#Bildbesprechungen > In ein Antlitz schauen?

Hier können Kunstwerke diskutiert werden.
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Jörn Budesheim
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Do 19. Okt 2017, 16:15

antlitz.jpg
antlitz.jpg (52.66 KiB) 24324 mal betrachtet

Unsere Sinne gelten gemeinhin als "Erkenntniswerkzeuge". Damit ist man schnell in der "theoretischen Sphäre", sagen wir in der Erkenntnistheorie ... Aber die Sinne darauf zu verkürzen - das wäre wirklich ein sehr verkürzter Blick darauf. Was sehen wir, wenn wir zum Beispiel in ein Antlitz schauen? Was bedeutet es, wenn "ein Stück Welt" zurückschaut? Was heißt es, seinesgleichen anzuschauen? Was bedeutet es, einen Blick zu erwidern?

Hier soll es darum gehen, was wir eigentlich sehen, wenn wir in ein Antlitz schauen.

Bild oben: Jörn Budesheim, aus der Serie Särge (1989, ca 100 cm x 40 cm)




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Stefanie
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Do 19. Okt 2017, 22:23

„Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie
sich dem Anderen wie einem Objekt zu. Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal
seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung
zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden,
aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt"

Das ist von Emmanuel Levinas.

Anmerkung:
Da ich zu faul zum Abtippen war, habe ich es aus dieser Quelle kopiert:
http://www.peter-zeillinger.at/vorlesun ... evinas.pdf

In dem Buch von Andreas Gelhard Levinas steht allerdings dort wo Antlitz steht, "Gesicht". Ich habe Levinas nicht im deutschen Original, kann also nicht sagen, welche deutsche Übersetzung "richtiger" ist.


Da ich wieder mehr Tippfehler produziere als richtige Wörter, verschiebe ich meine Idee, Levinas bei der Diskussion zur Menschenwürde einzuführen, auf einen wachen Zustand meinerseits: Gute Nacht!



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Alethos
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Do 19. Okt 2017, 23:32

Spannend, werde dort mehr lesen. Aber sich erst morgen.

Gute Nacht!



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Jörn Budesheim
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Stefanie hat geschrieben :
Do 19. Okt 2017, 22:23
„Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn, ein Kinn sehen und sie beschreiben können, dann wenden Sie sich dem Anderen wie einem Objekt zu. Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken. Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden, aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt"

Das ist von Emmanuel Levinas.
Ja, das ist sehr gut nachvollziehbar. Du hast ein anderer Stelle den Begriff Empathie gebracht. Das passt auch sehr gut, finde ich. Wir können in ein Gesicht mit verschiedenen Einstellungen blicken und metaphorisch gesprochen, "schaut" es dann entsprechend zurück. Wenn man ein Gesicht anschaut, wie einen Stein, dann erhält man vielleicht mathematische Proportionen oder dergleichen mehr, eine res extensa. Das dürfte gar nicht so einfach sein, jemanden in dieser Weise anzuschauen ... Wenn wir den Blick einer Person erwidern, wenn man sich beispielsweise in die Augen schaut, aber nicht nur dann, nimmt man die Präsenz des anderen wahr, sie zeigt sich unmittelbar...




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Jörn Budesheim
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Wenn man etwa glaubt, dass man Sehen am Modell "camera obscura" verstehen kann, dann kann man nicht mal begreifen, was ein Blick überhaupt sein soll... Wie und was soll da aus dem dunklen Raum wieder etwas herauskommen?




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Jörn Budesheim
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Fr 20. Okt 2017, 08:19

Der Punkt mit der Empathie ist zentral, meine ich. Und ich schätze, es gibt viele verschiedene Versuche, das auszudrücken. Man kann zum Beispiel vom Unterschied der Perspektiven sprechen und zwischen einer distanzierten und einer eingebundenen Perspektive unterscheiden. Man kann das, was sich uns da zeigt, mit verschiedenen "Prädikat"-Typen erläutern, mit denen wir es ausdrücken können: ein bekanntes Beispiel dafür sind die M(ateriellen) Prädikate und die P(ersonalen) Prädikate. Die Unterscheidung von Teilnehmer-Perspektive und dritte Person-Perspektive dürfte auf etwas vergleichbares hinaus laufen. (Wobei ich meine, dass diese diversen Zweiteilungen noch frag- und verbesserungswürdig sind.)

