Markus Gabriel - Warum es die Welt nicht gibt

Markus Gabriel (* 6. April 1980 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph. Er lehrt seit 2009 als Professor an der Universität Bonn.
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Jörn Budesheim
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Fr 4. Aug 2017, 12:43

Tosa Inu hat geschrieben :
Der Hauptvorteil der Sinnfeld-Ontologie ist, meines Erachtens, dass sie ein sehr guter Kandidat für die Wahrheit ist
Gerade dann muss man die Sinnfelder beschränken, denn sonst ist etwas einfach eine Wahrheit des Trump-Sinnfeldes. Übergeordnete Spielregeln müssen her. Da sind wir dann schnell wieder bei Logik und Physik
Ich glaube, wir haben sehr unterschiedliche Ansichten, was ein Sinnfeld ist beziehungsweise was Gabriel darunter versteht.

Ein Beispiel für ein Sinnfeld wäre natürlich die Natur. Was aber sollte es heißen, die Natur zu beschränken? Die Natur ist wie sie ist, das gilt für alle Sinnfelder. Sinnfelder sind nicht prinzipiell Konstruktionen oder Sichtweisen. Falls ich mich nicht täusche, verstehst du unter Sinnfeld jedoch im weitesten Sinne so etwas wie eine Sichtweise. Denn das würde die Rede vom Trump Sinnfeld für mich nachvollziehbar machen. Oder was meinst du?

Wenn meine Vermutung richtig ist, dann wäre das Trump Sinnfeld die Art und Weise, wie Trump die Welt betrachtet und sie sich zurecht lügt.

Ein Sinnfeld ist jedoch etwas, was man richtig oder falsch erkennen kann und dazu braucht es nicht übergeordnete Regeln, denn das würde dieser Ontologie fundamental widersprechen. Wären die Regeln des Erkennens übergeordnet, dann würde man ja den eigenständigen Charakter der verschiedenen Sinnfelder doch wieder einziehen.




Segler
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Fr 4. Aug 2017, 12:44

Tosa Inu hat geschrieben : Ich mach mal bei Minute 33 ein Break:
"Existieren heißt, unter einen Begriff fallen." (M.Gabriel)
Ist das hier im kleinen Kreis konsensfähig?
Ich kaufe es nicht. Begriffe sind subjektabhängig. Hinge das Sein von Begriffen ab, wäre es subjektabhängig. Denkt man das konsequent zu Ende, landet man zwingend im Solipsismus.

Wer so etwas vertritt, muss erklären, wie der erste Begriff entstand. Ohne ihn gab es kein Sein, also nichts. Wie entstand er also? Ursachenlos aus purum nihil?
Mir fallen nur zwei mögliche Erklärungen ein. 1. Ein platonischer Ideenhimmel, der die Begriffe subjektunabhängig enthält, oder 2. ein Schöpfergott. Beide Thesen sind in der zeitgenössischen Philosophie nicht gerade populär.
Ergänzend: Gibt es für Russells Antinomie (Die Menge aller Mengen kann sich nicht selbst enthalten) eigentlich eine allgemein akzeptierte Lösung? Denn darauf läuft es ja bei Gabriels Vortrag (bis Minute 33) auch hinaus. Die Welt kann sich nicht selbst enthalten.
Die Menge aller Mengen ist logisch kein Problem. Wenn Cantors Komprehensionsaxiom "Zu jeder Eigenschaft von Mengen gibt es eine Menge aller Mengen, die diese Eigenschaft aufweisen." wahr ist, existiert sie sogar notwendig. Russels Antinomie bezieht sich auf die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten. Damit hat man ein Problem. Mengen, die sich selbst als Element enthalten, gehen nicht in die Antinomie.

