Künstliche Intelligenz

Es gibt heute kaum Bereiche des alltäglichen Lebens, die nicht in irgendeiner Weise mit dem World-Wide-Web zusammenhängen. Das Gleiche gilt für "künstliche Intelligenz". Was hat die Philosophie dazu zu sagen?
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NaWennDuMeinst
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Di 29. Nov 2022, 10:32

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 08:18
Das mag alles etwas "dramatisch" ausgedrückt sein, aber dafür dürfte es hoffentlich etwas anschaulich geworden sein.
Nein, das finde ich gar nicht "dramatisch". Du hast das sehr schön auf den Punkt gebracht.
Ich sehe das ähnlich. Wir verändern mit solchen Ansichten unser Selbstbild.
Und dieses Selbstbild vom Menschen als biologische Maschine geistert in den Köpfen sowieso schon rum (als Prämisse).
Demnach sind wir nur animierte Materie. Diese Ansicht ist sogar Voraussetzung dafür zu glauben man könne Maschinen alles beibringen was ein Mensch ist oder vollbringen kann.
Denn wenn wir selbst nur Maschinen sind, geht es im Grunde nur um einen "Nachbau". Reverse Engineering und dann replizieren. So die Vorstellung.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
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Lucian Wing
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Di 29. Nov 2022, 11:10

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 10:32
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 08:18
Das mag alles etwas "dramatisch" ausgedrückt sein, aber dafür dürfte es hoffentlich etwas anschaulich geworden sein.
Ich sehe das ähnlich. Wir verändern mit solchen Ansichten unser Selbstbild.
Ich sehe das ebenfalls in etwa so.
Aber es gibt auch zwei gewichtige Einwände über das hinaus, was sybok hier noch schrieb. Erstens sind die Folgen einer Sache kein Einwand gegen ihre Richtigkeit, zumal wir uns zweitens tatsächlich gar nicht sicher sein können, ob unser Selbstbild und damit die mentalistische Sprache auch tatsächlich das, was ist, richtig repräsentiert. Dazu müssten wir das, was sybok wissen möchte ...
sybok hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 10:02
Was mich persönlich umtreibt, ist letztlich, komplett runtergebrochen, die Fragestellung(en) des "china brain". "Wo" sind meine Gedanken, welches Medium ist ihr Träger? Was genau ist - und wie funktionieren - Komplexität, Emergenz, Selbstbezüglichkeit?
.. tatsächlich beantworten können, um wirklich zu entscheiden.

(Ich muss mal in meine Archive steigen. Es gab mal eine Diskussion zwischen Wolfgang Prinz und Ansgar Beckermann über den sprachlichen Gesichtspunkt. Beckermanns Aufsatz ist sicher in der von henk neulich verlinkten Sammlung von Beckermanns Papieren zu finden, aber Prinz' Aufsatz gab es m.W.n. nur in einem Sammelband. Mal schauen.)



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NaWennDuMeinst
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Di 29. Nov 2022, 11:47

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 11:10
Erstens sind die Folgen einer Sache kein Einwand gegen ihre Richtigkeit, zumal wir uns zweitens tatsächlich gar nicht sicher sein können, ob unser Selbstbild und damit die mentalistische Sprache auch tatsächlich das, was ist, richtig repräsentiert. Dazu müssten wir das, was sybok wissen möchte ...
Die Frage ist doch, ob uns die Natur tatsächlich unser Selbstbild vorschreiben kann, bzw ob wir das so geschehen lassen müssen.
Besonders auch in Bezug auf die Frage welche ethischen Konsequenzen das haben könnte.
Unsere Achtung vor dem Leben hat ja eine ganze Reihe von Grundannahmen zur Prämisse über die wir uns auch nicht völlig im Klaren sind.
Dennoch halten wir daran fest. Und das hat Gründe die vielleicht schwerer wiegen als "Wahrheit" und "Richtigkeit".
Ich mag Dich gerne als Wesen mit Würde betrachten, auch wenn Du in "Wahrheit", bzw nüchtern betrachtet, nur ein Zellhaufen bist in dem organsische Chemie stattfindet.
Ich denke Du verstehst was ich meine?