Wie auch immer: es ist essentiell für unsere Wahrnehmung der Welt, dass wir Gartenzäune und Gesichter nicht verwechseln. Und das geschieht auf keinen Fall erst auf irgendeiner "rationalen" oder "reflektierten" Ebene, sondern im Wahrnehmen selbst. Wir sehen, dass andere denken, lächeln oder traurig sind. Wir sehen auch, dass andere Hilfe brauchen, dass sie uns fragend ansehen, dass sie Unseresgleichen sind und vieles mehr. Das sind alles keine Abstraktionsprodukte, die erst später kommen, sondern zum phänomenalen Erleben selbst gehören.

Allerdings: wer noch nie erlebt hat, dass ihn ein strafender Blick getroffen hat, dem kann man das auch nicht andemonstrieren mit freigestellten Kriterien ... das ist eine Realität, die man nur erlebend nachvollziehen kann.




Tosa Inu
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 20. Okt 2017, 08:19
Wie auch immer: es ist essentiell für unsere Wahrnehmung der Welt, dass wir Gartenzäune und Gesichter nicht verwechseln. Und das geschieht auf keinen Fall erst auf irgendeiner "rationalen" oder "reflektierten" Ebene, sondern im Wahrnehmen selbst. Wir sehen, dass andere denken, lächeln oder traurig sind. Wir sehen auch, dass andere Hilfe brauchen, dass sie uns fragend ansehen, dass sie Unseresgleichen sind und vieles mehr. Das sind alles keine Abstraktionsprodukte, die erst später kommen, sondern zum phänomenalen Erleben selbst gehören.
Ja, wir verfügen über eine angeborene Fähigkeit Affekte auszudrücken und zu lesen, zu deuten. Im Prinzip kann das jeder, aber man kann diese Fähigkeit noch weiter ausbauen, so dass man auch komplexere Emotionen mitbekommt oder verlernen, da kommt es dann zu den Effekten, die Du hier darstellst:
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 20. Okt 2017, 08:19
Allerdings: wer noch nie erlebt hat, dass ihn ein strafender Blick getroffen hat, dem kann man das auch nicht andemonstrieren mit freigestellten Kriterien ... das ist eine Realität, die man nur erlebend nachvollziehen kann.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Jörn Budesheim
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Tosa Inu hat geschrieben :
Fr 20. Okt 2017, 12:13
Ja, wir verfügen über eine angeborene Fähigkeit Affekte auszudrücken und zu lesen, zu deuten.
Ja. Wir lesen aber nicht nur Affekte, sondern sicher noch mehr. Bereits sehr kleine Kinder können sicher unterscheiden, ob eine Person etwas verloren hat oder absichtlich hat fallen lassen. Im ersteren Fall sehen sie problemlos, dass die fragliche Person Hilfe braucht und bieten sie auch mit den ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln an.




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Jörn Budesheim
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Fr 20. Okt 2017, 12:57

Stefanie hat geschrieben :
Do 19. Okt 2017, 22:23
Emmanuel Levinas.
Bei Dieter Sturma wird er kurz erwähnt: "Jean-Paul Sartre (1905-1980) und Emmanuel Levinas (1906 bis 1995) weisen der Präsenz anderer Personen eine zentrale Stellung für die Philosophie insgesamt zu. In phänomenologischen Untersuchungen legen sie mit ganz unterschiedlichen theoretischen Zielsetzungen dar, dass die Anwesenheit anderer Personen keineswegs erschlossen werden müsse, sondern sich auf unmittelbare Weise in Wahrnehmungs- und Handlungssituationen zeige. Sartre zufolge wird die Anwesenheit von anderen Personen im Modus unmittelbarer Gewissheit erlebt. Meine Wahrnehmungs- und Handlungssituation ändere sich grundsätzlich, wenn ich den Blick des Anderen spüre. Für Levinas manifestiert sich im Antlitz (visage) der anderen Person eine Realität, die von der Reflexion gar nicht vollständig zu erfassen ist und insofern als Quelle eigenständiger Erwartungen anerkannt werden müsse. Das Antlitz des Anderen sei aber keineswegs - wie bei Sartre - die Grenze, sondern die Erweiterung des eigenen Reflexionsraums."


Wir können diesen Punkt gerne vertiefen - aus dem Stegreif oder auch mit Levinas-Texten. Ziel könnte sein, an unserem Verständnis zu arbeiten, was Wahrnehmen überhaupt heißt, insbesondere gegenseitige Wahrnehmungen.