Russel löste die Antinomie mit seiner Typentheorie. Eine Menge gehört einer anderen Klasse an als ihre Elemente. Sie befindet sich gegenüber ihren Elementen auf einer Metaebene. Diese Theorie ist allerdings so kompliziert, dass sie sich in der Mathematik nicht durchsetzen konnte. Die Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre, die heute den weitgehend akzeptierten Standard darstellt, verbietet schlicht und einfach Selbstreferenzen. Das ist die einfache aber wenig elegante Lösung.




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Jörn Budesheim
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Fr 4. Aug 2017, 12:47

Segler hat geschrieben : Ich kaufe es nicht. Begriffe sind subjektabhängig. Hinge das Sein von Begriffen ab, wäre es subjektabhängig. Denkt man das konsequent zu Ende, landet man zwingend im Solipsismus.
Yepp! Das sieht Gabriel genauso und er erläutert es auch ziemlich ähnlich.




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Jörn Budesheim
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Fr 4. Aug 2017, 17:15

Hier ein Zitat aus dem Buch von Gabriel, was zeigen soll, dass Gabriel mit Sinn-Feldern nicht Sichtweisen meint:

"Es gibt keine Gegenstände oder Tatsachen außerhalb von Sinnfeldern. Alles, was existiert, erscheint in einem Sinnfeld (genau genommen erscheint es sogar in unendlich vielen). »Existenz« bedeutet, dass etwas in einem Sinnfeld erscheint. Unendlich vieles erscheint in einem Sinnfeld, ohne dass irgendwann jemand dies bemerkt hätte. Dabei spielt es in ontologischer Hinsicht eine untergeordnete Rolle, ob wir Menschen davon erfahren oder eben nicht. Die Dinge und Gegenstände erscheinen nicht nur, weil sie uns erscheinen, sie existieren nicht nur, weil uns dies aufgefallen ist. Das meiste erscheint einfach, ohne dass wir Notiz davon nehmen."




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iselilja
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Fr 4. Aug 2017, 22:55

Tosa Inu hat geschrieben : Ich mach mal bei Minute 33 ein Break:
"Existieren heißt, unter einen Begriff fallen." (M.Gabriel)
Ist das hier im kleinen Kreis konsensfähig?
Nein. Und im größeren soweit ich weiß erst recht nicht. Gabriel hat verhältnismäßig viele Kritiker, da er an vielen Stellen oftmals recht leichtfertig argumentiert, so als wüsste der Rest der Menschheit nicht um die Bedeutung der eigenen Worte. Der Begriff Existenz hat ein recht breites und vielschichtiges und mindestens so diskutables Spektrum an Möglichkeiten, was er "heißen" kann. Gabriel ist nicht besonders geschickt im Umgang mit Konjunktiven, so dass er sie bei eigener Argumentation fast immer ausblendet.




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Jörn Budesheim
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Sa 5. Aug 2017, 05:47

An dieser Stelle referiert Gabriel eine Idee von Frege. Das Zitat stellt nicht seine eigene Position dar.




Tosa Inu
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Jörn Budesheim hat geschrieben : Ich glaube, wir haben sehr unterschiedliche Ansichten, was ein Sinnfeld ist beziehungsweise was Gabriel darunter versteht.
Ja, danke auch für das Zitat unten. Die Sinnfelder scheinen der kritische Punkt zu sein. Wir müssen verstehen, was sie sein sollen. Es stimmt, dass sie keine Perspektiven sind, wie ich tatsächlich dachte.

