Melanie Möller und Eva Geulen im Gespräch mit Hans Ulrich Gumbrecht

Hier werden Vorträge diskutiert, die online als Video verfügbar sind.
Nauplios
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Mi 20. Jan 2021, 17:33

Das Enchiridion ist eine Darstellungsform der Philosophie, die meines Wissens heute nicht mehr gepflegt wird. Wörtlich ist das encheirídion etwas, was man "in" (en) der "Hand" (cheír) hält, ein Handbüchlein oder altertümlich auch "Handorakel". Das Orakelhafte am Handbüchlein ist, daß die "Sprüche", die es enthält, wie beim delphischen Orakel auch ausgedeutet werden müssen; sie verstehen sich nicht so ohne weiteres. -

Das berühmteste Enchiridion der Moralistik ist das Handorakel und Kunst der Weltklugheit des spanischen Jesuiten Balthasar Gracían aus dem 17. Jahrhundert. Arthur Schopenhauer hat seinerzeit das Handorakel ins Deutsche übertragen. Nun hat der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht eine Neuübersetzung vorgelegt, die vor wenigen Wochen erschienen ist und in der Zeit Anfang Dezember vergangenen Jahres von Peter Sloterdijk rezensiert worden ist.

Im nachfolgenden Video stellt sich Gumbrecht den Fragen von Eva Geulen und Melanie Möller. - Eva Geulen ist Direktorin des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Melanie Möller ist Klassische Philologin und Geschäftsführerin der Hans-Blumenberg-Gesellschaft. Im "Werkstattgespräch" sprechen sie Hans Ulrich Gumbrecht mit "Sepp" an (Gumbrecht läßt sich von Freunden gern mit diesem Spitznamen ansprechen). - Die Tonqualität läßt anfangs etwas zu wünschen übrig, wird im Laufe der Zeit dann aber besser.






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Do 21. Jan 2021, 14:19

Da wir im "Kaffeestübchen" vorgestern auf die "Philosophie des Graphismus" (Sommer/Lerois-Gourhan) gestoßen sind, die es mit den Spuren "vergänglicher Handbewegungen" in der einfachsten Gestalt von Strichen, Linien, Punkten ... zu tun hat, noch bevor so etwas wie Sinn und Bedeutung einsetzen, ergibt sich eine Parallele zu einem anderen Feld. Melanie Möller war in Heidelberg Assistentin von Jürgen Paul Schwindt. Unter dem Titel "Schwarzer Humanismus" hat Schwindt eine Theorie der Philologie vorgelegt, deren Baustein u.a. "Thaumatographie" und "Radikalphilologie" sind. Dabei geht es - analog der Philosophie des Graphismus - um Laute und Silben , noch bevor auch hier Sinneinheiten entstehen.

Jürgen Paul Schwindt ist Mitglied des Forschungsverbundes La poésie augustéenne. In der folgenden Vorlesung zieht er einen faszinierenden Bogen von Picassos Lithographie Kentaur und Bacchantin mit einem Faun von 1947 über Hölderlins Sophokles-Übertragung der Antigone bis hin zur Dichtung von Horaz. "Wagnis und Staunen":





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Do 21. Jan 2021, 19:12

2007 veranstaltete das Seminar für Klassische Philologie in Heidelberg ein Symposion mit dem Titel Was ist eine philologische Frage?. An dieser Veranstaltung nahmen neben Jürgen Paul Schwindt und Melanie Möller auch der Gracían-Übersetzer Hans Ulrich Gumbrecht, Karl-Heinz Bohrer, Friedrich Kittler u.a. teil. - Daraus ist ein kleines stw-Bändchen hervorgegangen, das man sich in einer Leseprobe hier anschauen kann:

https://www.suhrkamp.de/buecher/was_ist ... 29543.html




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Alethos
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Nauplios hat geschrieben :
Do 21. Jan 2021, 14:19

Wenn man Sprache mag, sollte man sich das Video anschauen: Man wird sie danach umso mehr lieben.



