Der ausgedehnte Geist, Andy Clark und David Chalmers

Es gibt heute kaum Bereiche des alltäglichen Lebens, die nicht in irgendeiner Weise mit dem World-Wide-Web zusammenhängen. Das Gleiche gilt für "künstliche Intelligenz". Was hat die Philosophie dazu zu sagen?
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Jörn Budesheim
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Sa 19. Mai 2018, 13:28

Viele Philosoph/innen vertreten auch heute noch eine Auffassung, nach der unser Denken im Grunde ein Spiel bei verschlossenen Türen ist. In diesem Thread will ich eine Postion diskutieren, die dieser nachgerade entgegen gesetzt ist. Was sind die Grenzen des Geistes? Damit sind nicht die Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit gemeint, sondern die Frage, wo der Geist endet und wo der Rest der Welt beginnt. Wie passt das in den Bereich Philosophie des Internet? Es gehört zwar nicht zwingend hierher, aber je nachdem, wie man das Problem wendet, passt es durchaus. Es kann nämlich auf die Frage hinauslaufen: Kann ein Handy und mit ihm sein Internetanschluss Teil des Geistes sein?

Drei mögliche Antworten auf die Frage "Was sind die Grenzen des Geistes?" lauten:
  1. Die Grenze sind unsere Haut oder der Schädel. Was sich jenseits dieser Markierungen befindet ist außerhalb des Geistes
  2. "Bedeutungen sind nun mal nicht im Kopf" (Putnam) und dieser Externalismus der Bedeutung kann in einen Externalismus des Geistes übergehen, wie die beiden Autoren vermuten ...
  3. Die beiden Autoren Andy Clark und David Chalmers (das ist der mit den Zombies) vertreten in ihrem Aufsatz "der ausgedehnte Geist" eine weitere, wie sie betonen ganz andere Art von Externalismus, den sie "aktiven Externalismus nennen". Er basiert auf der aktiven Rolle der Umwelt bei der Steuerung kognitiver Prozesse.
Der Aufsatz geht gleich in medias res und ich will es den Autoren gleich tun :) Hier zitiere ich das einleitende Gedankenexperiment, den Beginn von Absatz 2 der "ausgedehnte Kognition" überschrieben ist:
Andy Clark und David Chalmers hat geschrieben : Man betrachte drei Fälle menschlichen Problemlösens:

(1) Eine Person sitzt vor einem Computerbildschirm, der Bilder von verschiedenen zweidimensionalen geometrischen Formen zeigt, und wird gebeten, Fragen zu beantworten, die das potentielle Einpassen solcher Formen in abgebildete „Fassungen“ betreffen. Um die Passform einschätzen zu können, muss die Person die Formen mental drehen, um sie mit den Fassungen abzugleichen.

(2) Eine Person sitzt vor einem ähnlichen Computerbildschirm, aber dieses Mal kann sie wählen: entweder das Bild durch das Drücken eines Rotationsschalters auf dem Schirm physisch zu drehen oder wie zuvor das Bild mental zu drehen. Es scheint zudem nicht unrealistisch, anzunehmen, dass zu der physischen Rotationsfunktion ein Geschwindigkeitsvorteil hinzukommt.

(3) Irgendwann in der Cyberpunk-Zukunft sitzt eine Person vor einem ähnlichen Bildschirm. Diese Akteurin hat indes den Vorteil eines neuronalen Implantats, das die Rotationsfunktion genauso schnell durchführen kann wie der Computer in dem vorangegangenen Beispiel. Die Akteurin muss immer noch wählen, welches interne Mittel sie gebraucht (das Implantat oder die gute altmodische mentale Drehung), da jedes Mittel verschiedene Ansprüche an die Aufmerksamkeit und andere, gleichzeitig ablaufende Hirnaktivitäten stellt.
Die Autoren fragen direkt im Anschluss "Wie viel Kognition ist in diesen Fällen gegeben?" und schlagen vor, dass die drei Fälle ähnlich sind. Fall (3) mit dem neuronalen Implantat ist nach ihrer Ansicht mit Fall (1) gleichwertig. Fall (2) zeigt die gleiche Form von "computational structure" wie der dritte Fall, allerdings verteilt "verteilt auf die Handelnde und den Computer anstatt der Internalisierung in die Handelnde."

Sie fragen weiter: Wenn wir die Rotation im dritten Fall als kognitiv ansehen, warum sollte dann Fall (2) so völlig verschieden sein? Nun kommt - auch für die (hoffentlich folgende) Diskussion ein wichtiger Punkt: Als Argument kann man hier nicht die Haut- oder Schädelgrenze anführen, weil genau das ja in Frage und zur Diskussion steht. "Aber anscheinend unterscheiden sich die Fälle in nichts anderem."

Der Anspruch der beiden Autoren ist hoch - der Aufsatz endet so: "In jedem Fall sind wir, sobald wir die Vorherrschaft von Haut und Schädel gebrochen haben, vielleicht in der Lage, uns selbst als die Geschöpfe der Welt zu begreifen, die wir in Wahrheit sind." Dmit wären die Türen weit offen und der Geist könnte aus dem gesamten Cyberspace wehen ...