In "Sinn und Existenz" (Suhrkamp TB 2016), dem Nachfolger von "Warum es die Welt nicht gibt" schreibt Gabriel dass Felder "objektive Strukturen" sein können und deswegen auch "nicht im Allgemeinen Horizonte oder Perspektiven" seien. (S.183)

Später sagt er, dass es "indefinit viele Felder" gibt. (S. 185)

"Doch nicht alle Felder, die in anderen Feldern erscheinen, sind in dieser Hinsicht Gegenstände, die unter einen Begriff fallen. Zum Beispiel ist der Kaffee in meiner Tasse selbst ein Feld, das in einem anderen Feld erscheint. Die Tasse wiederum erscheint in irgendeinem Feld, etwa gerade in meinem Arbeitszimmer." (S. 186)

Eine Hand, so Gabriel, kann in verschiedenen Feldern erscheinen (als Hand, als Anordnung von Elementarteilchen, als Kunstwerkt eines Tattoo Künstlers ...), aber die Suche nach der wahren Hand ist ein "verfehltes metaphysisches Forschungsprojekt." (S.187)

Im Rahmen der Sinnfeld-Ontologie ist es wahr, dass z.B. Wittgensteins Hasen-Enten-Kopf, sowohl einen Hasen, als auch eine Ente darstellt.

Wichtig ist Gabriel, dass es keinen Grund gibt "irgendein Feld zu privilegieren." (S. 187)

Sinnfelder machen verständlich, was es heißt zu existieren, "wenn Existenz keine eigentliche Eigenschaft ist". Sinnfelder sind keine konstruktivistische oder antirealistische Erklärung. (S.190)

Es gilt vermutlich die Sinnfelder zu verstehen, ich lese weiter, wer kann da helfen oder hat schon eine Ahnung?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

Tosa Inu
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Sa 5. Aug 2017, 10:28

@ Segler und iselilja:

Die Formulierung dass Existenz hieße, unter einen Begriff zu fallen, betrachte ich als erledigt. Gabriel klärt das in der Folge, wie Jörn beschieb.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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iselilja
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Sa 5. Aug 2017, 15:44

Tosa Inu hat geschrieben : @ Segler und iselilja:

Die Formulierung dass Existenz hieße, unter einen Begriff zu fallen, betrachte ich als erledigt. Gabriel klärt das in der Folge, wie Jörn beschieb.

Ich fürchte, dass stimmt so aber nicht. Ich habe mir heute zum zweiten mal die Stelle angesehen.. und ja Gabriel bezieht sich explizit auf Frege. Aber er macht etwas völlig anderes daraus. Sowas hat Frege soweit ich weiß nicht gemeint oder gar irgendwo geschrieben, als er sich über Zahlen Gedanken gemacht hat. Gabriel nimmt hier einfach Freges Gedanken und formuliert ihn (wie bereits von mir kritisiert) leichtfertig um, sodass eine ganz andere Bedeutung entsteht.

Frege bezog seine Frage auf die Realität abstrakter Objekte (wie eben Zahlen), nicht auf einen ontologischen Existenzbegriff und schon garnicht auf einen allgemeingültigen, wie ihn Gabriel mit seiner weiteren Herleitung zum Weltmodell verwendet. Gabriel vermischt dort Argumente in einem akademisch doch recht fragwürdigem Modus.




Tosa Inu
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Sa 5. Aug 2017, 18:49

iselilja hat geschrieben : Gabriel nimmt hier einfach Freges Gedanken und formuliert ihn (wie bereits von mir kritisiert) leichtfertig um, sodass eine ganz andere Bedeutung entsteht.
Die Frage ist, ob man das klären muss, oder ob wir erst schauen, was Gabriel meint. Unabhängig davon, was er Richtiges oder Falsches über Frege sagt. In einer Radiosendung habe ich ihn auch mal "ertappt", dass er groben Unfug über Habermas erzählt hat, aber es kann ja dennoch sein, dass die Sinnfeld-Ontologie reizvoll ist.
Zuletzt geändert von Tosa Inu am Sa 5. Aug 2017, 19:32, insgesamt 1-mal geändert.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Sa 5. Aug 2017, 19:00

Richtig, so sehe ich das auch. Wir wohnen hier ja nicht einer Frege Vorlesung bei, bei der natürlich entscheidend wäre, ob die Einlassungen über Frege auch korrekt sind. :)




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iselilja
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Sa 5. Aug 2017, 19:59

Gut, so wichtig ist mir der Punkt auch nicht, da er bei weitem nicht der schlimmste Kritikpunkt wäre.