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Jörn Budesheim
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Di 29. Nov 2022, 11:58

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 11:10
Erstens sind die Folgen einer Sache kein Einwand gegen ihre Richtigkeit
Das nicht. Aber diese Folgen zeigen uns, dass wir es hier nicht bloß mit Beckmesserei zu tun haben, wenn manche (wie meine Wenigkeit) hier die fragliche Begrifflichkeit zurückweisen.




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Lucian Wing
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Di 29. Nov 2022, 12:13

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 11:47
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 11:10
Erstens sind die Folgen einer Sache kein Einwand gegen ihre Richtigkeit, zumal wir uns zweitens tatsächlich gar nicht sicher sein können, ob unser Selbstbild und damit die mentalistische Sprache auch tatsächlich das, was ist, richtig repräsentiert. Dazu müssten wir das, was sybok wissen möchte ...
Die Frage ist doch, ob uns die Natur tatsächlich unser Selbstbild vorschreiben kann, bzw ob wir das so geschehen lassen müssen.
Besonders auch in Bezug auf die Frage welche ethischen Konsequenzen das haben könnte.
Ich war auch immer ein Gegner der Verwendung mentalistischer Vokabulare zur Beschreibung biochemischer Vorgänge oder Menschsein als einen funktionalen Zellhaufen zu betrachten.
Was deinen zweiten Satz angeht, bin ich mir nicht sicher, ob nicht genau aus diesem Punkt heraus Pflichten behauptet werden im anderen Strang und dort weniger streng auf Vokabulare geachtet wird. :mrgreen:

Die Natur schreibt uns kein Selbstbild vor (was ich auch im anderen Strang vertrete). Aber so lange wir syboks Fragen nicht beantworten können, bleibt unsere Selbstbeschreibung, das Selbstbild auf jeden Fall in der Schwebe. Es kann völlig falsch sein. Sprachlich gesehen sollten wir aus meiner Sicht aber schon daran festhalten, dass unser mentalistisches Vokabular so lange keine adäquate Beschreibung von Computern liefert. Selbst jemand wie Sorgner gesteht ohne Weiteres zu, dass gegenwärtig keine Anzeichen dafür zu entdecken seien, es könne gelingen, eine bewusstseinsfähige KI entstehen zu lassen. Und den Einwand, dass wir die Neigung haben, unser Selbstbild an funktionale Gegebenheiten anzupassen und alles Geistige zu eliminieren, hatte ich ja schon selbst vorgebracht.



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Lucian Wing
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Di 29. Nov 2022, 12:20

Übrigens: Wolfgang Prinz' Aufsatz über die angebliche sprachliche Bevormundung der Wissenschaft durch Philosophie heißt "Philosophie nervt". Ich weiß nur nicht mehr, auf welchen Aufsatz Beckermanns das die Antwort war. Ich hab ihn versucht zu bestellen über ein Wissenschaftsportal, mal sehen, ob das klappt. Enthalten ist er in einem von Patrick Spät herausgegebenen Band über die Philosophie des Geistes. Den ich leider nicht habe.



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Jörn Budesheim
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Di 29. Nov 2022, 12:59

sybok hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 10:02
Was mich persönlich umtreibt, ist letztlich, komplett runtergebrochen, die Fragestellung(en) des "china brain". "Wo" sind meine Gedanken, welches Medium ist ihr Träger? Was genau ist - und wie funktionieren - Komplexität, Emergenz, Selbstbezüglichkeit?
Mir ist nicht klar, in welche Richtung das gehen soll. Was soll das heißen: "'Wo" sind meine Gedanken?" Gedanken kann ich erfassen, mit euch austauschen, auf ihre Stimmigkeit überprüfen und verwerfen, wenn sie in sich widersprüchlich sind. Wenn ich entscheiden will, ob dein Gedanke richtig ist, muss ich ihn verstehen und abwägen. Das ist der "Ort" der Gedanken. Da man Gedanken richtig oder falsch erfassen kann, da Gedanken der Logik widersprechen können, sie also ihrerseits normative Aspekte haben, können wir sie nur an ihrem eigenen "Ort" wirklich erfassen, denke ich. Der Blick ins Gehirn kann uns nicht bei der Frage helfen, ob dieses wirklich für jenes spricht. Wir können auch nicht Logik mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen. Logik und Denken ist immer schon vorausgesetzt. Wenn wir beispielsweise überhaupt nicht wüssten, wie ein naturwissenschaftlicher Gedankenaustausch funktioniert, wie könnten wir dann Naturwissenschaft betreiben? Geltung findet man nicht unter dem Mikroskop.