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Alethos hat geschrieben :
Do 21. Jan 2021, 20:59

Wenn man Sprache mag, sollte man sich das Video anschauen: Man wird sie danach umso mehr lieben.
Ja, man sieht das Wunderwerk der Sprache gleichsam bei der Arbeit. (Es gibt bei Youtube noch zwei weitere Vorlesungen Wagnis und Staunen von Jürgen Paul Schwindt, der seine Begeisterung mitunter kaum zügeln kann.) -

Hinzu kommt auch, daß uns die antiken Schriften, sei's nun die Tragödie, sei's die Dichtung oder die Philosophie und Geschichtsschreibung, einen Blick zurück gestatten von ganz eigener Art. Wie in der Astronomie zeigt sich uns dabei ein Kosmos, der uns in diesem Fall an seiner Entstehung teilnehmen läßt. Wir werden Zeugen des Urknalls der europäischen Kultur, womit ich nicht bestreiten will, daß es ihrerseits weitere Quellen und Ursprünge gibt, welche dieser Kultur vorausgehen. - Aber es ist auch kein beliebiger Punkt auf dem Zeitstrahl der Evolution, den das Altertum (welches für sich genommen ja schon viele Jahrhunderte dauerte) einnimmt; es ist keine Episode, die sich durch jeweils einen markanten Anfangs- und Endpunkt umgrenzen ließe. Es ist eine Art Urschlamm, in dem all unsere kulturellen Traditionen verwurzelt sind, nicht "Trockenes", "Verstaubtes", das von Konservatoren wie Altphilologen, und Altertumswissenschaftlern bloß verwaltet und katalogisiert wird.

Was mir an dieser Gruppe um Schwindt, Melanie Möller, Barbara Vinken, Eva Geulen, Hans Ulrich Gumbrecht ... besonders gefällt, ist, daß sie sich ja keineswegs auf die griechischen und lateinischen Klassiker beschränkt. Melanie Möller hat als Latinistin über Blumenberg gearbeitet, Jürgen Paul Schwindt über Roland Barthes (Videos dazu befinden sich ebenfalls im Netz); d.h. man hat ein Netzwerk unterschiedlicher Ausgangspunkte von Altphilologen, Romanisten (Gumbrecht ist Schüler von Hans-Robert Jauß), Anglisten (Wolfgang Iser hat am oben erwähnten Symposion teilgenommen) bis hin zu Philosophen (über Melanie Möller geht die Verbindung zu Rüdiger Zill, der Referent am "Einstein-Forum" in Potsdam ist).




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Fr 22. Jan 2021, 11:19

Zu den Vorlesungen Wagnis und Staunen gibt es eine ergänzende Website mit begleitenden Materialien und Literaturhinweisen. Dort kann man sich auch noch einmal in Ruhe die in den Vorlesungen zitierten Texte anschauen:

http://philologievonunten.de




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Alethos
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Fr 22. Jan 2021, 13:57

Nauplios hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 02:03
Hinzu kommt auch, daß uns die antiken Schriften, sei's nun die Tragödie, sei's die Dichtung oder die Philosophie und Geschichtsschreibung, einen Blick zurück gestatten von ganz eigener Art. Wie in der Astronomie zeigt sich uns dabei ein Kosmos, der uns in diesem Fall an seiner Entstehung teilnehmen läßt. Wir werden Zeugen des Urknalls der europäischen Kultur, womit ich nicht bestreiten will, daß es ihrerseits weitere Quellen und Ursprünge gibt, welche dieser Kultur vorausgehen. - Aber es ist auch kein beliebiger Punkt auf dem Zeitstrahl der Evolution, den das Altertum (welches für sich genommen ja schon viele Jahrhunderte dauerte) einnimmt; es ist keine Episode, die sich durch jeweils einen markanten Anfangs- und Endpunkt umgrenzen ließe. Es ist eine Art Urschlamm, in dem all unsere kulturellen Traditionen verwurzelt sind, nicht "Trockenes", "Verstaubtes", das von Konservatoren wie Altphilologen, und Altertumswissenschaftlern bloß verwaltet und katalogisiert wird.
Ja, ich teile diese Einschätzung. Der Blick auf die Vergangenheit, auf Werke oder längst verstummte Sprachen, kurz - der historische Blick: Er offenbart die ganze Lebendigkeit des kulturellen Zusammenhangs, vom dem das Heute einen Teil bildet. Schon allein die vertiefte Analyse eines einzelnen Worts zeigt feinste Verästelungen in alle Bereiche hinein, ins Heute hinein, sodass wir sagen müssen, die totgenannten Sprachen sind in neuen Formen so lebendig wie eh und je.