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Friederike
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Fr 20. Okt 2017, 14:40

Levinas hat geschrieben : [...] Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen. Die Beziehung zum Antlitz kann gewiss durch die Wahrnehmung beherrscht werden, aber das, was das Spezifische des Antlitzes ausmacht, ist das, was sich nicht darauf reduzieren lässt"
Jörn Budesheim hat geschrieben : Wie auch immer: es ist essentiell für unsere Wahrnehmung der Welt, dass wir Gartenzäune und Gesichter nicht verwechseln. Und das geschieht auf keinen Fall erst auf irgendeiner "rationalen" oder "reflektierten" Ebene, sondern im Wahrnehmen selbst. Wir sehen, dass andere denken, lächeln oder traurig sind. Wir sehen auch, dass andere Hilfe brauchen, dass sie uns fragend ansehen, dass sie Unseresgleichen sind und vieles mehr. Das sind alles keine Abstraktionsprodukte, die erst später kommen, sondern zum phänomenalen Erleben selbst gehören.
Stefanies Zitat von Levinas aufgreifend und Deine Auffassung von "Wahrnehmung" hinzufügend, würde "Wahrnehmen" bedeuten, in Beziehung zu sein oder in eine Beziehung zu treten. Einen Stein wahrnehmen hieße dann, in Beziehung zu einem bestimmten "Ding"/"Objekt" der Welt zu sein. In einer "soziale Beziehung" zu sein, wäre die Wahrnehmung eines anderen Menschen. Welcher Art die wahrnehmende Bezugnahme ist, da kennzeichnet Merleau-Ponty beispielsweise die "Wahrnehmung" als ein leibliches Vermögen, während McDowell unter "Wahrnehmung" ein begriffliches Vermögen versteht.

In ein "Antlitz schauen", so denke ich, ist ein einzigartiger Ausdruck, der überhaupt nicht adäquat ersetzt werden kann. "In ein Gesicht sehen" oder "einander ins Gesicht sehen" oder "in die Augen sehen" geben nur höchst unzulänglich das "Spezifische", wie Levinas sagt, wieder bzw. sie geben das Spezifische gar nicht wieder.

Mir ist der Gedanke gekommen, ob Menschen einander als Menschen nicht vollkommen irrtumsfrei identifizieren können, indem sie sich in die Augen sehen? Ob dies nicht das entscheidende Kriterium dafür ist, daß die einzelnen Exemplare der Spezies "Mensch" untereinander erkennen. Ein Blick in die Augen genügt, um alle nicht menschlichen Lebewesen sofort und unmittelbar als solche zu erkennen.




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Jörn Budesheim
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Fr 20. Okt 2017, 15:08

Friederike hat geschrieben :
Fr 20. Okt 2017, 14:40
Einen Stein wahrnehmen hieße dann, in Beziehung zu einem bestimmten "Ding"/"Objekt" der Welt zu sein.
Eher nicht. Wenn ich auf die Unterschiede hinweisen will, möchte ich sie ja nicht auf einer höheren Ebene gleich wieder einziehen. Das heißt, was für den Raum gilt, den Blickwechsel (Berührungen etc.) schaffen, das muss nicht auch für einen Blick auf einen Stein gelten. Ich sehe, dass mein Gegenüber kein Ding ist, den ich nach Belieben für meine Zwecke einsetzen kann - für den Stein gilt das eher nicht :-)




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Jörn Budesheim
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So 22. Okt 2017, 16:52

