#filosofix > Das Schiff des Theseus

Philosophische Gedankenexperimente in Form von Videos.
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Dia_Logos
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Mi 24. Jan 2018, 07:34

SRF Kultur hat geschrieben :

Wer bin ich? Warum bin ich ich? Und wie kann ich mich selbst bleiben, wenn ich mich doch ständig verändere? Mit diesen Fragen beschäftigt sich eines der bekanntesten Gedankenexperimente der Philosophie: Das Schiff des Theseus.
Passend zur Fragestellung erlaube ich mir einen Strang hierher zu "duplizieren", der sich an anderer Stelle in den letzten Tagen dieser Frage gewidmet hat, ohne jedoch das Schiff des Theseus direkt zu erwähnen. Welches ist nur der originale Thread? Oder gibt es zwei davon?

Philosophische Erbsenzählerei? Oder ein Thema mit großer praktischer Relevanz?

Spaß beiseite: Die Frage, ob das Schiff des Theseus keinmal, einmal oder zweimal existiert (was heißt das denn - existieren?), mag zunächst wie eine philosophische "Erbsenzählerei" klingen. Aber die Frage "Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?" zeigt, dass das Thema große lebensweltliche Relevanz hat. Nicht nur für unser eigenes Selbstverständnis, sondern auch für den "Blick von außen". Wie steht es mit einer Patientenverfügung, die vor zig Jahren geschrieben wurde? Ist sie in ethischer Sicht eigentlich noch verbindlich, wenn der Patient mittlerweile vielleicht ein ganz anderer geworden ist? Auch @'Alethos' Beispiel aus dem ursprünglichen Thread mit der Geschlechtsumwandlung ist hier sicher in vieler Hinsicht von Belang.




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Stefanie
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Mi 24. Jan 2018, 07:34

Mir verschlägt es fast die Sprache, ob dieser Antwort.
Wenn ich es in 30 Minuten schaffe, mittels google und Suchbegriffen Behinderung und Identität oder geistige Behinderung und Identität differenziertere Sichtweisen insbesondere zu ihrer Eingangsdefinition in Bezug auf Behinderung zu finden, hätte sie das auch schaffen können.
Ihr Ansatz ist ein Defizitansatz, und dann versucht sie diesen in der zweiten Spalte wieder zu entschärfen, in dem sie von unserem (wir gesunden und nicht behinderten Menschen) Unvermögen spricht. Mit letzterem hat sie Recht. Das war es aber schon.

Was soll das mit der Gehirnwäsche?
Was für ein Bild hat sie im Kopf, wenn sie schreibt "ohne Selbstbezug vor sich hin vegetiert (!)".

Hat sie jemals mit einem Menschen gesprochen, der von Geburt an eine schwere körperliche oder geistige Behinderung hat, und wenn ja, hat sie auf diese ihre Eingangsdefinition angewendet?



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Jörn Budesheim
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Mi 24. Jan 2018, 07:34

Stefanie hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 23:40
Ihr Ansatz ist ein Defizitansatz
Der Ausdruck sagt mir leider nichts! Kannst du das kurz erläutern?
Stefanie hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 23:40
Eingangsdefinition
Ich habe den Artikel jetzt noch mal gelesen, mir ist aber nicht klar, worauf sich das bezieht.




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Stefanie
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Mi 24. Jan 2018, 07:35

Die Autorin schreibt in ihrer Antwort:
In aller Regel verbinden wir mit Identität ein stabiles Selbstbild: Dass wir uns als Personen verstehen, die für bestimmte Überzeugungen, Beziehungen und Lebensweisen verlässlich eintreten. Identität setzt also in erster Linie
ein Selbstverhältnis voraus, das uns ermöglicht, die Frage zu beantworten, wer wir sind und wofür wir
stehen.
und weiter:
(...)muss eine Biografie kein in sich geschlossener Lebenszusammenhang sein, um von einer gleichbleibenden Identität auszugehen. Sie muss Brüche und Scherbenhaufen jedoch sinnvoll integrieren können.
Das meinte ich als Eingangsdefinition. Sie benennt die Voraussetzungen für eine Identität.