Die historische Entwicklung ist, wenn auch eine mit Brüchen, immer auch eine, die eine gewisse Kontinuität zeigt. Die in der Ursuppe entstehende Kultur diffundiert in alle Epochen, durchdringt Begriffe, von Schönheit und Wahrheit z.B., und hält sie - in suspenso - in einer Art unpräziser zeitlicher Allokation für alle Zeiten verfügbar zur Adaptierung ans Neue. Eine Urmasse sozusagen, aus dem alles geformt scheint, was je die Menschenhand oder der Menschengeist erschuf. Was früher war, existiert heute noch, wenn auch in anderer Form, so doch bestehend aus diesem Alten. Wo das Damalige mit dem Heutigen denkbar wird, das Heutige mehr noch denkbar wird aus dem Damaligen, da können wir es nicht mehr mit absoluten Begriffen zu tun haben, sondern mit solchen, die sich auseinander mit einer gewissen Grosszügigkeit und Gnädigkeit ergeben. Diese Begriffe, z.B. des Schönen oder des Wahren, erhalten sich durch die Zeiten, indem sie sich gegenüber den neuen Umständen, in denen sie vorkommen, flexibel zeigen, sich anpassen, ohne aber ihre Wurzeln zu verlieren. Diese sich adaptierenden Begriffe dürfen und können keine distinkte sein, sie müssen solche sein, die sich in der Schwebe halten, um eine Neudeutung zu ermöglichen.

Der historische Blick kann deshalb keiner in die Ferne schweifender, auf tote Gegenstände gerichteter sein, er zeigt vielmehr ein Panoptikum der intimen lebendigen Verwandschaft.

Mir gefällt das alles sehr.



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Fr 22. Jan 2021, 18:54

Alethos hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 13:57


Schon allein die vertiefte Analyse eines einzelnen Worts zeigt feinste Verästelungen in alle Bereiche hinein, ins Heute hinein, sodass wir sagen müssen, die totgenannten Sprachen sind in neuen Formen so lebendig wie eh und je.

(...)

Die in der Ursuppe entstehende Kultur diffundiert in alle Epochen, durchdringt Begriffe, von Schönheit und Wahrheit z.B., und hält sie - in suspenso - in einer Art unpräziser zeitlicher Allokation für alle Zeiten verfügbar zur Adaptierung ans Neue. Eine Urmasse sozusagen, aus dem alles geformt scheint, was je die Menschenhand oder der Menschengeist erschuf.
"Eine Urmasse ... aus dem alles ..."

Dieses Eine taucht bei Heraklit und vor allem dann im Neuplatonismus als hen auf und das "alles" im pan. - hen kai pan: eins und alles / oft auch hen to pan: eins ist alles.

Das ist im Grunde die auf eine Formel gebrachte Vorstellung des griechischen kosmos, aus Einem entfaltet sich alles. (Dieser Vorstellung ist dann später für den Pantheismus bei Spinoza leitend und beschäftigt dann wieder Goethe, Hölderlin und Schelling und vielleicht auch den Nachbarthread, der die Frage aufwirft: "Ist alles mit allem verbunden?") -

Man sieht an diesem kleinen Beispiel die "feinsten Verästelungen", deren kleinste Ästchen ihre Verbindung zum antiken Wurzelwerk nicht immer gleich erkennen lassen; aber sie werden durch dieses Wurzelwerk immer noch versorgt.




