iselilja hat geschrieben : ↑ Do 4. Feb 2021, 19:48
Es wäre verwunderlich, wenn es uns leichterdings gelänge, einen Begriff der Unbegrifflichkeit zu entwickeln, ein klares Verständnis davon zu haben. Und dennoch, ich weiß nicht warum, habe ich das Gefühl, dass Unbegrifflichkeit etwas reales sein muss. Etwas was passiert, etwas, was der Fall ist.
Ja, das mit dem "spaltenden Spalt" war natürlich nur ein wenig sprachliche Posse, ein Übermut ...
Der Gedanke der Unbegrifflichkeit ist Teil eines theoretischen Konstrukts. Wenn man sich klar machen will, was es damit auf sich hat, dann ist es vorteilhaft, einen solchen Gedanken an seinem theoretischen Ursprungsort aufzusuchen. Das gleicht einer Besichtigungstour. Man chartert einen Bus, nimmt sich ein Wochenende frei, packt etwas Proviant ein und dann kann es losgehen. Ein solches Freizeitvergnügen wurde vor einiger Zeit auch hier unternommen. Allerdings kam der Bus nie an. Unstimmigkeiten über die Existenz des Ziels, über die Route dorthin, über die Attraktivität alternativer Ziele und über den Sinn von Busreisen überhaupt vereitelten die Besichtigung vor Ort.
Von erfolgreich Angekommenen sind inzwischen Interpretationen und Weiterentwicklungen bekannt wie sie beispielsweise in
Unbegrifflichkeit - ein Paradigma der Moderne vorliegen. Christian Sinn berichtet dort von einer "Soziologie der Unbegrifflichkeit", andere von der Funktion der Unbegrifflichkeit in der Literatur, zum Beispiel bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, Paul Celan oder auch in der Musik. Überhaupt hat sich ja gerade die Kunst und ihre Theorie vom Gedanken der Unbegrifflichkeit inspirieren lassen; ich denke etwa an diverse Ausstellungen im vergangenen Jahr in Münster.
Wie fruchtbar das Konzept der Unbegrifflichkeit in der Literaturwissenschaft ist, hat Ursula Renner am Beispiel von Hofmannsthal untersucht:
"Die Autorin zeigt, wie Hofmannsthal der zersetzenden Macht der Begriffssprache in einem 'Diskurs der Unbegrifflichkeit' zu entkommen sucht indem er das nonverbale Zeichensystem der bildenden Kunst literarisch für sich nutzt. Nicht daß sie 'Natur' abbildet, ist nach Hofmannsthal ihr Vorzug, sondern daß sie, wie die Träume, lebendiges Zeugnis ablegt von der schöpferischen Individualität und den 'subjektiven Wahrheiten' der Seele. Bilder 'transponieren' das 'Leben' und machen anschaulich, 'was sich im Leben in tausend anderen Medien komplex äußert'. Grundsätzlich geht es bei Hofmannsthals produktiver Rezeption bildender Kunst, u. a. der von Böcklin und Picasso, um ein zentrales Problem der klassischen Moderne - um die Frage nach der Kommunizierbarkeit von innerer Erfahrung und darum, wie das Kaleidoskop der ästhetischen Zeichen wirkungsmächtig in Bewegung gehalten werden kann." (
https://www.rombach-verlag.de/buecher/s ... ilder.html
Ein anderes Beispiel im Bereich der Ästhetik und Kunsttheorie ist Gesa Ziemer;
Verletzbare Orte: Versuch einer praktischen Ästhetik (
https://www.researchgate.net/publicatio ... n_Asthetik).