Dies auf Menschen mit kognitiven, intellektuellen Beeinträchtigungen (geistige Behinderung) angewendet, würde bedeuten, dass viele Menschen mit dieser Beeinträchtigung (geistige Behinderung) keine Identität hätten. Das stimmt so einfach nicht.
Wir "Normalen" setzen bestimmte Fähigkeiten voraus, an der wir Identität festmachen. Diese Fähigkeiten haben aber nicht alle Menschen im gleichen Umfang.
Vor meinem Auge hatte ich einige Menschen, die ich kenne, als ich das las, und sagte mir "Aber Hallo, natürlich haben diese eine eigene Identität". Sie kommunizieren, haben Vorstellungen davon, was ihnen gefällt, was nicht, davon wie sie leben wollen, und wie sie nicht leben wollen, sie können sich abgrenzen (durchaus in abgestufter Form)- Dies alles ist oft nicht auf den ersten Blick erkennbar oder nicht für uns verständlich. Wenn wir "Normalen" mit unserem Verständnis, mit unserem Vorstellungen dies beurteilen, kommt dabei oft raus, sie haben nach unseren Vorstellungen eben keine Identität. Es wird noch immer nur bei dem angesetzt, was diese Menschen nicht können- z.B. alleine und selbstständig die Brüche im Leben zu integrieren, oder und bei schwerst geistigen Behinderung die Frage, ob diese überhaupt ein Bewusstsein von sich selbst haben- anstatt bei dem anzusetzen, was sie können. (Das ist der Defizitansatz, das Gegenteil ist der Kompetenzansatz).
Ein Link zu diesem Thema:
https://www.ph-heidelberg.de/fileadmin/ ... u_2012.pdf

Menschen, die aufgrund einer Krankheit, oder Behinderung "nur" körperliche Beeinträchtigungen haben, sollte sich die Frage nach der Identität überhaupt nicht mehr stellen. Es liegt oft an den Lebensbedingungen, die ihnen vorgibt, dass sie das, was die Autorin beschreibt, nicht umsetzen können.

An Demenz/Alzheimer erkrankte Menschen sind (wohl) nicht mehr "dieselben" Menschen wie vor Ausbruch der Krankheit. Natürlich haben sie dennoch eine Identität. In dem Buch "Der alte König in seinem Exil" beschreibt der Autor folgende Szene: Er (Sohn) kommt in das Heim, in dem sein Vater jetzt lebt. Der Vater sitzt an einem Tisch mit einem ebenfalls an Alzheimer erkrankten anderen Mann. Die beiden unterhalten sich vergnügt und mit viel Lachen in einer eigenen Sprache, die der Sohn nicht versteht. Der Sohn fühlt sich etwas ausgeschlossen. Diese beiden Männer haben eine Identität. Sie kommunizieren miteinander, sie wissen wer sie sind, haben offensichtlich den gleichen Humor, und sie sind in ihrer Welt sehr wohl in der Lage, für das was die Autorin oben beschreibt, verlässlich einzutreten (wenn wir sie denn lassen). In ihrer Welt, nicht in unserer Welt, der nicht Erkrankten. Aber sie haben eine Identität.

Auch eine Persönlichkeitsänderung - besser vielleicht eine Veränderung der Einstellung zum Leben- aufgrund einer schweren Erkrankung, die mit sich bringt, dass jemand Unterstützung braucht, um das alltägliche Leben zu meistern, bewirkt doch kein Verlust der Identität. Sie hat sich vielleicht geändert. Aber die Identität ist doch nicht verloren gegangen. Sie sind doch nicht Identitätslos.



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Jörn Budesheim
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Mi 24. Jan 2018, 07:35

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 19. Jan 2018, 16:14
"Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?"
Stefanie hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2018, 18:35
An Demenz/Alzheimer erkrankte Menschen sind (wohl) nicht mehr "dieselben" Menschen wie vor Ausbruch der Krankheit.
Nur erstmal kurz, morgen hoffentlich mehr: Ich verstehe die Frage anders als du. "Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?" heißt meines Erachtens nicht: "Hat jemand, der eine Behinderung erleidet, danach keine Identität mehr? Es fragt nur danach, ob er nach der "Verwandlung" die gleiche Identität wie zuvor hat. Zumindest verstehe ich es so.




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Stefanie
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Mi 24. Jan 2018, 07:35

Die Frage lautet "verliert" er/sie seine Identität, und so verstehe ich das auch. Es wird nicht gefragt, ob sich die Identität ändert. So antwortet auch die Autorin.

Die Autorin beschreibt zunächst, was sie unter Identität versteht und was Identität voraussetzt. Wer das nicht hat, hat keine Identität. Ist doch wohl die Schlussfolgerung. Das betrifft sowohl Menschen, die von Geburt an diese Voraussetzungen nicht erfüllen können, oder diese Voraussetzungen aufgrund von Krankheit nicht mehr erfüllen können.

Sie schreibt doch selber:
"Führt eine schwere Krankheit dazu, dass sich eine Person plötzlich als jemand ganz anderes versteht oder ohne jeden Selbstbezug vor sich hin vegetiert, verliert sie auch ihre Identität. " Da steht nicht, verändert sich seine Identität.