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Fr 22. Jan 2021, 20:20

Im zweiten Buch der Metamorphosen berichtet Ovid von der Entführung der hübschen Prinzessin Europa. Das Gelingen dieser Entführung durch Zeus hängt ganz wesentlich davon ab, daß Europa gegen den Stier, in den sich Zeus verwandelt, keinen Verdacht hegt. Deshalb muß der Stier nicht nur wie ein Stier aussehen, er muß sich auch wie ein Stier anfühlen. Man würde heute sagen: er muß authentisch sein. Allerdings darf der Stier auch nicht allzu stierisch agieren, damit Europa keine Angst vor ihm bekommt. Deshalb gibt sich der Stier recht domestiziert, um die Prinzessin nicht durch unzivilisiertes Verhalten zu verschrecken.

Es folgt die Probe auf die Wirklichkeit. Europa "tastet" sich an ihn heran. Dieses Tasten geschieht mit den Händen und der Stier zeigt seine Friedfertigkeit indem er die Hände Europas zärtlich küßt (oscula dat manibus). Im Deutschen gibt es die Wendung "jem. eine Kußhand zuwerfen", das kommt dem oscula dat manibus nahe, eine handgebundene Geste der Zärtlichkeit. - Die Überprüfung der Echtheit des Stiers geht weiter und nun sind wieder Hände im Spiel, dieses Mal auf der anderen Seite, denn es sind vor allem die prächtigen Hörner, von denen es heißt, man könnte meinen, sie stammten aus Künstlers Händen (contendere possis facta manu).

Europa täuscht sich. Der Stier ist nicht echt. Er scheint nur ein Stier zu sein. Und zu dieser Verwechslung von Sein und Schein kommt es, obwohl Europa ihn mit Händen streichelt und weil es wohl Künstlerhände gewesen sein müssen, die sich in den Dienst gestellt haben, damit die Täuschung Erfolg hat.

So oder so - Hände sind mit im Spiel, wenn es um die Kunst geht (und sei es auch um die Kunst der Verstellung). Wenn auch das Material, aus dem der falsche Stier besteht aus der Natur stammt, ohne das eigene Handanlegen eines Künstlers, ohne diese Eigenhändigkeit geht es nicht:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 20. Jan 2021, 06:47
Eigenhändigkeit
Auch dazu habe ich mich erst vor kurzem mit einem Kollegen ausgetauscht, der viel mit Collagen macht. Eigenhändigkeit gehört zu meinen ungeschriebenen Gesetzen. Stifte und Papier kaufe ich, aber alles andere muss "eigenhändig" gemacht sein :)




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Alethos
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Fr 22. Jan 2021, 21:34

Nauplios hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 18:54
„feinsten Verästelungen", deren kleinste Ästchen ihre Verbindung zum antiken Wurzelwerk nicht immer gleich erkennen lassen; aber sie werden durch dieses Wurzelwerk immer noch versorgt.
Im Video gibt es ganz viele - wunderbare - Beispiele, insbesondere etymologischer Art, für diese rhizomartigen Versorgungskanäle, wie du sie beschreibst.

Und doch fühlt sich der Blick zurück eher an wie ein Blick in den weiten Himmel, wie du sagtest, in ein Universum, in dem sich die Vergangenheit zeigt als weitausgreifende Sphäre, die uns gleichsam birgt. Eine in eins gekehrte Heimat für das Jetzt. Eine anthroposphärische Grosskulisse.
Sie zeigt sich gut bestückt mit Figuren, mit Sternhaufen, mit Nebeln, mit ganzen Geschichten und Mythen. Das ist die Szenerie, die ich sehe, wenn ich zurückblicke: eine Bühne voller Akteure, voller Anwesenheiten. Die Dinge, die Menschen, die Werke, die Begriffe, alles, was auf ihr erscheint, erscheint angeordnet nicht in perfekter - kosmischer - Anordnung, nicht als Stillbild, aber in einer stillen Bezogenheit aufeinander ihrer Bewegungen. Kinetisch, aber nicht zu schnell. Energetisch, aber nicht explosiv. Beieinander, aber nicht implodierend.

