etwa die Moleküle haben es verursacht, sondern deine Vorstellung davon, was dein eigener Platz im Universum ist. Was ist das anders als top-down Verursachung? Das ist mentale Verursachung.
Jörn hat geschrieben : Mit anderen Worten, es ist einfach nicht richtig, dass man wissen kann, dass man eine Ansammlung von Molekülen ist.
Ich frage nur nach, um mich zu vergewissern, ob ich Deine Argumentation richtig verstanden habe.

Beide Formen der Verursachungs-Theorie lehnst Du ab? (bottom-up + top down).

Deine, die nicht-metaphysische Lösung hast Du bisher nicht dargelegt, oder ist sie in dem, was Du für "falsch" erachtest, entweder impliziert oder läßt sich konsequent daraus ableiten?
Ich versuche darzulegen, dass die buttom-up-Versuchung nicht die einzige Art der Verursachung ist, es gibt auch top-down-Verursachung. Die nicht-metaphysische Lösung entspricht ungefähr dem, was der Kosmologe Ellis vorgetragen hat: Es gibt nicht nur Ursachen von unten nach oben. "Das ist einfach nicht der Fall, wie ich an vielen Beispielen aus der Soziologie, den Neurowissenschaften, der Physiologie, der Epigenetik, den Ingenieurwissenschaften und der Physik zeigen." Damit deutet er nach meinem Verständnis eine Vielzahl von Bereichen an, die alle ganz und gar real und kausal wirksam sind.




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Friederike
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Fr 13. Mär 2020, 17:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 13. Mär 2020, 16:48
Ich versuche darzulegen, dass die bottom-up-Versuchung nicht die einzige Art der Verursachung ist, es gibt auch top-down-Verursachung. Die nicht-metaphysische Lösung entspricht ungefähr dem, was der Kosmologe Ellis vorgetragen hat: Es gibt nicht nur Ursachen von unten nach oben. "Das ist einfach nicht der Fall, wie ich an vielen Beispielen aus der Soziologie, den Neurowissenschaften, der Physiologie, der Epigenetik, den Ingenieurwissenschaften und der Physik zeigen." Damit deutet er nach meinem Verständnis eine Vielzahl von Bereichen an, die alle ganz und gar real und kausal wirksam sind.
Aha. Danke. Jetzt kriege ich die Bausteine allmählich zusammen. Ich zitiere aus einem Beitrag von Dir von vor 2 Tagen:
Jörn hat geschrieben : In einem Vortrag habe ich vor kurzem von einem gewissen George Ellis gehört. Er hat als einer der führenden Kosmologen und Physiker gezeigt dass starke Emergenz/top-down Verursachung in der Physik auch schon bei kleinen Skalen zu finden ist. Aber das beschränkt sich nach seiner Sicht nicht auf den Bereich Physik. [...] Damit kündigt er nach meinem Verständnis genau jene Metaphysik auf, von der ich weiter oben gesprochen habe. Unter Metaphysik verstehe ich den Bereich in der Philosophie bei dem es um das Ganze geht. In der Regel geht es dort mit Aussagen zu wie: alles ist Wasser, alles ist Geist, alles ist Atom.




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Jörn Budesheim
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Fr 13. Mär 2020, 18:11

Ich habe mal einen Text eines Physikers gelesen, der das metaphysische Bild, was ich ablehne, und er befürwortete, sehr schön mit dem Bild eines Hauses illustriert hat. Dabei sollen wir uns alles, was es gibt, als ein Haus mit verschiedenen Stockwerken und jeweils verschiedenen Zimmern vorstellen. Das unterste Stockwerk ist der Bereich der Physik, dann folgt vielleicht die Chemie, dann die Biologie und vielleicht gibt es auch noch ein paar Stockwerke für Kultur oder ähnliches. Jedes Stockwerk ist noch in verschiedene Teilbereiche eingeteilt. Der Clou an dem Bild ist aber: letztendlich real und kausal wirksam (von unten nach oben, also bottom-up) ist in dieser Vorstellung nur das Fundament und das ist natürlich der Bereich, der von der Physik erforscht wird. Die Dinge im dritten oder vierten Stock mögen uns zwar real vorkommen, aber letztlich entscheidend ist nur das Fundament.