Die Aussage "verliert sie auch ihre Identität" nimmt sie im zweiten Teil (also die rechte Spalte) nicht wirklich zurück.
Sie schreibt dann von unserem Unvermögen, mit einer Veränderung umzugehen, und wir sollten dann zu einer neuen Bewertung kommen. Wie die aber aussehen kann, oder gar muss, schreibt sie nicht. Sie schreibt nur "Persönlichkeitsveränderung, oder tiefgreifende Veränderungen der anderen Person, aber ihre Aussage "verliert sie auch ihre Identität" wird nicht zurückgenommen.
Das bedeutet, dass sich unser Unvermögen, von dem sie spricht, sich darauf bezieht, dass jemand seine Identität verloren hat, und nicht darauf, dass jemand eine veränderte Identität hat.



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Alethos
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Mi 24. Jan 2018, 07:36

Aber Identität ist doch etwas Stetes? Es hat mit einer gewissen Beständigkeit der Eigenschaften zu tun, finde ich. Ich bin heute derselbe wie gestern, weil ich gleich 'gestrickt' bin.

Das bedeutet aber auch, dass ich meine Identität als kleines Kind verloren habe, wenn zur Identität gewisse emotionalen und geistige Fähigkeiten hinzugezählt werden, und das müssen sie ja, denn ich bin ja nicht nur mein Körper oder ein Name auf meiner Identitätskarte.



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Mi 24. Jan 2018, 07:36

Verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität?
"Er ist nicht mehr derselbe“, bringen wir also in erster Linie unser eigenes Unvermögen zum Ausdruck, die Veränderung in das Bild integrieren zu können, das wir uns von ihm gemacht haben. Zuweilen ist diese fehlende Passung tatsächlich einer Krankheit oder einer Gehirnwäsche geschuldet.
Die beiden Sätze "verliert ein Mensch, der schwer erkrankt oder eine Behinderung erleidet, seine Identität" und "sie ist nicht mehr dieselbe" verstehe ich nach wie vor anders als du Stefanie.

Wenn wir sagen "sie ist nicht mehr dieselbe", dann meinen wir schließlich nicht, sie ist niemand mehr, sondern sie ist eine ganz andere. Und wenn wir uns fragen, ob jemand aufgrund einer schweren Erkrankung seine Identität verliert, dann fragen wir nicht automatisch, ob sie aufgrund dieser Erkrankung überhaupt keine Identität mehr hat, sondern ob sie noch die alte ist.

Die Formulierung vom "Dahinvegetieren" schließt jedoch auch die andere Möglichkeit, die du im Sinn hast, mit ein. Das heißt in diesem Fall, verliert jemand nicht nur seine Identität, sondern ist danach womöglich auch identitätslos. Das scheint mir allerdings nicht die generelle Fragestellung zu sein, sondern höchstens eine von zwei Möglichkeiten.




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Mi 24. Jan 2018, 07:36

Alethos hat geschrieben :
Sa 20. Jan 2018, 21:42
Das bedeutet aber auch, dass ich meine Identität als kleines Kind verloren habe
Dieter Thomä hat geschrieben : „Erzähle dich selbst“
Ich bin jetzt natürlich nicht mehr so, wie ich als kleines Kind war. Der Jörn vor 50 Jahren war sicher ein ganz anderer. Allerdings ist meine Lebensgeschichte doch das, was mich in sehr großen Teilen überhaupt ausmacht. Dazu gehören die Wege, die ich gegangen bin, die Umwege, die Irrwege, die Abwege...

Die Frage, so wie ich sie bisher verstehe, lautet nun, ob es Ereignisse in unserem Leben geben kann z.b. Krankheiten oder Unfälle, die derart gravierende Einschnitte bedeuten, dass wir sie nicht mehr sinnvoll in den eigenen Lebenszusammenhang integrieren können, so dass wir uns am Ende nicht mehr selbst erzählen können, so als sei der Faden gerissen. So als hätten wir es mit mehreren verschiedenen Erzählung zu tun, die gar keinen Zusammenhang mehr kennen.

"Können" mag hier ein doppeltes bedeuten. Es kann sich zum einen auf die Ereignisse beziehen, die sich nicht mehr in den Zusammenhang integrieren lassen, sodass sich keine kohärente Geschichte mehr geben kann. Es kann sich zum anderen aber auch auf unsere Fähigkeit beziehen, die Geschichte zu erzählen. Wir können sie nicht mehr erzählen, hieße dann, wir sind nicht mehr in der Lage, sie zu erzählen, weil es den Erzähler in einem gewissen Sinne nicht mehr gibt.




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Jörn Budesheim
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Mi 24. Jan 2018, 07:37

John Locke in Versuch über den menschlichen Verstand hat geschrieben :
Über Identität und Verschiedenheit (1)

[Wir müssen, um festzustellen] worin die Identität der Person besteht, zunächst untersuchen, was Person bedeutet. Meiner Meinung nach bezeichnet dieses Wort ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewußtsein, das vom Denken untrennbar ist und, wie mir scheint, zu dessen Wesen gehört. Denn unmöglich kann jemand wahrnehmen, ohne wahrzunehmen, daß er es tut. Wenn wir etwas sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen, überlegen oder wollen, so wissen wir, daß wir das tun. Das gilt jederzeit hinsichtlich unserer gegenwärtigen Sensationen und Wahrnehmungen; jeder wird dadurch für sich selbst zu dem, was er sein eigenes Ich nennt. Hierbei kommt es in diesem Fall nicht darauf an, ob dasselbe Selbst in derselben oder in verschiedenen Substanzen weiterbesteht.

