Melanie Möller und Eva Geulen im Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht

Hier werden Vorträge diskutiert, die online als Video verfügbar sind.
Nauplios
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iselilja hat geschrieben :
Do 18. Feb 2021, 19:52

Ich hatte heute nachmittag ein wenig darüber nachgedacht, insofern ein netter und auch glücklicher Zufall, dass ich nun gerade heute auch Deinen Beitrag lesw, @Nauplios. Das Thema welches Du vor langer Zeit aufgeschlagen hattest, erinnerte mich daran, dass bei genauerer Betrachtung ja fast alle Symbolik am Ende Methaphorik bleiben könnte. Sich jene Unbegrifflichkeit gerade in dem Noch-nicht-Begrifflichen der widerspänstigen Realität zeigt, die uns heute allerdings aus mehreren Gründen anders erscheint als zu früheren - im Dunklen liegenden - Zeiten. Der Grund dafür ist mir auch heute erst so wirklich klar geworden. Denn jedes Wort muss irgendwann einmal zuerst ausgesprochen worden sein. Die Geschichte der Menschheit ist also genausogut eine Geschichte der Wörter und Begriffe. Doch wozu werden Begriffe gefunden rsp. geformt? Nun.. um das, wofür es noch keinen Begriff gibt mittels zu entwerfendem Begriff erst festzuhalten und so für Späteres auch zu begreifen. Und hier versteht man vielleicht auch den Gedanken, dass vor jedem Begriff so etwas wie ein kleiner Mythos der Beschreibung liegt.
Ja, das erinnerte mich beim Lesen gestern sofort an jene bekannte Passage aus Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne:

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.

In dem "entwerfenden Begriff", wie Du ihn nennst, steckt der Wurf. Der Mensch entsteht mit einem Wurf, mit einer actio per distans. Der Steinwurf ist ein erstes Mittel, auf Distanz zur Realität zu gehen, der Begriff ist dafür das zivilisierte Mittel. Auch die mnemosyne, die Erinnerung, ist solch eine Form der Distanzgewinnung. Die höchste Form, sich die Wirklichkeit im wahrsten Sinne des Wortes vom Leib zu halten, ist die Vernunft. Blumenberg beschreibt sie als das Vermögen, "von all dem Aussagen zu gewinnen, was nicht nur faktisch ungegenwärtig und unanschaulich ist, sondern was überhaupt nicht wirklich, sondern nur möglich oder sogar unmöglich ist." - Hier kommt dann noch der Aspekt der Modalität hinzu, den wir kürzlich im Thread "Ist alles mit allem verbunden" gestreift haben. -

Der Begriff als "entwerfend" - der Mensch als Fallen-stellendes Wesen, dessen Begriffsarbeit nach Art der Aufstellung einer Falle funktioniert.




Nauplios
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Fr 19. Feb 2021, 14:32

iselilja hat geschrieben :
Do 18. Feb 2021, 19:52

Und man merkt das auch bei jedem geschreibenen Satz, der einem alles abverlangt - nämlich nicht das Suchen nach geeigenten Begriffen (so wie ich lange Zeit dachte) ist es - sondern genau das Gegenteil, es ist die Suche nach etwas, was das real Verfügbare in eine mögliche Versprachlichung hineinzieht. Die Begriffe, die das Staunen selbst hervorbringt sind insofern deskriptive Neologismen. Und das waren sie wohl schon zu jeder Zeit.
Auch zu diesem "Hereinziehen [des real Verfügbaren] in eine mögliche Versprachlichung" gibt es einen aufschlußreichen platonischen Dialog, den Kratýlos. Da geht es um Namen und Bezeichnungen und inwiefern man dabei von Richtigkeit und Wahrheit sprechen kann. Man sieht schon: alle Wege führen zu Plato. ;)