Zu Veranschaulichung: Bei einem Symposium hier in Kassel erläuterte der Biologe Cord Riechelmann, dass er im Biologie-Studium zunächst einmal “lernte”, dass Biologie nicht wirklich eine harte Naturwissenschaft ist, das gilt nur für die Physik.

Und genau in diesem Sinne heißt es bei dem Philosophen Markus Gabriel, dass es die Welt nicht gibt. Es gibt kein Fundament der Tatsachen, auf dass sich letztlich alles zurückführen lässt. Und wenn ich Ellis richtig verstehe, sieht er das genauso. Top down Kausalität heißt dann, dass die Dinge, die in der vierten oder fünften Etage geschehen nicht einfach "Epiphänomene" des Fundaments sind, sondern real wirksam sind, sie sind also sie selbst.

Mein Argument lautet jedoch jetzt nicht, dass diese Sichtweise wahr ist. (Was ich allerdings denke.) Ich will nur sagen, dass es nicht einmal in den Naturwissenschaften entschieden ist, was die Lage der Dinge ist; soweit ich sehe, gibt es einfach keine Einigkeit darüber. Und daher ist es beim Stand des jetzigen Wissens, nach meiner Einschätzung, sehr gewagt zu sagen/zu glauben, dass man mit Bestimmtheit wisse, dass man bloß eine Ansammlung von Molekülen ist.




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Jörn Budesheim
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Sa 14. Mär 2020, 07:20

herbert clemens hat geschrieben :
Do 12. Mär 2020, 14:53
Es gibt die wertschätzenden Anderen. Es gibt Liebe. Ich-Selbst kann mich durch meditative, kontemplative, philosophische Anstrengung stärken. (Unterforum Meditation) Offensichtlich ist ein „molekularer“ Ansatz in der Betrachtung menschlichen Seins nicht weiterführend.
Ja, es gibt die wertschätzenden Anderen, leider gibt es aber auch andere Andere :) aber ich gebe dir Recht, die gesellschaftliche Sphäre - in einem sehr weiten Sinne verstanden - ist für unser Selbstverständnis natürlich von großem Belang.

Noch ein Wort zu meiner eigenen Position - sozusagen zur Sicherheit, um Missverständnissen vorzubeugen: ich für meinen Teil finde einen "molekularen" Ansatz in der Betrachtung des menschlichen Seins durchaus auch weiterführend. Wir können und sollen uns auch zum Gegenstand unsere Naturwissenschaft machen. Allein schon aus Neugierde :) aber natürlich z.b. auch aus medizinischen Gründen. Ich lehne nur eine Deutungshoheit der Naturwissenschaften (über den Menschen) ab!




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Schimmermatt
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Sa 14. Mär 2020, 19:37

Ich muss sagen, ich empfinde Jörn fast noch tiefer in der aporetischen Falle, als mich selber. Noch das wenige Wissen, was ich zu haben meinte, kannst Du; Jörn, skeptisch negieren. Nicht, dass mein Wissen mir etwas genutzt hätte und ich habe auch gar nicht vor, es zu verteidigen. Aber was bleibt Dir? Wo bleibst Du?



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Jörn Budesheim
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Sa 14. Mär 2020, 20:15

Wieso sollte ich in einer aporetischen Falle sitzen?