Mir wäre sehr daran gelegen, wenn ihr fertig gelesen habt oder weiteres Videomaterial habt, was ihr vorstellen könntet, uns mit dem Begriff Sinnfeld erst einmal auseinanderzusetzen. Was versteht Gabriel darunter? Wie ist der Begriff in seine Erklärung eingebettet?




Tosa Inu
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Sa 5. Aug 2017, 20:09

@ iselilija:

Ja, das scheint mir auch der zentrale Begriff zu sein, mit dem alles steht und fällt.
Meinen Beitrag von 10:24 hattest Du gelesen?



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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iselilja
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Sa 5. Aug 2017, 20:45

Tosa Inu hat geschrieben : @ iselilija:

Ja, das scheint mir auch der zentrale Begriff zu sein, mit dem alles steht und fällt.
Meinen Beitrag von 10:24 hattest Du gelesen?
Deinen Beitrag hatte ich gelesen, ja. Das ist mir (mit Bezug auf den Vortrag Gabriels) aber noch zu wenig verständlich. Im Grunde verstehe ich nicht einmal, welches Verständnis Gabriel mit dem Begriff "Sinn" verbindet, wenn er den Menschen mit seiner Sinngebung/Sinnsuche (die ja eine nicht unerhebliche Tradition in der Philosophie hat) nahezu vollständig ausblendet oder darauf hinweist, dass er das nicht meint. Nur: was meint er dann?

ps: Ich werde mir den Vortrag nochmal ansehen, vielleicht ist mir ja doch etwas wichtiges entgangen.




Tosa Inu
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Sa 5. Aug 2017, 21:25

@iselilja:

Okay. Also ich taste mich da auch erst ran und bin noch nicht schlau. Mir ist z.B. nicht klar wie oder in welcher Weise Kaffee in einem spezifischen Sinnfeld erscheinen kann, die Tasse in einem anderen und das Zimmer wieder in einem anderen.

Außer in dem banalen Sinne dass man Kaffee eben als Flüssigkeit, Getränk, Molekülansammlung, Neurodroge ... "ansehen" kann, wobei die Perspektive ja gerade keine Rolle spielen soll. Kaffee ist natürlich auch dann Kaffee, wenn ihn keiner beachtet - Gabriel will dankenswerterweise kein Konstruktivist sein, auch wenn er bei Luhmann Anleihen nimmt, der aber ohnehin der Realist unter den Konstruktivisten ist - was es aber heißen soll, über das hinaus, dass Gabriel es so definiert, was ja sein gutes Recht ist, dass existieren heißt, in einem Sinnfeld zu erscheinen, macht es für mich auch nicht plastischer.

Das Existieren nimmt er wörtlich, als sich heraustreten und das, so Gabriel, würde bereits den Hintergrund, das Sinnfeld implizieren und dieses eine dann, auch gleichem Grund, unendlich viele andere. Hm.



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iselilja
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Sa 5. Aug 2017, 22:19

Tosa Inu hat geschrieben : Okay. Also ich taste mich da auch erst ran und bin noch nicht schlau. Mir ist z.B. nicht klar wie oder in welcher Weise Kaffee in einem spezifischen Sinnfeld erscheinen kann, die Tasse in einem anderen und das Zimmer wieder in einem anderen.
Ich glaube an dem Punkt kann ich aushelfen. Es gibt für mich nämlich tatsächlich auch ein paar Berührungspunkte mit Gabriels Ausführungen, auch wenn es nur sehr wenige sind. Ich sage aber gleich, auch wenn ich verstehe, was er dazu sagt, stimme ich dem so nicht zu.