Dieses Miteinandersein der Figuren am Historienhimmel hat Konsequenzen: Sie erzeugen nämlich ein Ganzes und lassen sich nicht mehr herauslösen als Einzelne. Wo Einzelne zugleich Elemente des Ganzen sind, da strahlt das Ganze auf sie ab und sie sind nicht mehr rein dieses, sondern zugleich immer schon ein wenig jenes - Teil und Einzelnes. Eigentliches und Uneigentliches zugleich. Weder in einer Konkurrenzsituation bestehen die Seienden miteinander in diesem
Widerspruch noch stehlen sie einander den Bedeutungsraum, sie strahlen vielmehr aufeinander ab, sie zeigen sich in ständiger Übertragung von hier nach dort, von dort nach hier: Das sind die Koexistenzbedingungen aller Seienden, dass die Eigentlichkeit Ihres Einzelseins immer schon übertragen ist in das Eigentlichsein als Teil. Verschränkt in Unschärferelationen, aber dennoch frei flottierend im Äther - was immer das sein mag.

Wir entwickeln ein Auge für die Unschärfe und lernen zu erkennen, dass sie gerade das ist, was alles ausmacht. Alles befindet sich im ganz eigentlichen Sinne in einer Unschärferelation. Und da schmunzelt vielleicht der Metaphorologe, weil er es schon immer ahnte: Was wir Wirklichkeit nennen ist im innersten Wesen nur metaphorisch erfassbar - weil das Wirkliche, das Seiende immer schon Gewesenes ist - das Eigentliche immer schon übertragen war ins Uneigentliche.

Es ist ganz tröstlich zu wissen, dass wir immer nur in die Vergangenheit schauen können, dass auch die modernsten Apparate der Himmelsgucker nur zurückschauen, weil das Licht der verblassten Sterne noch lange Zeit - Milliarden von Jahre - braucht bis es einmal erloschen sein wird in unseren Augen. Nie erloschen sein wird für immer.

Hätte ich ein Glas Rotwein: Ich würde mit euch anstossen auf diese nie vergehenden Perspektiven.



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Sa 23. Jan 2021, 01:35

Ich stoße mit Dir auf Dein großartiges Panoptikum des theatrum mundi gerne an, Alethos.

Der Rückgang in die Ursprünge hat eine beflügelnde Wirkung auf Dein Denken. Du läßt Dich von ihm anspielen. Vielleicht kann Nachfolgendes diese Wirkung noch bestärken. Der junge Hans Blumenberg schreibt in seiner Dissertation (1947), "das Erste und Ursprüngliche" zeige sich "in der vorprädikativen Offenheit von Seiendem", in dem "noch nicht zum Begriff gekommenen Seinsverständnis", das "unvergegenständlichte 'Worin' der Dinge". (Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie; S. 66) -

In der "vorprädikativen Offenheit von Seiendem" höre ich Anklänge an den "Graphismus" und die "Radikalphilologie": Striche und Linien, Laute und Silben - das "noch nicht zum Begriff gekommene Seinsverständnis". Das ist die Betaversion dessen, was später "Unbegrifflichkeit" heißen wird. -




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Sa 23. Jan 2021, 02:04

Alethos hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 21:34

Eine anthroposphärische Grosskulisse.
Sie zeigt sich gut bestückt mit Figuren, mit Sternhaufen, mit Nebeln, mit ganzen Geschichten und Mythen. Das ist die Szenerie, die ich sehe, wenn ich zurückblicke: eine Bühne voller Akteure, voller Anwesenheiten. (...)

Dieses Miteinandersein der Figuren am Historienhimmel hat Konsequenzen: Sie erzeugen nämlich ein Ganzes und lassen sich nicht mehr herauslösen als Einzelne. (...)
Ich habe mal dieses Festival der Theater-Metaphorik herausisoliert: "Großkulisse ... Figuren ... Szenerie ... sehen ... Bühne" - ein dantesker Aufbau in symmetrischer Anordnung, in deren Mitte die "Szenerie" steht, gleichsam eine Divina Commedia in un modo metaforico. ;)




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Sa 23. Jan 2021, 02:50

"Du läßt Dich ... anspielen" hatte ich vorhin in Bezug auf Alethos geschrieben. Es fällt mir schwer, das zu präzisieren. Ein Anspiel kennt man aus dem Sport. Der Ball kommt zu einem und dann ist man für einen Moment zentriert im Spielgefüge. Die nächsten Spielzüge nehmen nun ihren Ausgang von meinem Abspiel. Während im Sport solche Spielsituationen immer offensichtlich sind, ist in der Literatur und in der Philosophie solches Anspiel diffus. - "Das spricht mich nicht an" heißt es manchmal und bedeutet, ich fühle mich nicht angespielt, das Spiel läuft an mir vorbei.

