Philosophisches Forum: Die aufgeregte Gesellschaft - Wo bleibt die Vernunft?

Hier werden Vorträge diskutiert, die online als Video verfügbar sind.
Antworten
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25965
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

So 13. Okt 2024, 21:29



Habe ich gerade zufällig entdeckt und selbst erst 15 Minuten davon gesehen. Das könnte aber sehr interessant sein, denn das Forum ist mit sechs Philosoph:innen hochgradig besetzt.




Pragmatix
Beiträge: 40
Registriert: Mo 16. Sep 2024, 22:01

Mo 14. Okt 2024, 23:55

Danke, natürlich aus Österreich. Deutschland kann das nicht.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25965
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 15. Okt 2024, 08:29

Ich bin zwar selbst immer noch nicht durch mit dem Video, aber vielleicht kann man über einen Teil daraus schon mal reden. [Klick auf den Zeitstempel führt direkt zu der fraglichen Stelle] Bei 12:12 min fragt die Moderatorin Barbara Stöckl Paul Liessmann nach der Vernunft: "Wir haben den Hausverstand, wir haben die Vernunft, wir haben den Verstand, Hannah Arendt sprach vom gesunden Menschenverstand. Meint das alles dasselbe?"

Paul Liessmann stellt in seiner Antwort klar, dass Hausverstand (ein Ausdruck, der mir unbekannt war) und Vernunft nicht dasselbe sind. Grob zusammengefasst: Der Hausverstand basiert auf alltäglicher Erfahrung und kann bei genauerem Nachdenken ins Wanken geraten. Ein Beispiel: Ohne moderne Erkenntnisse würde uns der Hausverstand sagen, die Erde sei flach – wir sehen sie ja so. Doch durch Beobachtungen wie das Auftauchen eines Schiffes am Horizont und durch viele weitere vernünftige Überlegungen erkennen wir die Kugelgestalt.

Liessmann formuliert es so: „Der Hausverstand reicht immer nur so weit, wie unsere unmittelbaren Erfahrungen reichen, und er kann uns täuschen, wenn wir nicht bereit sind, weiterzudenken.“

Vernunft bedeutet also, bereit zu sein, Widersprüche zu hinterfragen und sich nicht mit oberflächlichen Eindrücken zufriedenzugeben. Liessmann warnt aber davor, den Begriff zu weit zu fassen. (Das ist eine Replik auf einen vorhergehenden Beitrag) Vernunft ist nicht beliebig, und jeder sollte in der Lage sein, Gründe für seine Überzeugungen zu nennen. Das Unvernünftige zeigt sich, wenn jemand keine Argumente mehr anführt, sondern nur noch Behauptungen oder Gefühle äußert. Gefühle wie Empörung oder Liebe kann man nicht rational kritisieren, aber bei Meinungen oder Theorien sollte man immer fragen: Warum glaubst du das?


Luisa Frick widerspricht Paul Liessmann [hier] "ganz dezent" in der Frage, ob Emotionen in einer Diskussion verhandelbar sind. Während Liessmann behauptet, man könne mit Emotionen nicht argumentieren, da sie sich einer rationalen Auseinandersetzung entziehen, sieht Frick das etwas anders: „Emotionen können sehr wohl in den Raum des Arguments zurückgeholt werden“, betont sie. Sie verweist darauf, dass Emotionen selten isoliert auftreten, sie entstehen in der Regel durch unsere Wahrnehmung und Bewertung von Situationen. Ein äußerer Reiz führt sofort zu einer emotionalen Reaktion, weil gleichzeitig unbewusst eine Bewertung mitläuft. Dabei tritt der zugrundeliegende Gedanke oft in den Hintergrund, weil die Emotion stärker wirkt.

Doch das bedeutet nicht, dass dieser Gedanke verloren ist. Im Gegenteil: In der Psychotherapie etwa geht es genau darum, diese verborgenen Bewertungen wieder bewusst zu machen. Man fragt nach: „Woher kommt diese Emotion? Welche Bewertung hat dazu geführt?“ Frick macht deutlich, dass Emotionen stets durch Gedanken begleitet werden, die man nur auf den ersten Blick nicht sieht. Diese Gedanken können und sollten wieder hervorgeholt und reflektiert werden, sowohl im persönlichen als auch im gesellschaftlichen Kontext. Emotionen sind also nicht rational völlig unzugänglich – sie sind eng verknüpft mit unseren Bewertungen und können in die Diskussion zurückgeführt werden.