Nauplios
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So 21. Feb 2021, 18:42

iselilja hat geschrieben :
Do 18. Feb 2021, 19:52

Die Geschichte der Menschheit ist also genausogut eine Geschichte der Wörter und Begriffe.
In einem der Nachgelassenen Aphorismen Ludwig Feuerbachs heißt es: "Das Denken ist nur ein erweitertes, auf Entferntes, Abwesendes ausgedehntes Empfinden, ein Empfinden dessen, was nicht wirklich, eigentlich empfunden wird; das Sehen dessen, was nicht gesehen wird." (Sämtliche Werke, X, S. 298)

Als Beispiel für ein solches Denken als ein auf Abwesendes gerichtetes Empfinden nennt Feuerbach das kopernikanische System. Kopernikus standen ja das Fernrohr, das erst ein Jahrhundert später Galilei weiterentwickelte, nicht zur Verfügung. Das kopernikanische System ist ein den Sinnen eher widersprechendes System, das aus "Vernunft-Wahrheiten" besteht. Nur der "denkende Geist" sei diesem System gewachsen, schreibt Feuerbach. - Galilei mit seinen Beobachtungen durch das Fernrohr kann dann aus den Vernunft-Wahrheiten nachträglich "Sinnes-Wahrheiten" machen. -

Auch hier hat man also in gewisser Weise eine actio per distans.




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iselilja
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Mi 3. Mär 2021, 17:34

Epochen kommen und gehen.. und mit ihnen der Zeitgeist. Nun kann man schlecht sagen, dass die Philosophie davon unberührt bliebe, ihr "wachendes Auge" von jeher aus der diachronen Perspektive urteile. Aber man kann sagen, dass sie immer wieder die Transzendenz wagt, das zeitgemäß Selbstverständliche zu hinterfragen. Denn jede (für den Menschen anscheinende selbst-) Verständlichkeit nimmt an irgend einem Hafen ihre Fahrt auf. Und so (als selbst immer wieder die Fährte Auf- und Annehmende) bleibt Philosophie wohl immer das, "worauf man beinahe von selber gekommen wäre" (Blumenberg). Und dennoch muss sie ja auch das sein, was dieses drauf Kommen ermöglicht.

Der Erste, der dies so verstand, war Sokrates, dessen Methodik uns durch Platon vermittelt ist. Mäeutik nannte er es angeblich selbst. Doch was geschieht, wenn man das Selbstverständliche zum Einstürzen bringt? An jeder Selbstverständlichkeit hängen menschliche Selbstverständnisse.

Der Mensch als soziales Wesen verfügt über zwei Sprachen. Da ist einmal die Sprache, die der Information, demMitteilen und in Erfahrung bringen geschuldet ist. Diese Sprache ist wesentlich von einem Wahrheitsbedürfnis geprägt. Denn niemand fragt nach der Unwahrheit. Die andere Sprache allerdings ist jende des Bewußtseins, in sozialen Verflechtungen zu existieren. Die Wahrheit ist hier zweitrangig - hier zählt das glückliche Leben mehr.




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iselilja
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Do 4. Mär 2021, 05:44

Der Sokratische Dialog ist also kein Dialog des gegenseitigen in Kenntnis Setzens - er ist kein Informationsaustausch. Der sokratische Dialog lehrt vom Kundigen zum Unkundigen, indem er den Unkundigen seine eigene Erfahrung abstreifen lässt.. sie nach und nach entblättert und ihn dabei nötigt, diese Entblätterung auch noch zu reflektieren.

Doch was konnte Sokrates schon wissen? Nun, er kannte das, was die Jugendlichen - deren Verderbenis wegen er später des Verbrechens angeklagt und auch hingerichtet (!) wurde - offenbar ihres Alters wegen noch nicht wissen konnten. Hier werden also Inhalte vermittelt, deren Beschaffenheit so ist, dass sie entblättert wie Aletheia ihr nacktes So-Sein zum Vorschein bringen. Was nur dann möglich ist, wenn es eine Realität gibt, in der die Wahrheit als solche sich überhaupt zeigen kann. Die Wahrheit liegt also als solche bereits im Unkundigen, so er denn in der selben Realität vorkommt, wie der Kundige.