Manchmal ist dieses Anspiel auch ein Steilpaß, d.h. man muß, damit es überhaupt zu einem Anspiel kommt, den Ball "erlaufen", danach "behaupten", d.h. man macht etwas zu seiner Sache. Man kann jetzt den Ball schnell wieder abspielen, man "schiebt die Verantwortung weiter", beim Spiel mit dem Text beispielsweise zurück zum Autor. Ballgewandte setzen eher ihre Artistik ein. Sie trauen sich etwas zu. Sie spielen mit dem Text, berauschen sich am Gelingen. Sie machen aus einem Anspiel etwas. Daß sie sich dabei gelegentlich verheddern, darf ihnen niemand übel nehmen. Toleranz hat eine hohe Verzinsung. -

Mir kam vorhin der Gedanke, Dir nur noch Zitate zuzuspielen, Alethos, und Dich einfach "spielen" zu lassen. ;) Ich könnte dann von der Tribüne aus zuschauen.

Was ich mit all dem nur sagen will: Mir gefällt Dein Überschwang. ;) Allen ein schönes Wochenende!




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Sa 23. Jan 2021, 04:11

Alethos hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 13:57

Mir gefällt das alles sehr.
Da haben Dir die Vorlesungen von Jürgen Paul Schwindt die Liebe zur "Philologie von unten" regelrecht eingeimpft. ;)

Damit es hier nicht auch noch zu Verzögerungen beim Impfstoff kommt: ein kurzer Vortrag von Schwindt zu Roland Barthes mit anschließender Vorstellung der TeilnehmerInnen der Podiumsdiskussion: Melanie Möller, Eva Geulen, Barbara Vinken und Gerhard Poppenberg (der an der "Grundlegung einer Kritik der metaphorologischen Vernunft" arbeitet).





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So 24. Jan 2021, 00:48

Alethos hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 21:34

Eine anthroposphärische Grosskulisse.
Sie zeigt sich gut bestückt mit Figuren, mit Sternhaufen, mit Nebeln, mit ganzen Geschichten und Mythen. Das ist die Szenerie, die ich sehe, wenn ich zurückblicke: eine Bühne voller Akteure, voller Anwesenheiten. (...)

Dieses Miteinandersein der Figuren am Historienhimmel hat Konsequenzen: Sie erzeugen nämlich ein Ganzes und lassen sich nicht mehr herauslösen als Einzelne. (...)
Ich greife noch einmal diese Passage heraus und stelle ihr Wolfram Hogrebes "szenisches Primärverständnis" zur Seite, das "als Ganzes an seinen Rändern wie unser Gesichtsfeld opak ist." (Wolfram Hogrebe; Riskante Lebensnähe: die szenische Existenz des Menschen; S. 61)
Wenn es das Szenische nicht schon gäbe, gäbe es auch keine spezifizierbare Situationen oder Episoden, keine Effekte vom Typ déjà-vu, keine Ähnlichkeitserinnerung und damit auch kein induktionszugängliches Milieu. Man kann Szenen,
Situationen und Episoden nicht abtrennen von beteiligten Akteuren. Die Bedeutung von 'Situation' läßt sich nur akteurrelativ ermitteln. Entsprechend gilt: Das Sein der Szene gehört zum Sein von Akteuren, nicht zum Sein des physikalisch Vorhandenen. Der Mythos des Gegebenen kann erst dann erzählt werden, wenn unser szenisches Dasein in Erkenntnisprozessen neutralisiert werden kann.
(Wolfram Hogrebe; Riskante Lebensnähe: die szenische Existenz des Menschen; S. 75)