Wolfgang Endemann
Beiträge: 851
Registriert: Di 23. Apr 2024, 14:30

Di 15. Okt 2024, 13:00

Auch von mir danke für dieses intensive Gespräch unter Philosophen (nur dem albernen Philosoph.Innen der klugen Philosophin kann ich mich nicht anschließen; aber gut, wer das nicht peinlich findet, kann es so halten).

Der Begriff "Hausverstand", den auch ich nicht kannte, drückt den Sachverhalt doch sehr gut aus: 1. berücksichtigt er den Unterschied von Verstand und Vernunft, letztere ist ein reflexives, ersterer ein unmittelbares Denken, 2. drückt er aus, daß der betreffende Verstand sich auf enge umweltliche Erfahrungen bezieht, die in häuslicher Umgebung gemacht wurden. Trotzdem ist es mehr als nur naives, individuelles Denken, es ist durchaus eine kollektive Denkerfahrung, die eben in der Enge einer Nahwelt gemacht wurde, das ist dann auch der Überschneidungspunkt mit dem "gesunden Menschenverstand", der ebenfalls ein sozial gebildetes Kollektivdenken anspricht, das eine einfache Realitätsverarbeitung benennt, die nicht durch krankhafte Fehldeutungen, also psychische oder soziopsychische Anomalien verzerrt ist.

Hausverstand oder gesunder Menschenverstand ist die "natürliche Geistigkeit" des Menschen, sie kann gebildet werden, was bedeutet, daß Wissen erworben, in den Verstand integriert wird, und daß immer mehr reflektiert wird, der vernünftige Anteil wächst.

Was mir in dem Gespräch etwas gefehlt hat, ist die Einsicht, daß Emotionalität eine andere Form des Geistes ist, daß man Kognition und Emotion nicht in Hinblick auf die unterschiedliche Funktion der Realitätsbewältigung thematisiert hat. Denn Emotionen sind kaum explizierbare geistige Reaktionen auf Überkomplexes, während die bewußte Kognition explizit mit analytisch Einfachem operiert. Da die Welt iA überkomplex ist, ist der (im weiteren Sinn) rational-kognitive Zugang zum Verständnis begrenzt, Emotionen füllen diese Lücke mehr oder weniger gut. Es reicht nicht, die kognitive Vernunft zu entwickeln, wir müssen auch Fortschritte in der emotionalen Vernunft machen. Wir benötigen eine wechselseitige Durchdringung von Kognition und Emotion.




Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 3115
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Di 15. Okt 2024, 14:11

Die Anzahl solcher Gespräche im deutschsprachigen TV-Gebiet kann man wegen mir gerne verzehnfachen. Schön war auch, dass unnötige Fremdwörter weitgehend vermieden wurden, denn solche TV-Gespräche sollten nicht elitär werden. Hätte Claudia Paganini nicht das Wort "dissipativ" gebraucht, wären die 90 Minuten perfekt verständlich gewesen :-)

90 Minuten auf 6 Personen verteilt, da müsste jede etwa 15 Minuten bekommen. Leider bekam Marie-Luisa Frick nur 4 Minuten. Ich fand ihre Beiträge eine der hilfreichsten -- neben denen von Philipp Hübl, der wie so oft die Runde bereicherte mit glasklarer Sprache und aktuellen weltweiten Messergebnissen, die manche sozialpsychologischen Thesen überdenkenswert machen.

Konrad Paul Liessmann füllte viel Zeit mit Vorträgen.

Marie-Luisa Frick fand ich interessant, weil sie ein kritisches Gegengewicht herstellte zum radikalen Universalismus und auch weil sie kritisch war, wenn das Gespräch in Richtung Identitätspolitik ansetzte:

https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=1700
https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=2603
https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=3379
https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=4564




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25965
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 15. Okt 2024, 19:13

Philipp Hübl hat geschrieben : Man muss sich klarmachen, dass in der Menschheitsgeschichte, von der Erfindung der Schrift bis etwa 1990, also in ungefähr 5000 Jahren, wenn man alle wissenschaftlichen Artikel, Bücher, Schriftrollen und alles Geschriebene zusammenrechnet, optimistisch geschätzt etwa 300 Millionen Autoren existiert haben. In den letzten 15 Jahren, seit Smartphones und soziale Medien eine große Rolle spielen, kann man jedoch davon ausgehen, dass es inzwischen mindestens vier bis fünf Milliarden Autoren gibt – Autoren im Sinne von Menschen, die etwas schreiben, das potenziell von allen anderen gelesen werden kann. Das stellt eine neue Qualität dar, die all die Dinge, die wir früher in Kleingruppen getan haben, potenziert...