[...]

Auf diese Weise kann man sich ohne Schwierigkeiten vorstellen, daß bei der Auferstehung dieselbe Person vorhanden sein kann, sei es auch in einem Körper, der seiner Bildungsweise und seinen Bestandteilen nach nicht genau mit dem irdischen übereinstimmt, indem nämlich dasselbe Bewußtsein mit der dem Körper innewohnenden Seele verknüpft ist. Beim Wechsel der Körper würde jedoch kein Mensch die Seele allein für ausreichend halten, um die Identität eines Menschen zu begründen; es sei denn, jemand setze die Seele mit dem Menschen gleich. Nehmen wir an, die Seele eines Fürsten, die das Bewußtsein des vergangenen Lebens des Fürsten mit sich führt, träte in den Körper eines Schusters ein und beseelte ihn, sobald dessen eigene Seele ihn verlassen hätte. Jeder sieht ein, daß der Schuster dann dieselbe PERSON sein würde wie der Fürst und nur für dessen Taten verantwortlich. Aber wer würde sagen, es sei ein und derselbe Mensch? Auch der Körper gehört also mit zum Begriff des Menschen. Ja, ich vermute, in diesem Fall würde der Körper nach jedermanns Ansicht über den Menschen entscheiden. Denn die Seele würde trotz all ihrer fürstlichen Gedanken keinen anderen Menschen aus ihm machen. Vielmehr würde jener Mensch für jeden, sich selbst ausgenommen, derselbe Schuster sein.
Wer sind wir? Unser Körper oder unser Geist? So könnte man das Locksche Gedankenexperiment ziemlich verkürzt zusammen fassen. John Locke malt sich das an zwei sehr verschiedenen Personen/Menschen aus, die Körper und Geist tauschen. Weisen die Szenarien, um die es bei der Frage oben geht, nicht mit dieser Versuchsanordnung von Locke gewisse Ähnlichkeiten auf? Natürlich mit einigen gravierenden Unterschieden: Wir haben es anders als bei Locke nur mit einer Person/einem Menschen zu tun. Und entweder findet sich ein gesunder Geist plötzlich in einem behinderten Körper wieder (etwa nach einem Verkehrsunfall). Oder ein veränderter Geist lebt in dem "selben" Körper weiter (etwa bei Demenz). Wenn ich Locke richtig deute, sollte im ersten Fall (sehr vereinfacht gesagt) die Identität im Grunde gewahrt sein und im zweiten Fall nicht. Ob man dem zustimmen kann? Bei mir sträubt sich da einiges ...
Franz Kafka, der Verwandlung hat geschrieben : Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.

http://www.textlog.de/31996.html
Es mag etwas gewalttätig erscheinen, diese Geschichte für diese Fragestellung nutzbar zu machen. Aber es könnte einen Versuch wert sein. Wenn man so will, ist das eine "ziemlich stark" abgewandelte/verwandelte Form des Szenarios, welches sich Locke ausgedacht hat. Barbara Bleisch hat, wenn mich nicht alles täuscht, im wesentlichen die Perspektive der fraglichen Person selbst im Sinn. Die Geschichte Kafkas ist hier deutlich vielschichtiger. Samsas Geist mag zu Beginn noch ganz bei sich gewesen sein, als er in die ungeheure Veränderung an sich entdeckt, die Locksche Identität ist somit gewahrt. Allerdings ist einerseits der gepanzerte Körper nun kein "nach Außen" gerichteter mehr (sondern ein solipsistisch verpanzerter) und anderseits bietet er natürlich nicht mehr das Bild der früheren "identischen Person" ...

Die Geschichten, die wir über uns erzählen können, sind auf engste verwoben mit unserem Körper, unserem Aussehen, unserer Stellung im sozialen Raum. Zudem "bestehen" wir wohl in einem nicht ganz unwesentlichen Maß aus "geteilten Geschichten", also solchen, die uns mit anderen verknüpfen, welche man bei abrupten Verwandlungen oft nicht mehr ohne weiteres weiterspinnen kann.

Das hieße fürs Erste, dass die Identität einer Person sehr viel stärker an ihren Beziehungen und sozialen Stellungen hängt, als dieser kurze Abriss von Barbara Bleisch nahelegt. Wenn man etwa am Krankenbett eines alten Freundes steht und sich fragt, ob er noch der selbe ist, wird man mit dieser Frage zum Teil seiner (neuen) Identität. (Könnte man weiter spinnen...)