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Friederike
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So 15. Mär 2020, 10:40

Schimmermatt hat geschrieben :
Sa 14. Mär 2020, 19:37
Ich muss sagen, ich empfinde Jörn fast noch tiefer in der aporetischen Falle, als mich selber. Noch das wenige Wissen, was ich zu haben meinte, kannst Du; Jörn, skeptisch negieren. Nicht, dass mein Wissen mir etwas genutzt hätte und ich habe auch gar nicht vor, es zu verteidigen. Aber was bleibt Dir? Wo bleibst Du?
Lieber Schimmermatt, ich bin brennend interessiert, was die Begründung für Deine Auffassung ist. Wenn Du Dich dazu durchringen könntest, vielleicht ganz knapp zu sagen, warum Du die "skeptische Negierung" für mißlungen hältst ... Bild




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Schimmermatt
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So 15. Mär 2020, 10:57

Liebe Friederike, gerne!

Ich halte Jörns Einwand gegen das materialistische "Wissen", welches ich in meinem Text so benannte, gar nicht für misslungen. Es ist eine präzise Widerlegung. Ich bin Anhänger der alten platonischen Vorstellung, dass Wissen "gerechtfertigter, wahrer Glaube" sei. Jörn hat deutlich gemacht, dass das lyrische Ich meines Textes, also eigentlich und tatsächlich sogar meine Person selbst, so es diese gibt (das finde ich nun zweifelhafter denn je), ungenau und etwas anmaßend von einem Wissen spricht. Wahrheit und vor allem Rechtfertigung können hier als Kriterien nicht erfüllt genannt werden und ich kann sie auch nicht liefern - in meinen Augen notwendig nicht liefern, was Teil der Aporie ist.

Dss Traurige ist, dass diese Widerlegung mir jetzt noch weniger möglich macht, einen Ausgangspunkt, einen Anker, für das Ich zu finden. Mit sehr alten Worten von mir gesagt: Mehr als das "etwas ist", bleibt nicht zu konstatieren.

So gerne erzähle ich das aber auch mittlerweile nicht mehr. Ich reiße Menschen in das aporetische Gefühl. Philosophie ist ein gefährliches Geschäft.



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Schimmermatt
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So 15. Mär 2020, 11:01

Jörn, was bist Du denn jetzt, nachdem Materialismus und Metaphysik ausfallen? Ganz gleich, ob auch Materialismus Metaphysik ist oder nicht.



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Jörn Budesheim
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So 15. Mär 2020, 11:13

Ich bin ein freies, geistiges Lebewesen aus Fleisch und Blut. Der Ausdruck "Mensch" ist auch nicht schlecht :)




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So 15. Mär 2020, 11:17

Schimmermatt hat geschrieben :
So 15. Mär 2020, 10:57
Ich reiße Menschen in das aporetische Gefühl.
Keine Sorge, ich bin ganz und gar immun dagegen :)




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Schimmermatt
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So 15. Mär 2020, 11:28

Gut, dann brauche ich nicht aus moralischen Gründen an meinem lang praktizierten Schweigen festhalten.

Ich sehe nicht, wie die Aporie von Deiner Antwort aufgelöst wird. Das "geistige Wesen" ist weder eine idealistische Seele, noch ein materialistisches Aggregat. Es ist gegenwärtig, nicht ewig, aber was Gegenwart heißt, ist aufgrund der Irrealität von Zeit unklar. Mir scheint Dein Ich nur ex negativo hergeleitet, bitte korrigiere mich, wenn ich falsch liege... bitte korrigiere mich, auch wenn ich richtig liege!!



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So 15. Mär 2020, 11:54

Ich habe mich hier zu deinem Eingangstext geäußert, ich habe versucht zu zeigen, was ich nachvollziehen kann und was mir daran unstimmig vorkommt und was nach meiner Einschätzung die Voraussetzungen sind, die nicht zu halten sind, wie ich denke. Das "klingt" natürlich irgendwie "ex negativo".

Dabei habe ich es allerdings nicht belassen. Ich habe als eine Bestimmung des ICH angegeben, dass es sich selbst bestimmen kann und muss. Das ist keineswegs eine bloß negative Bestimmung!