sybok
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Di 29. Nov 2022, 14:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 12:59
Was soll das heißen: "'Wo" sind meine Gedanken?"
Hm, schwierig zu beschreiben: Wenn ich konkret was denke, etwa "heute Abend esse ich Kartoffeln", und mir die Situation vorstelle wie ich heute Abend Kartoffeln esse, "wo" ist dieser Gedanke? Irgendwie "höre" ich ja den Satz "in" meinem Kopf obwohl es keine Schallwellen gibt und sehe ein Bild, wie man sagt, "vor meinem geistigen Auge". Aber dieses Bild, das ich von mir habe, Kartoffeln essend, das ich ja irgendwie schon tatsächlich "sehe", worauf ist es gezeichnet, woraus besteht die "Leinwand" und "wo" ist sie?
Kurz: Was ist das Trägermedium von Gedanken?




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Jörn Budesheim
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Di 29. Nov 2022, 15:13

Das Denken ist meines Erachtens nicht das Gleiche wie ein Gedanke. Das Denken ist ein Vorgang. Ein Gedanke ist hingegen eine abstrakte Entität. Ein wahrer Gedanke ist einfach eine Tatsache. Den Gedanken, dass 7+5=12, kann jede:r erfassen. Dieser Gedanke ist aber nicht identisch mit der jeweiligen "Erfassung".




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Di 29. Nov 2022, 15:33

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 12:13
Was deinen zweiten Satz angeht, bin ich mir nicht sicher, ob nicht genau aus diesem Punkt heraus Pflichten behauptet werden im anderen Strang und dort weniger streng auf Vokabulare geachtet wird. :mrgreen:
Ich weiß jetzt nicht von welchem Strang Du sprichst. Meine Anmerkung war eine Aufforderung an Dich Dir zu überlegen, ob es Dir genügt als Zellhaufen mit Biochemie angesehen zu werden, weil das ja irgendwie den Tatsachen entspricht. Ich habe die vage Vermutung, dass dein Selbstbild ein anderes ist... völlig ungeachtet dessen was aus biologischer Sicht "richtig" ist.
Ich kann nicht beweisen, dass ich eine Würde habe. Ich bestehe trotzdem drauf. Weil es ausser den Tatsachen auch noch andere berechtigte Gründe gibt. Ideen zum Beispiel.



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Lucian Wing
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Di 29. Nov 2022, 15:57

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 15:33
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 12:13
Was deinen zweiten Satz angeht, bin ich mir nicht sicher, ob nicht genau aus diesem Punkt heraus Pflichten behauptet werden im anderen Strang und dort weniger streng auf Vokabulare geachtet wird. :mrgreen:
Ich weiß jetzt nicht von welchem Strang Du sprichst. Meine Anmerkung war eine Aufforderung an Dich Dir zu überlegen, ob es Dir genügt als Zellhaufen mit Biochemie angesehen zu werden, weil das ja irgendwie den Tatsachen entspricht. Ich habe die vage Vermutung, dass dein Selbstbild ein anderes ist... völlig ungeachtet dessen was aus biologischer Sicht "richtig" ist.
Ich kann nicht beweisen, dass ich eine Würde habe. Ich bestehe trotzdem drauf. Weil es ausser den Tatsachen auch noch andere berechtigte Gründe gibt. Ideen zum Beispiel.
Den Strang über Rechte/Pflichten, wo es ebenfalls wie hier ein paar Begriffsunschärfen gibt. Ich stelle später dazu eine Überlegung ein, wo wir das gleiche Problem wie hier haben mit dem Vokabular.