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Alethos
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Mi 24. Jan 2018, 07:38

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 08:58

Wer sind wir? Unser Körper oder unser Geist? So könnte man das Locksche Gedankenexperiment ziemlich verkürzt zusammen fassen. John Locke malt sich das an zwei sehr verschiedenen Personen/Menschen aus, die Körper und Geist tauschen. Weisen die Szenarien, um die es bei der Frage oben geht, nicht mit dieser Versuchsanordnung von Locke gewisse Ähnlichkeiten auf? Natürlich mit einigen gravierenden Unterschieden: Wir haben es anders als bei Locke nur mit einer Person/einem Menschen zu tun. Und entweder findet sich ein gesunder Geist plötzlich in einem behinderten Körper wieder (etwa nach einem Verkehrsunfall). Oder ein veränderter Geist lebt in dem "selben" Körper weiter (etwa bei Demenz). Wenn ich Locke richtig deute, sollte im ersten Fall (sehr vereinfacht gesagt) die Identität im Grunde gewahrt sein und im zweiten Fall nicht. Ob man dem zustimmen kann? Bei mir sträubt sich da einiges ...
Ich verstehe Locke anders als du: nicht nur die Seele (Psyche) stiftet Identität, sondern auch Körperlichkeit. Es gehört ja zur Person, wie sie aussieht, wie sie handelt, wie sie spricht, wie sie riecht und wie sie geht: dank dieser wesenstypischen Merkmale lässt sie sich identifizieren als von allen anderen Personen verschiedene Person. So wie ich Locke verstehe, kann trotz gleichbleibender, unversehrter Seele ein stark veränderter Körper zum Identitätsverlust (im Sinne einer Ich-Veränderung) führen.

Wir müssten uns demnach zuerst einmal fragen: Was bedeutet Identität? Was zeichnet einen Menschen als diesen konkreten Menschen aus? Was gehört alles zu ihm, was macht ihn aus? Wenn wir diese Wesensmerkmale von Personen in ihrer Fülle festhalten, müssen wir sie nach der Notwendigkeit gliedern, mit der sie dieser Person zukommen müssen, damit die personale Identität gewahrt bleibt. Denn offensichtlich sprechen wir von Identitätsveränderung oder -verlust und meinen zugleich den Wegfall von gewissen Merkmalen zugunsten von anderen. Und ich bin schon der Meinung, dass alle sozialen Aspekte (Beziehungen, geteilte Geschichten etc.) zum Wesenskern der Person zählen, mithin zu ihrer Identität.

Darum meinte ich aber auch, dass ich nicht derselbe sein kann, der ich mit 5 Jahren war, denn ich sah nicht nur anders aus, ich dachte auch ganz anders. Ich war ein anderer Mensch, auch wenn ich dieses Andersein als zu meiner Lebensgeschichte gehörend hinzuzählen kann. Ich bin noch immer diese biologische Entität, die ich damals war, aber meine Körperlichtkeit, meine Sozialität, mein Denken: das alles hat sich so sehr verändert, dass mir nicht sinnvoll erscheint zu sagen, ich sei heute derselbe wie damals.

Nun haben wir es also hier gerade mit einer Modifikation des Problems des Sandhaufens zu tun. Wir hatten das andernorts angefangen zu denken, aber das Thema hat sich irgendwie im Sand verlaufen. :) Ab wann beginnt ein Sandhaufen durch Wegnahme nicht mehr dieser Sandhaufen zu sein?

Ich denke, wenn ein Mensch mit Alzheimer im Bett liegt und nicht mehr weiss, wer er ist, dann hat er sehr wohl einen wesentlichen Teil seines Selbstbildes verloren. Er hat gewisse Fähigkeiten verlernt, er hat Erinnerungen verloren. Er hat sein Selbstbewusstsein in einer Weise verloren, dass er nicht mehr feststellen kann, dass er er ist resp. er kann sein Ichsein nicht mehr einordnen in die Stetigkeit, die Kohärenz seiner Lebensgeschichte. Aber er bleibt natürlich für die Angehörigen immer noch der Grossvater, der Vater, der Bruder, insofern die Erinnerung an ihn, die geteilte Vergangenheit nicht einfach ausgelöscht wird. Er bleibt in gewissem Sinn die Person, die er immer war, ohne die Person zu sein, die er immer war. Ist das irgendwie verständlich?



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Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 10:35
Ich verstehe Locke anders als du: nicht nur die Seele (Psyche) stiftet Identität, sondern auch Körperlichkeit.
Es ist richtig, dass meine Darstellung vereinfacht ist, worauf ich ja selbst hinweise. Locke will verschiedenes zeigen, nach meiner Einschätzung unter anderem:

Wenn der Geist eines Menschen in einen anderen Körper verpflanzt wird, sind wir in einem solchen Fall nicht ohne weiteres bereit, zu sagen, dass wir es dann noch mit demselben Menschen zu tun haben. Dennoch würde etwas Wichtiges am Schuster gleich bleiben, auch wenn sein Geist sich vollkommen wandelte. Dieser würde immer noch derselbe Mensch bleiben. Es gibt jedoch auch etwas an uns, das nicht an einen bestimmten Körper gebunden ist, sondern seine Identität aus einem Bewusstsein von sich selbst, seiner Geschichten etc. bestimmt ist.