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So 24. Jan 2021, 01:28

Auch dieses "szenische Primärverständnis" Hogrebes zielt in die "anthroposphärische Grosskulisse" (Alethos), in das, was im theatrum mundi gegeben wird, bevor noch Gegenständlichkeiten gegeben sind. - Hogrebe spricht ja das "opake Gesichtsfeld" an, d.h. wir sind primär horizontorientiert. Der Blick in den nächtlichen Sternenhimmel erfordert die Wendung des Blicks um 90°. Das Sehen ist ein eher periskopisches. Der Anthropos sieht sich um. Der Blick Gottes ist dagegen in der Regel kataskopisch. Gott sieht herab. Auch das generiert Ordnung. Und man sieht dann ganz besonders bei den Kirchenvätern, etwa bei Augustinus, daß immer dann ein Frevel im Spiel ist, wenn der Mensch den Blick auf etwas zu richten versucht, was seiner "natürlichen" Blickrichtung eigentlich nicht zugedacht ist. Curiositas (Neugier) steht dann sehr schnell in Verdacht, den Blick auf etwas zu richten, was Gott vorbehalten ist und den Menschen nichts angeht. Die Neugier gefährdet Heilschancen. Noch Cesare Cremonini wird sich weigern, durch das von Galilei entwickelte Fernrohr die Jupitermonde zu betrachten, wobei es hier vor allem der Aristoteliker Cremonini ist, der Bedenken hegt, der Blick durch das Fernrohr könne seinen "Kopf verwirren" - was am Ende also auf Ordnungsschwund herausläuft. Blickregime können Ordnungen erzeugen oder auch zersetzen.




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Alethos hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 21:34

Eigentliches und Uneigentliches zugleich. (...)

Was wir Wirklichkeit nennen ist im innersten Wesen nur metaphorisch erfassbar - weil das Wirkliche, das Seiende immer schon Gewesenes ist - das Eigentliche immer schon übertragen war ins Uneigentliche.
"Das ist zum anderen und daraus resultierend, die Frage, was da eigentlich zu verstehen ist, wenn die tropische Rede definitionsgemäß uneigentliche Rede ist, indem sie Heterogenes artikuliert. Das ergibt die etwas kuriose Frage: Wie versteht man eigentlich etwas Uneigentliches?"

Die Passage entstammt einem Aufsatz des gestern schon erwähnten Gerhard Poppenberg: Vom Pathos zum Logos. Überlegungen zu einer Theorie figurativer Erkenntnis; in: Was ist eine philologische Frage?; hrsg. v. Jürgen Paul Schwindt; S. 160




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Jörn Budesheim
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Offtopic
Alethos hat geschrieben :
Fr 22. Jan 2021, 21:34
Es ist ganz tröstlich zu wissen, dass wir immer nur in die Vergangenheit schauen können
Stellen wir uns vor, wir gehen durch eine weite Landschaft, wohin schauen wir? Wir schauen dorthin, wohin wir gehen könnten und wohin wir gehen werden, wir schauen in die Zukunft.

/Offtopic




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Fr 29. Jan 2021, 18:30

"Im Schöpfungsbericht der Genesis geht das Fiat lux der Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen voraus. 'Gott sah, daß das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend und es wurde Morgen: Erster Tag.' (Gen. 1,4f). Liest man das als einen naturgeschichtlichen Bericht, wird es physikalisch ein Blödsinn. Liest man es als eine Erzählung, die dem Problem des Anfangs eine Gestalt zu geben und dafür ein Denkbild zu finden versucht, wird es schlagartig zu welthaltigem, weltkundigem und weltklugem Tiefsinn.

(...)