Es gibt nach meinem Verständnis kein biologisches Selbstbild. Als was andere mich sehen, etwa eliminative Materialisten, ist mir dabei wurscht. Aber, und das müssten wir im anderen Strang diskutieren, es gibt auch keine "angeborene Würde". Die basiert auf einer naturrechtlichen Ableitung, insofern dürfte man von einer Schnapsidee sprechen. :mrgreen: Man kann ihre Funktionalität vielleicht trotzdem akzeptieren, aber unsere Präambel im GG ist (philosophisch gesehen) abenteuerlich.



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Mi 30. Nov 2022, 00:59

Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 15:57
es gibt auch keine "angeborene Würde". Die basiert auf einer naturrechtlichen Ableitung, insofern dürfte man von einer Schnapsidee sprechen. :mrgreen: Man kann ihre Funktionalität vielleicht trotzdem akzeptieren, aber unsere Präambel im GG ist (philosophisch gesehen) abenteuerlich.
Siehste. Aber genau darum geht es mir.
Damit wir ein Menschenbild Selbstbild annehmen muss es nicht "richtig" sein. Es gibt genügend andere Gründe warum es dennoch gültig sein kann.



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Lucian Wing
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Mi 30. Nov 2022, 08:47

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 00:59
Lucian Wing hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 15:57
es gibt auch keine "angeborene Würde". Die basiert auf einer naturrechtlichen Ableitung, insofern dürfte man von einer Schnapsidee sprechen. :mrgreen: Man kann ihre Funktionalität vielleicht trotzdem akzeptieren, aber unsere Präambel im GG ist (philosophisch gesehen) abenteuerlich.
Siehste. Aber genau darum geht es mir.
Damit wir ein Menschenbild Selbstbild annehmen muss es nicht "richtig" sein. Es gibt genügend andere Gründe warum es dennoch gültig sein kann.
Was zu gelten hat, kann sich auf diverse Arten durchsetzen. Wer die Macht hat, kann auch durchsetzen, dass gilt: 2+2=5. Oder dass ein humanoider Roboter dem Menschen gleichgestellt wird und Menschenwürde erhält. Einer der Väter der Begründung, auf die sich die Idee der Menschenwürde stützt, fand zum Beispiel, dass die Indianer noch nicht einmal kulturfähig waren, was sie definitionsgemäß aus dem Kreis derer ausschließt, für die Menschenwürde gilt. Ein geistiger Königsberger Klops - und vielleicht wird es auch enmal als Klops angesehen, dass wir Intelligenz, Lernen und Verstehen dem Menschen vorbehalten wollte. Das ist das Problem mit dem "gelten". Etwas wird geltend gemacht, unabhängig von seiner Richtigkeit, wie du richtig feststellst. Interessen sind auch Gründe. Sogar sehr gewichtige.



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sybok
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Mi 30. Nov 2022, 21:44

Ich habe mir eine Geschichtspodcast-Folge über Robert Owen angehört, ein "Frühsozialist" und gleichzeitig Industrieller zu Beginn der Industriellen Revolution. Dort wurde erwähnt, dass durch die Industrialisierung beeinflusst, Owen die Gesellschaft als riesige Maschine betrachtet habe. Tatsächlich blicke ich wiederum auf die Gesellschaft als ein informationsverarbeitendes System, als "Computer" - zumindest teilweise. Gibt es denn eigentlich auch eine Parallele in der europäischen Kulturgeschichte, zwischen der Sichtweise auf den Menschen und die Sichtweise auf die Gesellschaft als eine Art "Superorganismus", gebaut und funktionierend ebenso nach einer zeitgeistlichen Sichtweise auf die Welt?

Weiter kam mir beim Mitlesen des Rechte/Pflichten- Threads in Erinnerung, dass man ja im Recht von "juristischer Person" spricht. Eigentlich eine sehr ähnliche Konstruktion wie "künstliche Intelligenz", ein das jeweilige "natürliche" abgrenzendes Adjektiv gefolgt von einem Begriff, der üblicherweise Menschen charakterisiert.
Der Zusammenhang ist womöglich sogar noch stärker: Eine juristische Person, ein Unternehmen, könnte man gewissermassen ja auch als künstliche Intelligenz betrachten. "Moderne" / hippe Konzepte für die Organisation in einem Unternehmen, Holocracy, Sociocracy 3.0, schreiben, dass sie ein Unternehmen als lebendigen Organismus ansehen - zumindest bei Sociocracy fällt tatsächlich auch der Vergleich mit dem Nervensystem.
Wie verhält es sich denn eigentlich mit "juristischer Person", wie sehen die Sprachbegabten / -verständigen denn diesen Begriff?