Beide Szenarien lassen sich auch auf die Frage anwenden. Und sehr weitläufig ähnliches wird auch in der Verwandlung behandelt




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Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 10:35
Er bleibt in gewissem Sinn die Person, die er immer war, ohne die Person zu sein, die er immer war. Ist das irgendwie verständlich?
Ich denke schon, dass das "irgendwie verständlich" ist. Seine Geschichte ist und bleibt, die die sie war. Er hat dieses Leben geführt, diese Werte vertreten, stand für dieses ein etc. Das sind eben die unabänderlichen Tatsachen. Was fehlt ist seine Fähigkeit, sich weiter als diese Person zu verstehen, weil der Bezug zu sich selbst verloren zu gehen droht.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 12:09
Seine Geschichte ist und bleibt, die die sie war. Er hat dieses Leben geführt, diese Werte vertreten, stand für dieses ein etc. Das sind eben die unabänderlichen Tatsachen. Was fehlt ist seine Fähigkeit, sich weiter als diese Person zu verstehen, weil der Bezug zu sich selbst verloren zu gehen droht.
..und weil auch der Bezug zu anderen ein ganz anderer zu werden verspricht. Die 'verwandelte' Person wird nicht mehr als die Person erlebt, zu der man diesen und diesen Bezug hatte. Die Person kann nicht mehr in gleicher Weise das Wir mitkonstituieren, das man gemeinsam bildete. Aber das muss nicht immer als Ende angesehen werden, man kann es auch als neue Qualität des Miteinanders deuten, als Fortsetzung von etwas in anderer Art. Aber diese Neupositionierung gelingt natürlich nicht immer und jede Situation wird von Fall zu Fall unterschiedlich beurteilt werden, denke ich.

Ich erinnere mich an meinen Vater, der vor gut einem Jahr an einem Herzinfarkt starb. Er lag tagelang auf der Intensivstation, sein Hirn war wegen Sauerstoffmangel in dauerepileptischem Zustand, er war nicht bei Bewusstsein und die Ärzte meinten, er würde als krasser Pflegefall enden, falls er überhaupt wieder das Bewusstsein erlange.

Er lag da, es war sein Körper, der sich uns zeigte. Aber er war nicht mehr er. Und die Vorstellung, dass wir ihn mit aller Kraft zurückholen sollten, damit er sabbernd und vor sich her vegetierend ein paar Jahre weiterleben kann, das war eine sehr schmerzliche Perspektive. Er wäre nicht mehr derselbe gewesen. Da wir eine Patientenverfügung hatten und wir seine Einstellung kannten, haben wir beschlossen, ihn sterben zu lassen.

War das jetzt eine Unterteilung von Leben in lebenswertes und nicht lebenswertes Leben? In gewissem Sinne, ja. Wir haben uns, um seinen ausdrücklichen Wunsch wissend, in einem solchen Fall für den Tod zu entscheiden, in seinem Sinne gehandelt, indem wir uns gegen ein bestimmtes Sosein entschieden.

Mir wurde in diesem ganz konkreten Fall klar, dass die Identität meines Vaters an sehr vielem hängt, was nicht unmittelbar mit dem Leben überhaupt, sondern mit dem individuellen Dasein im Besonderen zusammenhängt. Der Wert des Lebens ist kein Wert an sich im Sinne eines Selbstzwecks, sondern manifestiert sich doch am Lebenden, durch das das Leben immer dieses individuelle, spezielle und einzigartige ist.