Stefanie hat geschrieben :
Do 19. Okt 2017, 22:23
Emmanuel Levinas
Ich geb zu, ich hab mich nie großartig mit ihm beschäftigt ... und poste einfach mal ein paar Zitate, mal sehn, was sich entwickelt. Zwar ist seine Philosophie in einem Duktus verfasst, der gewöhnungsbedürftig sein mag. Aber der Sache nach trifft Levinas etwas, finde ich.
Philosophie-Lexikon, Hügli/Lübke hat geschrieben : [Levinas kritisiert Philosophie wegen] ihrer Privilegierung des theoretischen Weltzugangs. Damit einher gehe eine Reduktion des Anderen und des Fremden auf das Gleiche, d. h. auf das, was auf Begriffe gebracht und von einem bewussten Subjekt angeeignet werden kann. [...] Durch sie wird der Andere zu einem seienden Ding innerhalb des Bedeutungszusammenhangs in der Welt des Subjekts gemacht. Der Andere kann benutzt, ausgenutzt oder vernichtet werden nach dem Belieben des Subjekts. Will man die Voraussetzungen dieses begrifflich-theoretischen Zugangs zur Welt unterlaufen, muss man auf die vor-begriffliche Begegnung mit dem Anderen oder, genauer, mit dem Anderen in der Gestalt des anderen Menschen zurückgehen. Die Ontologie muss, anders ausgedrückt, durch Ethik ersetzt werden, die von Levinas zur neuen Ersten Philosophie erklärt wird. Zentrale Bedeutung gewinnt für Levinas die Begegnung mit dem Gesicht des Anderen. Ein Gesicht ist radikal singulär, es kann nicht als Instanziierung eines Allgemeinbegriffs verstanden werden. Begegnet man einem Gesicht, begegnet man einem anderen Menschen als einzigartigem Individuum, das sich nicht auf eine wohldefinierte Klasse «gleicher» Phänomene reduzieren lässt. Aus dem Gesicht des Anderen spricht die Forderung, Verantwortung für ihn zu übernehmen.
Welten im Kopf hat geschrieben : [Auffallend ist], daß Levinas überall, statt vom Gesicht zu reden, vom »Antlitz« spricht. Der Ausdruck deutet an, daß durch die Erscheinung des Gesichts noch etwas anderes hindurchscheint: seine besondere Würde und Aura, gleichsam seine eigentümliche Numinosität. [...] Es bildet so den Anfang jeder menschlichen Beziehung: »Das Sagen bezeichnet die Tatsache, daß ich dem Antlitz gegenüber nicht einfach dabei verbleibe, es zu betrachten, sondern ihm antworte. Das Sagen ist eine Art, den Anderen zu grüßen, aber ihn zu grüßen meint bereits, ihm zu antworten. [...] «

Auf diese Weise konfrontiert das Antlitz mit der ganzen Wucht seines ethischen Anspruchs. Die Nötigung zur Antwort ist gleichbedeutend mit der Notwendigkeit einer wörtlich verstandenen »Ver-Antwortung«. Denn statt mich zu provozieren oder zu bedrohen, präsentiert sich das Antlitz ungeschützt und fordert damit zur Vorsicht heraus. Vor allem besteht diese Ungeschütztheit, so Levinas, in einer unschuldigen »Nacktheit« [...]

Das Antlitz ist exponiert, bedroht, als würde es uns zu einem Akt der Gewalt einladen.« Doch stellt es gleichzeitig jede Gewalt in Frage; es trotzt dem willkürlichen Zugriff und schränkt meine Souveränität ein, indem es mich in seinem Ausgesetztsein, seiner Bedürftigkeit und Wehrlosigkeit entwaffnet. [...] »Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht zu sagen: >Du darfst nicht töten.<« Das bedeutet nicht, daß wir grundsätzlich nicht töten könnten - dies widerspräche aller Erfahrung. Es gibt den Mord, auch den ruchlosen und kaltblütigen, den kein Mitleid rührt: Aber dann habe ich dem Anderen nicht in die Augen geschaut, ich habe die schutzlose Darbietung seines verwundbaren und verletzlichen Gesichts ignoriert.
Deutschlandfunk hat geschrieben : E. Levinas: "Einem Menschen begegnen heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden."

Einem Menschen begegnen heißt, ihn als Anderen erleben, ent-decken, respektieren. Denn der Andere ist einzig und unverwechselbar; auf der Suche nach dem, was und wer er ist, versagen die üblichen Kategorien, die Schablonen des Denkens und die gewohnten Strukturen unseres Verstehens. Erst wenn man den Anderen, wie Levinas erklärt, gleichsam nackt und fremd sein lässt, bestimmt sich der Andere als Anderer von sich her. [...]

"Und dieser Andere begegnet, wie Levinas' Ausdruck dafür lautet, als "Antlitz" (visage), als Verbot: "Du sollt mich nicht töten", und als Gebot: "Du sollst mich in meinem Sterben nicht alleine lassen"." [...]

So gesehen ist der Andere - insbesondere für Philosophen - "die eigentlich metaphysische Störung".
Bildlichkeit bei Emmanuel Levinas, Susanne Dungs hat geschrieben : Die Nähe zum Anderen ist nach Lévinas in keinerlei Form überführbar. Würde die Nähe zum Anderen eine identifizierbare Gestalt annehmen, so ließe sich die Dringlichkeit der Vorladung, die dem Subjekt widerfahren ist, vertagen. [...]