Ich frage mich, ob diese "Kulturgeschichte der KI" nicht vielleicht ein Teil einer grösseren Erzählung ist.
Vielleicht geht es eigentlich eher darum, dass der Mensch halt irgendwo fasziniert ist von sich selber und von diesem offensichtlichen Gegensatz: Einerseits, dass wir uns für mehr als plumpe Biologie halten, als letztlich nicht erklärbar, als doch so halbwegs mit der Fähigkeit ausgestattet, von Aussen auf die Welt zu blicken, nach dem Vorbild Gottes geformt, oder nach anderen Mythen zumindest mit Gott oder Göttern interagierend. Andererseits unterliegt man offensichtlich den Naturgesetzen, etwa hat die Medizin ja mit der Maschinen-Sichtweise ungeheure Fortschritte erzielt. Atmung, Stoffwechsel, sensorische Wahrnehmung, solche Dinge kann man ja mit Physik und Chemie erklären (und reproduzierbar manipulieren).
Ich würde, das hab ich ja glaube ich in weniger konkreter Form hier auch schon erwähnt, diesen Topos von der "künstlich geschaffenen Lebensform" also eigentlich lieber als Teil der Suche nach Antworten auf "die grosse Fragen" verstehen wollen, als Teil der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selber.
"Mentalistisches Vokabular", in seiner exakten Bedeutung ja ohnehin zu schwammig, in Unwissenheit und Unklarheit über jene Fragen, einzuschränken, hiesse das dann nicht auch, auf der Suche nach den Antworten gewisse Wege grundlos abzusperren?




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NaWennDuMeinst
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Mi 30. Nov 2022, 21:54

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 08:47
Was zu gelten hat, kann sich auf diverse Arten durchsetzen. Wer die Macht hat, kann auch durchsetzen, dass gilt: 2+2=5. Oder dass ein humanoider Roboter dem Menschen gleichgestellt wird und Menschenwürde erhält. Einer der Väter der Begründung, auf die sich die Idee der Menschenwürde stützt, fand zum Beispiel, dass die Indianer noch nicht einmal kulturfähig waren, was sie definitionsgemäß aus dem Kreis derer ausschließt, für die Menschenwürde gilt. Ein geistiger Königsberger Klops - und vielleicht wird es auch enmal als Klops angesehen, dass wir Intelligenz, Lernen und Verstehen dem Menschen vorbehalten wollte. Das ist das Problem mit dem "gelten". Etwas wird geltend gemacht, unabhängig von seiner Richtigkeit, wie du richtig feststellst. Interessen sind auch Gründe. Sogar sehr gewichtige.
Würdest Du denn sagen, dass z.B.die Idee der Menschenwürde keine Geltung haben sollte, weil wir ihre Richtigkeit nicht beweisen können?
Mir fällt auf, dass Du in deiner Antwort vor allem nach Negativbeispielen suchst. Das ist etwas einseitig, nicht?



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Mi 30. Nov 2022, 22:11

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 21:54
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 08:47
Was zu gelten hat, kann sich auf diverse Arten durchsetzen. Wer die Macht hat, kann auch durchsetzen, dass gilt: 2+2=5. Oder dass ein humanoider Roboter dem Menschen gleichgestellt wird und Menschenwürde erhält. Einer der Väter der Begründung, auf die sich die Idee der Menschenwürde stützt, fand zum Beispiel, dass die Indianer noch nicht einmal kulturfähig waren, was sie definitionsgemäß aus dem Kreis derer ausschließt, für die Menschenwürde gilt. Ein geistiger Königsberger Klops - und vielleicht wird es auch enmal als Klops angesehen, dass wir Intelligenz, Lernen und Verstehen dem Menschen vorbehalten wollte. Das ist das Problem mit dem "gelten". Etwas wird geltend gemacht, unabhängig von seiner Richtigkeit, wie du richtig feststellst. Interessen sind auch Gründe. Sogar sehr gewichtige.
Würdest Du denn sagen, dass z.B.die Idee der Menschenwürde keine Geltung haben sollte, weil wir ihre Richtigkeit nicht beweisen können?
Also, das wird jetzt zu spezifisch und themenfremd hier. Ich habe mal in einem philosophischen und in einem politischen Forum auf der Basis zweier Bücher ...