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Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 10:35
Darum meinte ich aber auch, dass ich nicht derselbe sein kann, der ich mit 5 Jahren war, denn ich sah nicht nur anders aus, ich dachte auch ganz anders. Ich war ein anderer Mensch, auch wenn ich dieses Andersein als zu meiner Lebensgeschichte gehörend hinzuzählen kann.
Wäre das so, dann wäre ein Satz wie "mit 5 Jahren habe ich Fahrradfahren gelernt" schon unverständlich, oder? Du müsstest dann sagen, "ein anderer Mensch" hat Fahrradfahren gelernt. Aber welcher? Irgendeiner? Nach meinem Geschmack ist nicht die Frage, ob ein diachrone Identität besteht, sondern worin sie besteht. Und wenn wir da ein wenig Klarheit hätten, könnten wir einen Antwortversuch auf die Frage wagen.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 15:52
Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 10:35
Darum meinte ich aber auch, dass ich nicht derselbe sein kann, der ich mit 5 Jahren war, denn ich sah nicht nur anders aus, ich dachte auch ganz anders. Ich war ein anderer Mensch, auch wenn ich dieses Andersein als zu meiner Lebensgeschichte gehörend hinzuzählen kann.
Wäre das so, dann wäre ein Satz wie "mit 5 Jahren habe ich Fahrradfahren gelernt" schon unverständlich, oder? Du müsstest dann sagen, "ein anderer Mensch" hat Fahrradfahren gelernt. Aber welcher? Irgendeiner? Nach meinem Geschmack ist nicht die Frage, ob ein diachrone Identität besteht, sondern worin sie besteht. Und wenn wir da ein wenig Klarheit hätten, könnten wir einen Antwortversuch auf die Frage wagen.
Nun ja, das halte ich nicht für einen Nebenschauplatz. Natürlich zähle ich meine Kindheit zu meiner Lebensgeschichte, ich subsumiere diese Taten unter mein Ich. Sie gehören zu meiner Identität als meine Vergangenheit.

Aber unter dem Gesichtspunkt der Identität und unter Berücksichtigung des Wandels müsste man sagen, dass das damalige Ich nicht meinem heutigen Ich entsprechen kann. Sonst müsste ich sagen: 'Ich habe Angst vor Werwölfen.', was für mich heute nicht mehr gilt, sondern für mein damaliges Ich galt. Mein altes Ich und mein neues Ich, ist das noch dasselbe Ich?

Ist denn eine Raupe und der aus ihm ausgeschlüpfte Schmetterling noch dasselbe Ding? Ist Gregor noch Gregor nach der Metamorphose? Ich finde, dass diese Fragen nicht eindeutig geklärt sind, sondern den Kern der Fragestellung betreffen.

Natürlich ist das Älterwerden, das Erwachsenwerden nicht eine so tiefgreifende Metamorphose wie die Verwandlung zum 'Bug' :) Das ist unbestritten. Aber offensichtlich reicht es auch nicht, an jedes Verwandelte das alte Etikett zu heften, um behaupten zu können, es handle sich um dassebe.



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Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 17:04
Mein altes Ich und mein neues Ich, ist das noch dasselbe Ich?
Ich würde sagen: ja. Es ist deine Biografie, das Leben, dass du geführt hast. Zu unserer Identität gehört ja zwingend hinzu, dass wir uns im Großen wie im Kleinen ändern können, wobei wir manche der Veränderungen, auch verantworten. Was jeweils wichtige Punkte für die Ausgangsfrage sind.
Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 17:04
Ist Gregor noch Gregor nach der Metamorphose?
Falls Samsa nicht eine Romanfigur wäre, sondern eine historische Figur in Kafkas Prag, dann: nein. Weil das Leben, an das er sich erinnert, nicht das Leben der Figur sein kann, die er nun ist, denn er hat sie mit einem anderen Körper gemacht.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 17:32
Alethos hat geschrieben :
So 21. Jan 2018, 17:04
Mein altes Ich und mein neues Ich, ist das noch dasselbe Ich?
Ich würde sagen: ja. Es ist deine Biografie, das Leben, dass du geführt hast. Zu unserer Identität gehört ja zwingend hinzu, dass wir uns im Großen wie im Kleinen ändern können, wobei wir manche der Veränderungen, auch verantworten. Was jeweils wichtige Punkte für die Ausgangsfrage sind.
Ok. Ich sehe ein, dass meine Vergangenheit zu mir gehört und sie meine Identität ausmacht. Ich bin ja nicht zuletzt auch das Resultat meiner eigenen Geschichte, die ich massgeblich mitverantworte.
Aber zugleich ist dieses Ich, das sich über die Zeit wandelt, die Konstante meiner Identität. Nun muss man sich doch schon fragen, welche Wandlungen dieses Ich durchmachen kann, um noch als die Konstante meiner Identität gelten zu dürfen.
Die Frage lautet wirklich, was bedeutet Identität, was bedeutet Ichsein?

Wenn eine Transgender-Frau in einem früheren Leben (so spricht man ja für gewöhlich) körperlich ein Mann war, innerlich aber eine Frau, dann liegt hier keine kohärente Ich-Einheit zwischen Körper und Seele vor. Der Körper gehört in dieser Form nicht zu meiner erlebten Identität. Nach einer Geschlechtsunwandlung und der Modifikation anderer körperlicher Eigenschaften gleichen sich die Identitäten an. Die Frau kann sagen: Das ist mein Körper und ich zähle ihn in dieser Form zu meiner Identität.