Sobald der Andere als Bild erscheint, befindet sich das Ich bereits in Beziehung mit dem, was sich vervielfältigen und auf "zahllose Bildschirme" verteilen lässt - das Vervielfältigte ist aber nicht mehr der Andere. [...]

Der Nähe zum Anderen stellt Levinas das Bild kritisch gegenüber. [...]

Seit den 80er Jahren fänden sich dagegen Stellen, nach denen Lévinas dem Kunstwerk ethische Momente zubillige. [...]

[Der Philosoph] Esterbauer unternimmt daher den Versuch, die Erfahrung des Antlitzes mit der des Kunstwerkes zu vergleichen. Das Kunstwerk besitze selbst ein Antlitz.




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Stefanie
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So 22. Okt 2017, 18:54

Ich finde seit Tagen nicht den Anfang zu dem was ich schreiben will, die Intention was ich schreiben will schon, nur nicht diesen dusseligen Anfang, was dazu führt, dass der Rest auch vor sich hin ruckelte. Also schreibe ich jetzt mal einfach so los.

Wenn wir in ein Gesicht eines anderen (Fremden) schauen, sehen wir doch mehr als Augen, Nase, Mund etc. , sondern auch Lachen, Weinen, aber auch Wut, Trauer, Freude, Stolz, "Würde" (erst mal in Abgrenzung zur Menschenwürde) Angst etc.. Dem einem Menschen sieht man es mehr an, dem anderen weniger, und manche Menschen sehen es besser, manchen Menschen weniger.

Das ist aber erst mal nur reines Sehen und Erkennen. Nicht unbedingt eine Art der Kommunikation.
Und auch nicht unbedingt die Antworten auf die Fragen aus dem Startbeitrag.

Levinas geht über das reine Sehen hinaus.
In dem ersten Zitat von ihm drückt er aus, dass das reine Sehen von Augen, Stirn, Kinn, Augenfarbe dazu führt, dass man den Anderen als Objekt ansieht. Dadurch sind wir noch nicht ein sozialen Beziehung, es besteht auch keine Kommunikation.
Levinas verlangt im Grunde, dass wir das Offensichtliche, was wir in einem Gesicht sehen, nicht sehen sollen. Das Antlitz- im Gegenzug zu einem Gesicht- hat keine wahrnehmbaren Züge.
Für ihn ist das Gesicht, also das Antlitz- nackt, entblößt. Levinas sagt, dem ist so, weil wir ja alles versuchen -durch Mimik, "Posen" - dieses Blöße zu verdecken. Und das Antlitzt spricht. Es geht nicht um das Sehen, sondern um das Sprechen. Und zwar ohne Worte oder sonstiges, das Antlitzt wendet sich an mich, der Anderer "geht mich was an", es sendet eine Aufforderung zu einer Antwort. Es geht über die reine Wahrnehmung hinaus. (Der Autor meines Buches nennt es einen andere Dimension) Levinas hat eine "Ethik" daraus entwickelt.
Ich habe eine Verantwortung für den Anderen, und zwar eine Verantwortung, die ich schon habe, bevor ich mir ihrer bewusst werde. Der andere hat einen Anspruch darauf, dass geantwortet wird. Diese Antwort wird vom anderen vorgegeben, sie steht nicht schon fest. Es geht um das Entstehen von Verbindlichkeit in der Beziehung zu anderen Menschen. Levinas entwickelt jetzt keine neuen Werte oder so was, sondern ihm geht es um die konkrete Situation, in der die philosophische Ethik behandelten Fragen entstammen. Die "Phänomenologie der Beziehung zum Anderen".

Hinzukommt noch Levinas Sichtweise zur Empathie. Bei der klassischen Auffassung von Empathie geht es um die Fähigkeit eines schon bestehenden Subjektes, sich in einen anderen einzufühlen. Levinas bezeichnet dies aber als Verpflichtung und Verantwortung. Die Subjektivität ist das Einstehen für einen Anderen, was mich erst zu einem Subjekt macht. Dieses Einstehen, diese Verantwortung ergibt sich aus dem Antwortenmüssen auf dem Anspruch des Anderen. Dieser Verantwortung kann man sich nicht entziehen, man hat sie schon, von Anfang an. Man hat sich diese "zugezogen".