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Dazu noch ein Artikel vom Schweizer Rundfunk (Immer diese Schweizer :-):

Bild FLICKR/ TEDXSYDNEY

"Wer kennt heute noch die Telefonnummern seiner Freunde oder den eigenen Terminplan auswendig? Niemand. Sind wir vergesslicher geworden? Nein, meint der australische Philosoph David Chalmers. Ein Teil unseres Ichs und unseres Wissens sitze nämlich nicht im Gehirn, sondern in unseren Smartphones." (Yves Bossart)

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Jörn Budesheim
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Sa 19. Mai 2018, 13:34

information-philosophie hat geschrieben : (3) Kognition ist unter Umständen erweitert (extended). Unter bestimmten Bedingungen erstrecken sich kognitive Prozesse über die organismischen Grenzen eines Akteurs hinaus in seine technische bzw. soziale Umwelt hinein, sodass seine kognitive Leistungsfähigkeit nicht nur von internen, sondern auch von externen Faktoren konstituiert wird. Wenn zum Beispiel schriftliche Notizen im Leben eines Alzheimerpatienten und bei der Erklärung seines Verhaltens dieselbe Rolle spielen wie neuronal abgespeicherte Gedächtnisinhalte bei gewöhnlichen Erwachsenen, dann sollten wir sie womöglich als Teil des materiellen Substrats seiner Erinnerungen oder Überzeugungen anerkennen.

Quelle: http://www.information-philosophie.de/? ... &y=4&c=111




Tosa Inu
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Sa 19. Mai 2018, 13:57

Auch Habermas spricht in Zwischen Naturalismus und Religion von einem sozialen Gehirn, in dem unser Wissen kulturell (u.a. in tradierten Praktiken) gespeichert ist.

Unser Wissen wird, wenn Bossart Recht hat, zu einem heuristischen Wissen, man muss wissen, wo man nachschauen muss, um an Informationen zu gelangen. Allerdings mahnt ja schon Heidegger, dass man nicht alles delegieren kann und spätestens bei Tod damit Ende wäre. Ich habe nie ganz verstanden (und später gelernt, dass das auch andere kritisieren), warum Heidegger dabei so auf den Tod fixiert ist, denn bei seiner Differenz zwischen einer Eigentlichkeit und der Versklavung durch das Man, gibt es streng genommen nichts, was ich delegieren kann. Niemand kann für mich sterben, das stimmt, aber auch nicht essen, lesen oder meditieren.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Alethos
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Mo 21. Mai 2018, 21:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 19. Mai 2018, 13:28
Die beiden Autoren Andy Clark und David Chalmers (das ist der mit den Zombies) vertreten in ihrem Aufsatz "der ausgedehnte Geist" eine weitere, wie sie betonen ganz andere Art von Externalismus, den sie "aktiven Externalismus nennen". Er basiert auf der aktiven Rolle der Umwelt bei der Steuerung kognitiver Prozesse.
Ein äusserst spannendes Thema. Eine moderne Technologie basierte Fassung des Hegelschen Weltgeists :)

Eine Verständnisfrage zu Beginn: Was ist genau der Unterschied nach Chalmers zwischen einem Bedeutungsexternalismus und einem aktiven Externalismus? Ich habe verstanden, dass es mit der die Kognition beeinflussenden Umwelt zu tun hat, aber kann das nicht wirklich einordnen.



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Alle lächeln in derselben Sprache.

scilla
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Di 22. Mai 2018, 05:43

bei den IQ Tests muss man vorgegebene Fomen im Kopf drehen,
um die richtige Antwort ankreuzen zu können

würde die Form bereits als Gegenstand (Würfel ...) vorliegen,
welche man nur noch mit der Hand einzustellen braucht,
könnten mehr Menschen die Frage richtig beantworten

es besteht also ein messbarer Unterschied zwischen einer mentalen und einer physischen Drehung

die Erfindung eines Hilfsmittels (mit welchem man mentale oder physische Defizite ausbügeln kann)
ist eine weitere Baustelle
(solch ein Erfinder gilt als clever)
Der Anspruch der beiden Autoren ist hoch - der Aufsatz endet so: "In jedem Fall sind wir, sobald wir die Vorherrschaft von Haut und Schädel gebrochen haben, vielleicht in der Lage, uns selbst als die Geschöpfe der Welt zu begreifen, die wir in Wahrheit sind." Dmit wären die Türen weit offen und der Geist könnte aus dem gesamten Cyberspace wehen ...
die Vorherschaft von Haut und Schädel ist auch dann gebrochen,
wenn man registriert,
daß man sich in einer Kulturlandschaft befindet,
deren Fortbestand von der Fortführung einer gewissen Tradition abhängt

dieses Forum hier würde es sonst nicht geben




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Jörn Budesheim
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Alethos hat geschrieben :
Mo 21. Mai 2018, 21:28
Bedeutungsexternalismus
Die Grundgedanke des Bedeutungsexternalismus/ semantischen Externalismus ist folgender: In den grundlegenden Fällen haben sprachliche Ausdrücke ihre Bedeutung aufgrund von Zusammenhängen mit Gegenständen, Sachverhalten bzw. Ereignissen der äußeren Welt. Der berühmte Slogan von Hilary Putnam lautet: "Bedeutungen sind nun mal nicht im Kopf!" Die These ist (auch) mittels des Gedankenexperiments der ra­dikalen Übersetzung/Interpretation (Quine/Davidson) begründet worden.




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Jörn Budesheim
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Tosa Inu hat geschrieben :
Sa 19. Mai 2018, 13:57
Unser Wissen wird, wenn Bossart Recht hat, zu einem heuristischen Wissen, man muss wissen, wo man nachschauen muss, um an Informationen zu gelangen.
Die These von Andy Clark und David Chalmers ist aber radikaler, sie sind der Ansicht, dass das iPhone Teil unseres Geistes ist.




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