Er malt ja 3 Quadrate an die Tafel und fragt dann wieviele Gegenstände/Objekte dort zu sehen sind. Und hier wird natürlich sofort klar, dass der Begriff Gegenstand eine andere Bedeutung / einen anderen Sinn hat als Quadrat. Das heißt für Gabriel: an der Tafel ist (existiert) tatsächlich etwas. Nur was es genau ist, wird erst durch die Bedeutung/Sinn klar. Soweit ist das eigentlich schon verständlich - ich hatte vor Jahren eine ganz ähnliche Erklärung genutzt, nämlich dass die Position des Betrachters darüber entscheidet, was man sieht und damit was dort eigentlich existiert. Z.B. kann eine Plastik eines Künstlers, die irgendwo ausgestellt wird, von der einen Seite wie eine Halbkreis aussehen, von zwei anderen Seiten wie ein Quadrat.Bild
Die Perspektive kann sozusagen den Sinn der Sache verändern. Die Perspektive kann aber nicht bestimmen, was dort tatsächlich steht, denn nur durch das Zusammenspiel der Einzelperspektiven (man geht also um die Plastik herum und betrachtet sie von möglichst allen Seiten sodass man also einen Kugelausschnitt begreift, der ja auch tatsächlich dort steht) ergibt sich der vollständige Begriff. Gabriel nun aber formuliert dies etwas komplizierter und m.E. auch falsch. Er sagt 1.) der Sinn der Sache liegt tatsächlich in der Realität, denn es sind 3 Quadrate an der Tafel und nicht etwa 5. Er sagt 2.) es gibt indefinit viele Sinnfelder zu dem was an der Tafel alles ist - wovon er jetzt aber nur 3 explizit anspricht: Quadrate, Seitenkanten oder Elementarteilchen.

Falsch daran ist nun 2. Es kann nämlich genauso wenig unendlich viele Begriffe geben, die wir zum Objekt erfragen können, wie es Perspektiven geben kann. An einem Punkt, den wir als Mensch recht schnell erreichen hört es bereits auf mit der Anzahl möglicher Sinnfelder.




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Jörn Budesheim
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So 6. Aug 2017, 07:37

Ich bringe noch mal ein Zitat aus "Warum ist die Welt nicht gibt". Ich habe einige Absätze hinzugefügt, der besseren Leserlichkeit halber.

"[Die Zahl 4] kann sowohl als 2 + 2 als auch als 3 + 1 notiert werden (und auf unendlich viele andere Weisen). Frege nennt nun »2 + 2« und »3 + 1« »Arten des Gegebenseins« und setzt dies mit dem Ausdruck »Sinn« gleich. Der Sinn von Ausdrücken, die in einer Identitätsaussage gleichgesetzt werden, ist verschieden, dasjenige, worauf sie sich beziehen, ist das Identische ([...] die Zahl 4).

In einer wahren, informativen und widerspruchsfreien Identitätsaussage lernen wir also, dass dasselbe Ding (dieselbe Person, dieselbe Tatsache) auf verschiedene Arten präsentiert werden kann. Statt von »Gegebenheit« zu sprechen, ziehe ich das Wort »Erscheinung« vor. Der Sinn ist dann die Art, wie ein Gegenstand erscheint. Sinnfelder sind Bereiche, in denen etwas, bestimmte Gegenstände, auf eine bestimmte Art erscheinen.

[Zuvor hatte Gabriel über Gegenstandsbereiche und Mengen gesprochen. Dabei hatte er darauf hingewiesen, dass zwar jeder Gegenstandsbereich, jede Menge ein Sinnfeld ist, aber SinnFelder sind nicht grundsätzlich Gegenstandsbereiche oder Mengen. Der Begriff SinnFeld ist einfach allgemeiner. Dafür beziehen sich die folgenden Zeilen.]