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25965
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 15. Okt 2024, 19:36

Marie-Luisa Frick hat geschrieben : Es gibt eine große Kluft zwischen dem Ideal eines öffentlichen Vernunftgebrauchs, wie Kant ihn sehr idealistisch vorgestellt hat. Das bedeutet, dass wir uns als Individuen bemühen, Gründe zu geben, zu nehmen und auch zu reflektieren. Global betrachtet sehen wir, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, weil es natürlich keine globale Demokratie gibt und nicht überall demokratische Staaten vorherrschen. Wir tun jetzt so, als könnte jeder senden und empfangen, aber für viele gilt das nicht. Sie haben ein sehr eingeschränktes Weltbild, weil für sie spezifische Informationskanäle einfach per Knopfdruck abgedreht werden können. Die Zensur in vielen Ländern kommt noch dazu. Das heißt, wir haben keine globale Öffentlichkeit, in der jeder gleichberechtigter Teilnehmer sein kann.

Auch aus anderen Gründen sind wir von diesem Ideal entfernt. Wir müssen einbeziehen, dass es nicht nur Individuen gibt, die sich selbst darstellen und mit ihrem Bedürfnis nach Unterscheidung (Distinktion) präsentieren, sondern auch Gruppen, Geheimdienste und staatliche Akteure, die uns lenken. Auf einen Satz heruntergebrochen: Wir sind Beute, und wenn wir das nicht verstehen, bleiben wir im Umgang mit neuen Medien extrem naiv.

(Ich hoffe, dass Transkript ist einigermaßen okayl
Wenn ich gelegentlich die Kommentarspalten außerhalb meiner eigenen Blase auf Facebook anschaue, habe ich das Gefühl, dass es noch andere Gründe gibt. Viele Menschen scheinen nicht zu wissen, was es bedeutet, eine Diskussion zu führen – zum Beispiel, dass man verpflichtet ist, seine Behauptungen zu begründen, oder dass es falsch ist, andere persönlich anzugreifen. Hier sehe ich ein deutliches Defizit, und meiner Meinung nach sollte so etwas in der Schule viel intensiver gelehrt werden.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 8110
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Di 15. Okt 2024, 20:04

Quk hat geschrieben :
Di 15. Okt 2024, 14:11
(...)

Marie-Luisa Frick fand ich interessant, weil sie ein kritisches Gegengewicht herstellte zum radikalen Universalismus und auch weil sie kritisch war, wenn das Gespräch in Richtung Identitätspolitik ansetzte:

https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=1700
https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=2603
https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=3379
https://youtu.be/rbbMDPbYNNc?t=4564
Ähm, wo und wie war sie denn kritisch in Bezug auf die Identitätspolitik? Das habe ich wohl nicht verstanden.



Der, die, das.
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt bleibt dumm!
(Sesamstraße)

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25965
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 15. Okt 2024, 20:18

Der Frage von Stefanie schließe ich mich an, allerdings habe ich beides nicht gefunden: weder ihr kritisches Gegengewicht zur Identitätspolitik noch zum "radikalen Universalismus".




Benutzeravatar
Quk
Beiträge: 3115
Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Di 15. Okt 2024, 20:38

Da beziehe ich mich auf Link Nr. 4 -- aber ein paar Sekunden davor, wo Frick ihre Gesprächspartnerin kurz unterbricht, ab 1:15:15.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 25965
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 15. Okt 2024, 21:26

Philipp Hübl hat geschrieben : Aufmerksamkeit ist eine natürliche Ressource, die wir nicht von morgens bis abends aufbringen können. Sie ist wie ein Muskel, der irgendwann erschlafft. Wir werden erschöpft und können nicht den ganzen Tag hindurch den gleichen Fokus halten. Wenn wir nun sehr viele Informationen verarbeiten, gleichzeitig unser Privatleben managen, den Job erledigen und uns um die Kinder kümmern, bleibt einfach nicht mehr viel kognitive Energie übrig, um ein reflektierter Weltbürger zu sein. Dann fehlt oft die richtige epistemische Haltung, also die angemessene Einstellung gegenüber Wissen. Wir haben nicht mehr die Kraft, zu prüfen, ob eine Information gut begründet ist, ob es sich um einen echten Experten handelt oder ob man etwas noch einmal nachschauen sollte. Das ist eigentlich eine Aufgabe, die man kaum noch bewältigen kann.
Das Dumme ist nur, dass "die" Leute es halt eben trotzdem machen und ihre Kommentare überall posten :)




Antworten