https://www.suhrkamp.de/buch/manfred-ba ... 3518297995
https://www.suhrkamp.de/buch/menschenwu ... 3518298114

.. versucht eine Diskussion um den Begriff zu führen, aber im politischen Forum war das zu fordernd, im philosophischen zwar länger und mit großer Beteiligung, aber irgendwann dann doch nicht mehr sinnvoll. Und hier hat es keinen Sinn, weil ja nie mehr als zwei der drei Leute stabil zusammenkommen, und weil es dazu ein Thema ist, das sich nicht im Twitterformat, das der eine oder andere bevorzugt, führen lässt. Im Moment mag ich mir das nicht antun.



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Mi 30. Nov 2022, 23:30

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 10:32
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 29. Nov 2022, 08:18
Das mag alles etwas "dramatisch" ausgedrückt sein, aber dafür dürfte es hoffentlich etwas anschaulich geworden sein.
Nein, das finde ich gar nicht "dramatisch". Du hast das sehr schön auf den Punkt gebracht.
Ich sehe das ähnlich. Wir verändern mit solchen Ansichten unser Selbstbild.
Und dieses Selbstbild vom Menschen als biologische Maschine geistert in den Köpfen sowieso schon rum (als Prämisse).
Demnach sind wir nur animierte Materie. Diese Ansicht ist sogar Voraussetzung dafür zu glauben man könne Maschinen alles beibringen was ein Mensch ist oder vollbringen kann.
Denn wenn wir selbst nur Maschinen sind, geht es im Grunde nur um einen "Nachbau". Reverse Engineering und dann replizieren. So die Vorstellung.
Wir diskutieren hier nicht das "Selbstbild vom Menschen als biologische Maschine" , sondern in wiefern künstliche Intelligenz tatsächlich über Intelligenz verfügt . Dreh- und Angelpunkt ist für mich dabei das Selbstbewusstsein .


Nur mal zum Vergleich ...
  • Intelligenz in anderen Disziplinen
    Künstliche Intelligenz
    Ein System, das offensichtlich intelligentes Verhalten zeigt, bleibt nur ein Werkzeug, so lange kein Selbstbewusstsein vorhanden ist und keine Motivation, aus „eigenem“ Antrieb zu handeln und „eigene“ Interessen zu verfolgen (s. a. Philosophischer Zombie). Eine ausreichend intelligente Technologie, welche auch diese Grenze überschritte und darüber hinaus womöglich Reaktionen zeigte, welche als emotional interpretierbar wären, würde diverse ethische Fragen bezüglich Rechten und Verantwortlichkeiten eines solchen Systems aufwerfen. Dabei wäre unter anderem zu diskutieren, ob eine „biologische“ Intelligenz grundsätzlich anders zu werten sei als eine „technologische“.
sybok hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 21:44


Ich frage mich, ob diese "Kulturgeschichte der KI" nicht vielleicht ein Teil einer grösseren Erzählung ist.
.. , spätestens dann , wenn bei einer "ausreichend intelligente Technologie" Selbstbewusstsein vorhanden ist, wird diese "Kulturgeschichte der KI" ganz sicher Teil einer grösseren Erzählung werden. Bisher hat sie nur die Kulturgeschichte eines Werkzeugs erzählt und die wird bekanntlich , wie schon der Name Steinwerkzeug sagt , seit der Steinzeit erzählt.




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Do 1. Dez 2022, 06:29

einen Faden zum Thema menschenwürde gibt es hier: viewtopic.php?t=172

" ... 'die Würde des Menschen ist unantastbar', ein Satz, über den Bibliotheken geschrieben worden sind, konnte gerade wegen seiner Ungenauigkeit zur ersten Säule des Grundgesetzes werden. Dadurch wird er deutungsoffen und ist nicht abhängig vom bestimmten Vorstellung von Würde, die zu einer bestimmten Zeit gelten."