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So 15. Mär 2020, 12:43

Der Hinweis auf dem Kosmologen Georges Ellis und die starke Emergenz, die auf vielen Ebenen des Universums zu finden ist, ist meines Erachtens auch nicht bloß ein negativer Hinweis. Ellis ist ja sicherlich nicht der einzige Naturwissenschaftler, der diesen Punkt macht. Das heißt, es gibt Ebenen, die kausal auf das zurückwirken (von oben nach unten) aus dem sie unvorhersehbar hervorgegangen sind. Das gilt für biologische Organismen, die man als ganze betrachten muss natürlich umso mehr.

Das ist zwar auch ein negativer Hinweis auf die Idee, man sei in irgendeiner Form bloß eine Ansammlung von Molekülen, es ist aber zugleich eine positive Alternative, nämlich, dass man mit zunehmend komplexeren Ganzheiten zu rechnen hat.

Diese Ganzheiten etablieren ja eigene, neue Ordnungen, die es in Rechnung zu stellen gilt. Zwar spielen dabei Moleküle nach wie vor sicher irgendeine Rolle, aber der Hinweis auf sie kann die Ganzheit (des Organismus z.b.) allein nicht mehr erklären.




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So 15. Mär 2020, 13:49

Schimmermatt hat geschrieben :
Di 10. Mär 2020, 14:36
Besonders möchte ich nachfragen, inwiefern ich nicht ganz besonders wieder in die Auflösung des Ich hinein falle, wenn ich die enorme Umweltbezogenheit, die Du als möglichen Lösungsweg aus der Aporie andeutest, verfolge. Ich löse mich dann zwar nicht in meine Moleküle auf, was Du als unzulässigen bottom-up-approach kritisierst, aber bekomme dafür eine top-down-Disintegration, in der ich metaphorisch gesprochen Drohne im Bienenschwarm, metapyhsich gesprochen Rädchen im spinozistischen Uhrwerk werde. Die nicht-metaphysische Lösung würde mich existenziell, nicht als theoretische Spielerei, mehr als interessieren!
Jener "top-down-Disintegration" in Spinozismus entgegnest Du mit einer existenzialistischen Volte "Ich begegne mir in der Freiheit meiner Entscheidungen", wenn ich das richtig verstehe. Hier sehe ich viel "negativen Humanismus", viel "zur Freiheit gezwungen". Eben dort ist die Situation aporetisch! Ich muss mich hier, aufgrund der Erwartung der Anderen, auch aufgrund des "nicht bis zum Grund gucken könnens!", aufgrund der Unmöglichkeit "cogitans", statt "cogito" sagen und denken zu können, als Ich konstituieren. Das ist eine Explikation ex negativo, daher sehe ich es als aporetische EXISTENZ. Sartre lässt grüßen, ich kann seinen Atheismus bloß nicht mit der gleichen Grausamkeit gegen mich selbst ERTRAGEN (fraglich, ob Sartre das wirklich schaffte...). Aber im Stoizismus sehe auch ich die einzige Möglichkeit - wie Ludwig Marcuse oder Arthur Schopenhauer oder Albert Camus oder Buddha oder meinetwegen sogar Innozenz III. scheint mir das Aushalten und Erdulden ohne Lohn und Sinn alles, was man tun kann.



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So 15. Mär 2020, 13:57

In einer Hinsicht erschließt sich mir allerdings eine interessante, fast bitter ironische Konstanz: wir haben in den letzten zwei Jahrzehnten trotz mancher Versuche und Denkwege, trotz diesem und jenem, den Grundtenor unserer Überzeugungen nicht wirklich verlassen. Heute verstehe ich "itsnotme" aber... There is something, but it's not me!



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So 15. Mär 2020, 14:20

Ich habe den Grundtenor meiner Überzeugungen um 180 Grad gewandelt. Antirealistischen Tendenzen verfolge ich nicht mehr. Und mein Nickname lautet auch nicht mehr it's not me. Und das ist auch nicht meine Position bei der Fragestellung.




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