Bei Gegenstandsbereichen und erst recht bei Mengen abstrahiert man aber genau davon. Dabei können zwei Sinnfelder sich auf dieselben Gegenstände beziehen, die in den beiden Sinnfeldern nur verschieden erscheinen. Hier ist ein ausführliches Beispiel angebracht. Ziehen wir einen schon vertrauten Gegenstand heran: meine linke Hand (Sie können auch Ihre eigene linke Hand für das folgende Experiment verwenden. Philosophische Experimente sind extrem kostengünstig und leicht ohne Labor durchzuführen). Meine linke Hand ist eine Hand. Sie hat fünf Finger, ist derzeit alles andere als braun gebrannt, sie hat Fingerkuppen und Furchen auf der Handinnenfläche.

Dasjenige, was mir als linke Hand erscheint, ist aber auch eine Ansammlung von Elementarteilchen, sagen wir ein bestimmtes Gewirr von Atomen, die ihrerseits ein Gewirr noch kleinerer Teilchen sind. Sie könnte mir aber auch als Kunstwerk erscheinen oder als Werkzeug, mit dem ich das Mittagessen in meinen Mund befördere. Ein anderes Beispiel, das von Frege stammt: In einem Wald kann es etwa eine Baumgruppe geben. Oder einfach fünf einzelne Bäume, die zum Wald gehören. Je nach Sinnfeld ist dasselbe also eine Hand, ein Atomgewirr, ein Kunstwerk oder ein Werkzeug. Und die fünf Bäume sind eine Baumgruppe oder einzelne Bäume (oder natürlich wiederum: ein bestimmtes Atomgewirr).

Gustav von Aschenbach ist sowohl eine Figur von Thomas Mann als auch ein Pädophiler, aber er ist kein Atomgewirr, weil es im Universum niemals ein Atomgewirr gab, das identisch mit der von Mann erfundenen Person namens »Gustav von Aschenbach« war. Gustav von Aschenbach ist je nach Sinnfeld in Venedig gewesen – oder auch nicht. Es kommt darauf an, ob man über den Roman oder die Stadtgeschichte spricht." (MG)

Was heißt jetzt jedoch Erscheinung? Um zu verhindern dass dabei phänomenologische Assoziationen auftauchen, füge ich ein paar weitere Zeilen aus dem fraglichen Buch ein.

"Existenz = Erscheinung in einem Sinnfeld

Diese Gleichung ist der Grundsatz der Sinnfeldontologie. Die Sinnfeldontologie behauptet, dass es nur dann etwas und nicht nichts gibt, wenn es ein Sinnfeld gibt, in dem es erscheint.

Erscheinung ist ein allgemeiner Name für »Vorkommen« oder »Vorkommnis«. Der Erscheinungsbegriff ist aber neutraler. Auch Falsches erscheint, während es etwa gegen den Sprachgebrauch geht zu sagen, Falsches komme in der Welt vor. »Vorkommnisse« sind zudem greifbarer als »Erscheinungen«, weshalb ich den flexibleren Begriff der »Erscheinung« vorziehe." (MG)




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Jörn Budesheim
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Ungefähr ab Minute 45 erklärt Gabriel es anhand der SchallplattenMetapher, wobei er auch sehr schön den Unterschied zum Antirealismus heraus arbeitet.