(Thomas Bauer, die Vereindeutigung der Welt)




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Do 1. Dez 2022, 08:08

Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 22:11
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 21:54
Lucian Wing hat geschrieben :
Mi 30. Nov 2022, 08:47
Was zu gelten hat, kann sich auf diverse Arten durchsetzen. Wer die Macht hat, kann auch durchsetzen, dass gilt: 2+2=5. Oder dass ein humanoider Roboter dem Menschen gleichgestellt wird und Menschenwürde erhält. Einer der Väter der Begründung, auf die sich die Idee der Menschenwürde stützt, fand zum Beispiel, dass die Indianer noch nicht einmal kulturfähig waren, was sie definitionsgemäß aus dem Kreis derer ausschließt, für die Menschenwürde gilt. Ein geistiger Königsberger Klops - und vielleicht wird es auch enmal als Klops angesehen, dass wir Intelligenz, Lernen und Verstehen dem Menschen vorbehalten wollte. Das ist das Problem mit dem "gelten". Etwas wird geltend gemacht, unabhängig von seiner Richtigkeit, wie du richtig feststellst. Interessen sind auch Gründe. Sogar sehr gewichtige.
Würdest Du denn sagen, dass z.B.die Idee der Menschenwürde keine Geltung haben sollte, weil wir ihre Richtigkeit nicht beweisen können?
Also, das wird jetzt zu spezifisch und themenfremd hier.
Mir geht es gar nicht so sehr um die Würde, sondern um diese, Deine Aussage:
Erstens sind die Folgen einer Sache kein Einwand gegen ihre Richtigkeit, zumal wir uns zweitens tatsächlich gar nicht sicher sein können, ob unser Selbstbild und damit die mentalistische Sprache auch tatsächlich das, was ist, richtig repräsentiert. Dazu müssten wir das, was sybok wissen möchte ...
Ich denke nämlich nicht dass das stimmt. Die Folgen sind sehr wohl ein berechtigter Einwand.
Das eine oder andere Selbstbild haben wir gerade um bestimmte Folgen zu vermeiden. Selbst wenn wir alle nur Zellhaufen wären, können wir uns eben nicht selbst so sehen und behandeln.
Die Prämisse mit der KI-Forscher arbeiten, also dieses Menschenbild nach dem der Mensch nur eine biologische Maschine sei die man nur nachbauen müsse, finde ich hochgradig fragwürdig.
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Do 1. Dez 2022, 08:37, insgesamt 2-mal geändert.



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Do 1. Dez 2022, 08:23

Aus Langeweile schaue ich zur Zeit wieder die Serie "Star Trek Voyager".
An Bord des Raumschiffs Voyager gibt es eine künstliche Intelligenz, "der Doktor", ein holografischer Arzt.
Der behandelt eine schwangere Patientin, die über Schmerzen in den Beinen klagt.
Der Doktor verordnet ihr die Beine während der Arbeit hochzulegen und schickt sie fort.
Seine (lebende) Assistentin stellt ihn daraufhin zur Rede,, warum er der Patientin keine Auszeit von der Arbeit genehmigt hat.
Der Doktor versteht das Problem nicht und findet Schmerzen seien Teil einer Schwangerschaft die hinzunehmen sind.
Daraufhin sagt die Assistentin etwas wie ich finde sehr Entscheidendes:
"Sie sind kein Mensch. Sie hatten nie Schmerzen und sie wissen gar nicht wie verletzlich und schwach man sich fühlt wenn man Schmerzen hat."

Der "Doktor" trifft hier die falsche Entscheidung und weiß nicht einmal warum.
Als Intelligenz versagt er hier auf ganzer Linie, einfach deshalb, weil er selbst nichts spürt.
Zur Intelligenz gehört es nicht nur gut rechnen zu können oder auf Wissensdatenbanken zuzugreifen.
Zur Intelligenz gehört auch Erleben. Das zeigt wie sehr die "Funktionen" eines Organismus (hier Intelligenz und Schmerzempfinden) miteinander verknüpft sind und das man sie eben nicht einfach so getrennt auf ein (völlig) anderes Substrat übertragen kann. Macht man es dennoch kommt Unsinn dabei raus.



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