"Hauptanliegen der Dissertation ist es, einen Entwurf einer praktischen Ästhetik zu lancieren, der an der Schnittstelle zwischen philosophischer Ästhetik und Kunst – genauer Performancekunst - im Zeichen der Bezugsgrösse der Verletzbarkeit steht. In jüngeren Ästhetikansätzen hat sich eine Auffassung herauskristallisiert, die nicht über, sondern mit Kunst reflektiert. Die Pointe im ‚Mit’ liegt darin, dass diese Ästhetiken die Kunst nicht erklären, sie bestimmen und damit ihre Bedeutung festlegen, sondern dass diese entlang der Kunst die Brüche, Widerstände und Zäsuren zwischen Wahrnehmen und Denken markieren und diese als produktiv bewerten. Diese Lesart etabliert ein Denken, das nicht aus der Distanz auf etwas schaut (theoria), sondern ästhetisch-reflektierend (zurückwendend, auch selbstkritisch) mit der Kunst denkt. Die Disziplin der Ästhetik - als aisthesis: Lehre der sinnlichen Wahrnehmung - nimmt innerhalb der Philosophie eine besondere Stellung ein, weil sie auf ebendiese Differenz verweist und deshalb sinnliche und nicht nur logisch-argumentatorische Denkfiguren stärkt. Als eine Möglichkeit, die Kluft, das Nicht-Einholbare, die brüchige Unzulänglichkeit des begrifflich Denkenden gegenüber ästhetischer Erfahrung zu stärken, schlage ich die Bezugsgrösse der Verletzbarkeit vor. Eine solche Ästhetik besteht aus dem Kreieren verletzbarer Orte, wobei diese auf zweierlei Weisen umkreist werden: Zum einen aus der Kunstpraxis heraus anhand der ästhetischen Figur des verletzbaren Körpes, wie er sich in der zeitgenössischen Performance zeigt. Zum anderen als ein Kreieren von Begriffen im Bewusstsein ihrer Verletzbarkeit. Ausgangspunkte sind die Denkentwürfe von Gilles Deleuze und Hans Blumenberg: Die Ästhetik von Gilles Deleuze entwirft eine konkrete Überschneidungsmöglichkeit von Kunst und Philosophie, aus der sich meine These des Mit-Kunst-Denkens entwickeln lässt. Sie kann aus der Grundvoraussetzung des Deleuzeschen Denkens heraus begründet werden, die besagt, dass nicht nur die Kunst, sondern auch die Philosophie eine schöpferische Tätigkeit ist. Beide Disziplinen beruhen auf dem Prinzip der creatio continua, durch welche die Kunst Empfindungen und die Philosophie Begriffe schöpft, wobei eben genau dieser schöpferische Prozess Kunst und Philosophie in ein produktives Verhältnis zueinander treten lässt. Wie Deleuze seine Begriffsarbeit entlang künstlerischer Praxis entwickelt, wird anhand der Analyse des bis heute wenig rezipierten Textes Ein Manifest weniger in Bezug auf das Theater von Carmelo Bene analysiert. Eine ganz anderen Zugang zum Entwurf einer praktischen Ästhetik liefert Hans Blumenberg, der eine Theorie der Unbegrifflichkeit in Aussicht stellt. Im Anschluss an seine Forderung, die Metapher wieder vermehrt in die philosophische Denkpraxis zu integrieren, radikalisiert er seine Forderung, auch das Nichtanschauliche zu berücksichtigen, indem er das gänzlich Unbegriffliche an die Seite des Begrifflichen stellt. Definitorische Schwäche zeigt sich als wahrhaftige Stärke, die in der Unbegrifflichkeit ihren Zenit erreicht. Der Schiffbruch wird von mir als zentrale Metapher – gewissermassen als Metapher der Metapher – verstanden, die das Auf-Grund-Laufen des Allwissenden veranschaulicht. Im Schiffbruch wird die produktive Kollision von Theorie und Praxis deutlich. Deleuze und Blumenberg zeigen über ‚creatio continua’ und ‚Unbegrifflichkeit’ die Grenzen des Begreifens, indem sie betonen, dass sich Ästhetik nicht nur auf künstlerische Erfahrungen bezieht, sondern selber in das Gegenwärtigmachen von Erfahrungen involviert ist. Daraus folgt, dass ästhetische Reflexion nicht nur begrifflich agieren muss. Die praktische Ästhetik animiert dazu, andere darstellerische Formen (Bilder, Töne, Körper) als differente und ebenbürtige reflexive Modi anzuerkennen und sie als verletzbarmachende Formate der Sprache an die Seite zu stellen. Diese Lesart betont den gestalterischen Aspekt der Ästhetik selber. Zur Verdeutlichung dieser Kluft zwischen (Körper-)Bild und Begriff ist der von mir mitgestaltete Film Augen blickeN der Dissertation als Kapitel beigefügt. Dieser Film zeigt Performer und Performerinnen, die sich bewusst entschieden haben, ihren ‚abweichenden’ Körper auf der Bühne zu präsentieren. Das Wort Verletzbarkeit verweist auf die paradoxe Situation, etwas Brüchiges tragfähig zu machen und dadurch auch auf eine besondere Beziehungsform und auf ein existenzielles Aufeinander-Verwiesensein der Menschen. Verletzbarkeit geht alle an, und stiftet deshalb eine Gemeinsamkeit besonderer Art. In diesem Sinne sind verletzbare Orte nicht nur ästhetische, sondern auch ethische Orte, womit die politische Dimension des Vorhabens betont wird."