Fr 22. Dez 2017, 08:09
Okay, sprechen wir mal über Wirkungen.
Stellen wir mal die Frage: Was genau ist es, das die Pille erzeugt?
Die Pille erzeugt unsterbliche Verliebtheit. Also gut. Nehmen wir das Video mal beim Wort. Oder besser gesagt bei beiden Worten.
(Nachtrag: Der genaue Wortlaut im Video ist "ein Feuer der Liebe, das nie wieder erlöscht". Etwas poetischer, aber im Grunde das selbe mit anderen Worten.)
Was genau ist mit unsterblicher Verliebtheit gemeint? Eine Verliebtheit, die bis zum Tod genau so bleibt, nicht abklingen ("verlöschen") kann, sich nicht verändern kann...
Die Idee, bis zum Lebensende in einem einzigen, unveränderlichen und ewig währenden emotionalen Zustand festzuhängen, ist als solche schon ziemlich erschreckend.
Normalerweise entwickelt sich ein Verliebtheitsgefühl nicht so. Die Gefühle der Zuneigung verändern sich mit der Entwicklung der Beziehung auch inhaltlich. Mit der Liebespille wird also die Beziehung emotional zumindest bei einem der Partner in ihrem Anfangsstadium festgeschraubt. Auch Liebesbeziehungen entwickeln sich normalerweise nicht so.
Die Liebespille erzeugt unsterbliche Verliebtheit, aber sie erzeugt sie nur beim Empfänger und nicht bei dem, der sie verabreicht. Sie garantiert also keine Liebesbeziehung.
Die meisten Menschen sind in der Lage, mit Enttäuschungen mehr oder weniger gut umzugehen.
Was passiert, wenn Mark nach ein paar Jahren oder sogar noch früher Lisas überdrüssig wird und sie verlässt? (Angesichts der Tatsache, dass sie auf einen einzigen Empfindungszustand permanent festgeschraubt ist, ist das gar nicht allzu unwahrscheinlich.) Hat sie sich normal in ihn verliebt, so besteht die Möglichkeit, dass sie über ihn hinwegkommt. Das ist eine Erfahrung, die zum Leben dazugehört. Aber mit der Erzeugung unsterblicher Verliebtheit durch die Pille? Ihr gesamter emotionaler Haushalt ist festgeschraubt auf diese eine Empfindung. Die zu erwartenden Konsequenzen für sie und ihn kann sich jeder selbst überlegen. Es gibt natürlich auch ohne Pillen solche Fälle, aber es handelt sich um Ausnahmen, die wir zu Recht als pathologisch klassifizieren, und nicht um normale Fälle von Verliebtheit.
Wenn wir annehmen, dass Lisa vorher eine emotional einigermaßen stabile Persönlichkeit war, dann hat die Liebespille mehr getan als nur eine Empfindung zu erzeugen. Sie hat buchstäblich ihre emotionale Integrität zerstört. Auch das tut Verliebtheit normalerweise nicht. Das, was die Pille erzeugt, kann man Verliebtheit nennen, weil dieser Begriff zunächst mal nur eine Reihe von Empfindungen bezeichnet. Es ist aber auch eine Pathologie, und zwar eine schwere - irgendwo zwischen Obsession und Psychose. Jemandem, den man liebt, tut man so etwas nicht an. Vielleicht wusste Mark einfach nur nicht, was er da tut. Aber wenn er es wusste, dann empfand er keine Liebe für Lisa, sondern wollte sie lediglich besitzen - was die Verabreichung der Pille zu einem kriminell-unmoralischen Egoismus macht.
Die Pille war letztlich gar nicht dafür gedacht, bloß ein normales Verliebtheitsgefühl zu erzeugen. Normale Verliebtheitsgefühle zerstören nicht das, was man im Englischen agency nennt - die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Person, die an ihre einigermaßen sichergestellte emotionale Integrität gekoppelt ist. Sie war vielmehr dafür gedacht, die romantische Idee der "unsterblichen Verliebtheit" zu verwirklichen. Dass diese romantische Idee auf die Idealisierung von Pathologien hinausläuft, haben die großen Literaten der Weltgeschichte immer schon erkannt - ob nun Shakespeare mit seinem Mitsommernachtstraum oder auch mit Romeo und Julia (welches von ihm immer als Lehrstück gedacht war) oder Goethe mit seinem Werther. Die ganze Idee ist fehlgeleitet. Es handelt sich um ein ideologisches Konzept, nicht um eine adäquate Charakterisierung menschlicher Empfindungen. Deswegen sterben die unsterblich Liebenden in den Dramen ja auch immer - selbst in denen, die diese Idee ernst nehmen, wie etwa Wagners Opern. Hegel würde sagen, sie nehmen sich das Leben. Ihr Opfer ist der Preis dafür, eine simple Verliebtheit mit der romantischen Idee der ewigen Liebe ideologisch aufzuladen. (Nicht zufällig entwickelten die Ideologen der Romantik ihre Idee der ewigen Liebe auf der Grundlage der christlichen Idee der Liebe Gottes und erotisierten lediglich diese Idee.)
Ist das, was die Liebespille erzeugt, Verliebtheit? Ja. Aber es ist weder Liebe (denn dazu gehören zwei), noch ist es eine normale Verliebtheit - sondern eben eine unsterbliche. Die Pille erzeugt auch nicht nur Verliebtheit, denn sonst wäre die Verliebtheit eben nicht unsterblich - sondern sie zersetzt auch die emotionale Integrität dessen, der sie einnimmt, bis zur Psychose. Die Pille wurde auf der Grundlage einer Ideologie entwickelt und nicht auf der Basis eines wirklichen Verständnisses menschlicher Emotionalität, und jeder, der sie einnimmt, zahlt den Preis.
Womit die Frage beantwortet ist, ob das, was die Pille erzeugt, wünschenswert ist. Die Frage, wie man es nun genau nennen will, erübrigt sich damit eigentlich.
Jede Idee der Ewigkeit erfordert zu ihrer Verwirklichung nunmal Menschenopfer.
Zuletzt geändert von
Tarvoc am Fr 22. Dez 2017, 08:33, insgesamt 1-mal geändert.
Don't just think outside the box. Think outside AND inside.