Zu sagen, der frühere Mann und die heutige Frau hätten die gleiche Identität, mutet doch sonderbar an? Der Hinweis, dass es sich um ein und dasselbe Subjekt handelt, es sich lediglich wandelte, das befriedigt nicht so wirklich. Zum Subjekt zählt seine eindeutige Lokalisierung als etwas Bestimmtes, durch das er gerade alle anderen nicht ist. Er ist ein Mensch mit der spezifischen Signatur seines individuellen Seins und als solcher dieser Mensch. Diese Entität. Seine Identität liegt in diesem seinen Dasein begründet.
Zugleich aber gehört zu seinem individuellen Sein die Modifikation seiner Selbst als Aktualisierung in der Zeit. Nun gibt es Wandlungen, aufgrund derer wir sagen: 'Er ist nicht mehr derselbe' und Wandlungen, bei denen wir sagen: 'Er ist trotz allem immer noch derselbe'. Diese Graduation gibt es meiner Ansicht nach tatsächlich.

Wenn wir aber die folgende relationale Definition von Identität unterstellen: 'Identisch sind zwei völlig übereinstimmende Dinge', müssten wir zugleich sagen, dass niemand von uns mit sich selbst identisch ist durch alle Zeit.

Nochmal: Ja, es gibt eine Klammer, durch die ich mich selbst durch die Zeit hindurch als derselbe wahrnehme und durch die mich andere als denselben wahrnehmen. Die Frage ist, ob diese Identität eine gedachte ist oder eine dem Gegenstand selbst zukommende? Auch Heraklit meinte, dass nichts sich selbst gleich bleiben kann und nur der Wandel wirklich sei. Identität wäre damit so etwas wie eine Idee der Gleichheit?



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Jörn Budesheim
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Mi 24. Jan 2018, 07:42

Hier noch mal eine anderes Video zu Theseus. Ist zwar auf Englisch hat aber deutsche Untertitel.




Auch der berühmte 7 Jahres Mythos passt sehr gut zum Thema. Immer mal wieder hört man ja, dass sich der Körper alle sieben Jahre völlig erneuert. Und man dann im Grunde ein anderer ist. Ist das was dran? Der Artikel der FAZ hat das Thema sehr gut recherchiert. Eine lohnende Lektüre und natürlich für dieses Thema maßgeschneidert.
FAZ hat geschrieben : Fast wie neugeboren
Von DENISE PEIKERT

Die Sieben-Jahre-Regel ist eine bequeme Regel, denn sie erklärt immer das, was gerade zufällig zur Debatte steht: den Zahnwechsel beim Schulkind, den stärker werdenden Kinderwunsch um den 28. Geburtstag herum und dass man sich mit 35 plötzlich um so vieles älter fühlt als kürzlich noch. Alle sieben Jahre, heißt es dann gerne mal, ändere sich der Körper, manche Menschen bekämen dann sogar eine ganz andere Figur und andere Haare.

Ein herrliches Smalltalk-Thema, unverfänglich und nachvollziehbar, eines, bei dem man sich immer wieder fragen kann: Ist das jetzt nur ein Mythos, oder ist da auch medizinisch was dran?

http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft ... 56744.html




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Jörn Budesheim
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Mi 24. Jan 2018, 08:06

Kaum ein anderes Thema wurde so sehr mithilfe "science-fiction-artiger" Gedankenexperimente erörtert. Oft geht es dabei um "Teleportations-Szenarien". Das heißt, eine Person wird mithilfe von "Science-Fiction-Technologie" in ihre subatomaren Bestandteile zerlegt und an anderer Stelle aus anderem Subatomaren Teilen originalgetreu wieder zusammen gesetzt. Ist sie noch die selbe Person? Auch der Körper selbst erneuert sich ja dauernd, heißt es dann manchmal. Die Sache mit dem Schiff scheint ähnlich zu liegen. Oder?

Aber es gibt deutliche Unterschiede, wenn wir von uns Selbst sprechen und nicht von Schiffen. Drei davon will ich exemplarisch nennen:
  • Ein Schiff ist kein Organismus. Für Organismen gilt: das Ganze ist mehr als die Summe der Teile. Gilt diese bereits im selben Sinne für Uhren, Schiffe, Autos?
  • Ein anderer - nicht ganz unbeträchtlicher - Unterschied: Das Schiff des Theseus wird von fremder Hand erneuert. Organismen vollbringen ihre Erneuerung aus sich selbst heraus. Daher spricht man schließlich von Autopoesis, Selbsterschaffung wenn man so will.
  • Und drittens: Für das Schiff selbst steht nichts auf dem Spiel. Denn Schiffe, Uhren und Autos haben keine Perspektive auf sich selbst. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Im Unterschied zu dem Schiff, sind wir immer auch das, was wir selbst aus uns machen und wie wir uns selbst sehen. Das Problem ist, dass bei diesem (un dem vorherigen) Punkt, dasjenige, was infrage steht "das Ich" (das Selbst, die Person, ...) schon vorausgesetzt zu sein scheint. Aber ist es denn sicher, dass man "das Ich" aus "nicht personalen" Teilen zusammen setzen kann?




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