Doch die Sprache der Eltern ist eine andere als die des Sokrates.. in ihr liegt das Fürsorgliche, das nicht um jeden Preis die Wahrheit zu jeder Stunde nötig macht. Denn es kommt die Zeit, in der sie von selbst drauf kommen werden. Die Realität wird (bzw. bleibt) ihr Lehrer.

Die sokratisch unterrichteten Jugendlichen fingen aber an, ihren Eltern zu widersprechen. Denn sie waren noch nicht reif, mit dieser Wahrheit umgehen zu können.

Erst im Alter wird der ein oder andere von Sokrates Unterrichtete die sokratische Tragik des Wissens um Wahrheiten erkannt haben. Spätestens wenn sie selbst Kinder haben, die sie nach und nach dränagen müssen, das heimische Nest (Platons Höhle) zu verlassen um ins Licht zu gehen. Die ewige Neuinterpretation des Höhlenlebens wird nie dazu kommen, die Wahrheit, die sich draussen im Lichte abspielt, in der Höhle zu harmonisieren.




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iselilja
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Fr 5. Mär 2021, 19:29

Gleichwohl gibt es eine Wahrheit des Höhlenlebens, welches als "terra cognita" erlebt wird. Heute würden wir es eher als nähere und gut reflektierte Umwelt bezeichnen. Wenn also das Höhlenleben und das Leben außerhalb der Höhle letztendlich aber in der selben Realität (in der 3. Person als Raum-Zeit-Gefüge begreifbar) stattfinden, muss es auch etwas Verbindendes geben, was nicht der Mensch selbst ist.




Timberlake
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Di 19. Jul 2022, 19:16

Nauplios hat geschrieben :
Di 16. Feb 2021, 19:51
Der Skeptiker spricht

"Halb ist dein Leben um,
Der Zeiger rückt, die Seele schaudert dir!
Lang schweift sie schon herum
Und sucht und fand nicht - und sie zaudert hier?
Halb ist dein Leben um:
Schmerz war's und Irrthum, Stund' und Stund' dahier!
Was suchst du noch? W a r u m? - -
Diess eben such' ich - Grund um Grund dafür!"

(Friedrich Nietzsche; Die fröhliche Wissenschaft; in: KSA 3, S. 367)
Nur um mal dieses Orakel , diese Ellipse als sprachliches Mittel ( Siehe "Kontigenz und elliptische Sprache " ...40:48min ) zu ergänzen ...

Dieser Skeptiker, der da spricht , gehört mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu den "Allermeisten" ..
  • Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den allermeisten fehlt das intellektuale Gewissen; .. Ich will sagen: die allermeisten finden es nicht verächtlich, dies oder jenes zu glauben und darnach zu leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewußt worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen »Allermeisten«.
    Nietzsche .. Die fröhliche Wissenschaft

Das die begabtesten Männer und die edelsten Frauen noch zu diesen »Allermeisten« gehören , darüber kann man sich übrigens , wie zum Beweis dessen , wie ich meine, ganz aktuell im Thread "Bonhoeffer über Dummheit" ein jeder selbst ein Bild machen. Dort hätte ich mich mitunter schon gewünscht das dort .. "Der Skeptiker spricht" .
iselilja hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 17:34
Epochen kommen und gehen.. und mit ihnen der Zeitgeist. Nun kann man schlecht sagen, dass die Philosophie davon unberührt bliebe, ihr "wachendes Auge" von jeher aus der diachronen Perspektive urteile. Aber man kann sagen, dass sie immer wieder die Transzendenz wagt, das zeitgemäß Selbstverständliche zu hinterfragen.
Ein Skeptiker, der "wachendes Auge" tatsächlich das zeitgemäß Selbstverständliche hinterfragt. Dazu muss man allerdings keine Transzendenz wagen. Der logische Menschenverstand reicht als "´Wagnis" m.E. völlig aus.




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