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So 6. Aug 2017, 09:59

Hallo iselilja,

Ich muss zugeben, dass es mir sehr schwer fällt, aus deinem Beitrag klug zu werden. Deswegen pick ich mir jetzt einzelne Sätze heraus und versuche nach bestem Wissen und Gewissen darauf zu antworten :-) ich hoffe die Auswahl der Sätze ergibt kein verzerrtes Bild, ansonsten bitte ich Dich, es zu korrigieren.
iselilja hat geschrieben : die Position des Betrachters entscheidet [darüber], was man sieht und damit was dort eigentlich existiert
Ca. bei Minute 46 erklärt Gabriel seine Position anhand der SchallplattenMetapher. Die antirealistische Position, die Gabriel nicht vertritt, macht geltend dass der Lesekopf erst dazu führt, dass die Schallplatte ein bestimmtes Lied abspielt. Gabriel hingegen vertritt die Ansicht, dass die “Position” des Betrachters zwar entscheidet was er sieht, aber nicht was dort eigentlich existiert. Unter Position sollte man hier allerdings nicht wortwörtlich eine raumzeitliche Stelle verstehen. Ich möchte dass er so verstehen, dass man die eigene Registratur in einer bestimmten Art und Weise kalibrieren muss, um zu erkennen was ohnehin vorhanden ist. Nicht die Dinge und Tatsachen selbst sind registraturabhängig - das wäre der alte Antirealismus - sondern ob man das, was tatsächlich vorhanden ist, richtig in den Blick bekommt, ist abhängig von der eingesetzten Registratur und ihrer Kalibrierung. In dem Vortrag sagt Gabriel, der Sinn, der macht, dass bestimmte Sätze wahr sind, ist schon in der Wirklichkeit.
iselilja hat geschrieben : Er malt ja 3 Quadrate an die Tafel und fragt dann wieviele Gegenstände/Objekte dort zu sehen sind. Und hier wird natürlich sofort klar, dass der Begriff Gegenstand eine andere Bedeutung / einen anderen Sinn hat als Quadrat.
Zuvor hat Gabriel erläutert, wie er den Begriff Gegenstand verstehen möchte. Ein Gegenstand in diesem Zusammenhang ist alles, worüber man wahrheitsfähige Aussagen machen kann, also auch Quadrate.
iselilja hat geschrieben : Er sagt 1.) der Sinn der Sache liegt tatsächlich in der Realität, denn es sind 3 Quadrate an der Tafel und nicht etwa 5. Er sagt 2.) es gibt indefinit viele Sinnfelder zu dem was an der Tafel alles ist - wovon er jetzt aber nur 3 explizit anspricht: Quadrate, Seitenkanten oder Elementarteilchen.

Falsch daran ist nun 2. Es kann nämlich genauso wenig unendlich viele Begriffe geben, die wir zum Objekt erfragen können, wie es Perspektiven geben kann. An einem Punkt, den wir als Mensch recht schnell erreichen hört es bereits auf mit der Anzahl möglicher Sinnfelder.
Ich würde an dieser Stelle indefinit nicht mit unendlich, sondern mit unbestimmt übersetzen. Die Zahl der Sinnfelder ist unbestimmt und sicherlich deutlich größer als die möglichen Perspektiven, die wir einnehmen können. Punkt 2) ist also nach meiner Einschätzung aus zwei Gründen nicht falsch. Erstens weil indefinit nicht unendlich bedeutet und zweitens, weil an dieser Stelle nicht die Perspektiven, die wir einnehmen können, gemeint sind, sondern die SinnFelder selbst. Gabriel macht in dem Vortrag geltend, dass die Wirklichkeit lesbar ist, allerdings nicht auf eine einzige Art und Weise, sondern auf indefinit viele Art und Weisen. Wir als endliche Wesen werden vielleicht nie alle diese an sich vorhandenen Möglichkeiten tatsächlich lesen können.




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Tosa Inu hat geschrieben : Worin siehst Du den Vorteil der Sinnfeld-Theorie? Was kann man damit erklären, beschreiben oder darstellen, was vorher nicht gelang?
Ungefähr ab Minute 52 oder 53 skizziert Gabriel ganz knapp den Ertrag, den diese Theorie erwirtschaftet. An dieser Stelle wird auch klar, warum er sich so vehement gegen Weltbilder wendet. Denn Weltbilder, so wie er sie versteht, führen dazu, dass bestimmte Gegenstands Typen und Tatsachen Typen als scheinhaft aussortiert werden. Das naturalistische Weltbild etwa führt dazu, dass Tatsachen und Gegenstände die zu unserer Lebenswelt zählen, plötzlich in einem gewissen Sinn als scheinhaft erscheinen.




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