Die Schöpfungsgeschichte der Genesis ist dann nicht ein Bericht realer Vorgänge in der Welt, sondern ein Denkbild für die Zeitordnung des Seins. Es gibt der rhythmischen Artikulation von Tag und Nacht als der von Licht und Dunkel eine Gestalt, die selbst noch einmal die Form der Geschichte als rhythmischer Artikulation von Tag und Nacht hat und die, auch das ist für den konzeptuellen Gehalt der Erzählung von Belang, teleologisch verfaßt und auf das Ende der Ruhe des siebten Tags ausgerichtet ist. Die Geschichte der Schöpfung hat ihre Wahrheit nicht in einem referentiellen Bezug zur Wirklichkeit, sondern in einer Deutung dieser Wirklichkeit." (Gerhard Poppenberg; Vom Pathos zum Logos in: Was ist eine philologische Frage? hrsg. v. Jürgen Paul Schwindt; S. 161f)

Es ist eine Art mis-en-abyme-Verhältnis: Das Licht ist nicht nur die Metapher für Wahrheit, die Wahrheit hat auch die Gestalt einer Metapher. - "Den Horizont der folgenden Überlegungen bildet die Hypothese, eine derartige Metaphorologik sei nicht 'im Vorfeld des Begriffs' (Blumenberg) angesiedelt, womit sie zuletzt doch auf das Telos des Begriffs ausgerichtet bleibt, sondern sei eine eigene Gestalt der Erkenntnis und der Wahrheit, deren Kritik noch aussteht." (Poppenberg; a.a.O., S. 162)

Unter den vielfachen Sinnfeldern, könnte es dieses Feld einer vorprädikativen Erfahrung sein, aus dem heraus sich Theorien der figurativen Erkenntnis bzw. des "Graphismus" (Sommer) entfalten lassen.




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Sa 30. Jan 2021, 18:22

Die Deutung der ars rhetorica des Aristoteles hängt vielfach mit dem Verhältnis von Rhetorik und Dialektik zusammen. Joachim Knape hat die Rhetorik als eine "Schwesterdisziplin" der Dialektik bezeichnet (Allgemeine Rhetorik. Stationen einer Theoriegeschichte, S. 31). Die Obhut dieser Verwandtschaft liegt darin, daß sich die Rhetorik des "Enthymems als ebenfalls rationalen, aber weniger strengen rhetorischen Plausibilitätsschlußverfahrens bedient." -

Aristoteles hat in der Rhetorik den logischen Syllogismus zur Leitvorstellung für das rhetorische Enthymem herangezogen und damit die Trope zu einer abkünftigen Form des Begriffs gemacht. Genauer sind es Wahrscheinlichkeit (eikós) und Glaubwürdigkeit (pithanón), welche die Rhetorik der Wahrheit und Gewißheit geschwisterlich zur Seite stellt. Man ahnt hier schon den alten ornatus-Gedanken, die "Rüsche am Kleid der Vernunft" (Poppenberg; a.a.O.; S. 171).

Als antistrophé zur Dialektik hat es die Rhetorik bevorzugt mit den der Seele zugerechneten Affekten (páthe tês psychês) zu tun. Auf sie zielt der Redner ab. Aristoteles schreibt, der Redner mache diese Affekte zum Maß und messe dabei mit einer Meßlatte (kanón), die verbogen (streblós) sei. (1354a26) - Ein krummes Rohr sei das Maß der Dinge in der Rhetorik. Der Syllogismus zielt ab auf Wahrheit (alétheia), das Enthymem auf das dem Wahren Ähnliche (tò hómoion tô aletheî). Figuren und Tropen sind die krummen Rohre in der Vermessung von Wahrheitsähnlichem. Krumm sind diese Rohre auch deshalb, weil es insbesondere die Rede vor Gericht mit Einzelfällen zu tun hat, die sich nur bedingt mit allgemeinen Gesetzen decken. Zur Beurteilung sind immer Spielräume des Ermessens erforderlich. Darin unterscheidet sich ja das Enthymem vom Syllogismus, weil zu seiner "Wahrheit" die Gestimmtheiten von Redner und Zuhörerschaft gehören. Der Weg vom Besonderen zum Allgemeinen ist beim Enthymem immer kontingent, eben auch anders möglich. -

"Tropen oder Figuren sind die sprachlichen Gestalten der Affekte, Mythos oder Erzählung ist die sprachliche Gestalt des Ähnlichen; deshalb sind Trope und Mythos die Form, in der das Enthymem dem Komplex der Affekte und der Lust Gestalt gibt." (Gerhard Poppenberg; a.a.O., S. 175) -




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