Da ich für den Anderen die Andere bin, der Anderer für mich der Andere ist, ist all das Ganze wechselseitig. Es sind wechselseitigen Verpflichtungen. Dem sich das Subjekt nicht entziehen kann. Es entsteht eine Beziehung von "Anderen". Es ist in diesem Sinne (von Levinas) auch so was wie ein empathisches Sprechen.
Berücksichtige ich nun, dass durchaus später auch das eigentliche Sehen des Offensichtlichen in einem Gesicht hinzukommen kann, plus was in einer Quelle von Jörn steht " seine besondere Würde und Aura, gleichsam seine eigentümliche Numinosität des Antlitzt", meine Position zur Menschenwürde als Axiom, dürfte klar sein, was mich an dem Antlitz des Anderen so interessiert. Dieses wechselseitige Einstehen, Verantwortung und Verpflichtung ist mehr als empathisches reines Sehen, es ist stärker. Allen Menschen ist das nackte, entblößte Antlitz gegeben, alle haben es, ohne Ausnahme. Allen erwächst daraus eine Verpflichtung, alle haben den identischen Anspruch gegen den "Anderen." Es gibt keine Relativierung, keine Berücksichtigung von Wohlverhalten, keine Berücksichtigung von der Stellung, egal wer, es trifft auf alle zu. In diesem Sinne kann auch die Menschenwürde nicht relativiert werden.

Wir sehen ein Gesicht, und in diesem die Empfindungen und Gefühle eines Menschen, können uns klassisch in diesen herein versetzen, empathisches Sehen. Wir sehen die Folgen im Gesicht und am Körper, wenn der Mensch lediglich zum Zweck missbraucht wurde. Das auch deshalb passiert, weil die Verpflichtung und die Verantwortung, die sich aus dem Antlitz des Anderen ergibt, nicht befolgt wurde.



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Alethos
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So 22. Okt 2017, 20:40

Im Antlitz liegt das Versprechen, das nicht ausgesprochen wird, das Versprechen der Unverbrüchlichkeit gegenseitiger Verantwortung. Ich trage für den Anderen Verantwortung, weil ich ihm die Antwort auf seine nie ausgesprochene Frage schulde: ‚Bist du auch ein Mensch?‘, die ich mit einem ‚Ja’ allein nicht beantworten kann, sondern mit Hingabe, mit Pietät, mit Verlässlichkeit. In seinem Antlitz wird dann offenbar, ob ich meinen Verpflichtungen nachgekommen bin.

Und die gegenseitige Würde bleibt immanent im Angesicht dieser Verbundenheit in der stillen Frage: Sind wir einander gerecht geworden?



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Jörn Budesheim
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Mo 23. Okt 2017, 05:52

Wenn man so will, ist das hier eine Art komplementärer Thread sowohl zum Herr und Knecht Thread als auch zu den "Zuschreibung Threads". Was heißt es, sich (nicht) auf Augenhöhe zu begegnen? Augenhöhe wird hier nicht einfach als eine "Facon de parler" verstanden, sondern als tief in unseren Wirklichkeiten verankert.

Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe, die verschiedenen Konzepte aufeinander antworten zu lassen. Wie hängen die verschiedenen Bilder zusammen, wo schließen sie sich aus, wo ergänzen sie sich... Zuschreiben, Herr und Knecht, ein Rätsel, das uns wach hält.

(Aus dem Umstand, dass wir keine Zombies sind, folgt zwar, dass auch der Physikalismus falsch ist, aber bei dieser Erkenntnis muss man nicht unbedingt stehen bleiben.)




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Mo 23. Okt 2017, 08:03

Stefanie hat geschrieben :
So 22. Okt 2017, 18:54
das reine Sehen
Was meint Levinas damit?

Das ist ja auch eine grundsätzliche Frage, wie man "sehen" verstehen sollte. Vielleicht ist es schon ein konzeptionelles Problem, wenn man die verschiedenen Sinne zu sehr "trennt". Reines Sehen - ich denke dabei noch mal an das "Camera obscura Modell" - dürfte wohl (außer bei Überwachungskameras) nie vorkommen. Wir sehen ja nicht irgendwelche Farbflecken und nebenbei laufen Geräusche ab. Und wenn man die Sinne irgendwie zusammen denkt, dann sind sie ja nie "leer" oder "rein", schiere (Farb-, Ton-, Geruchs-, etc.) Qualia, sondern wir haben es doch nahezu ausschließlich bereits mit fokusierten Sinnzusammenhängen zu tun, oder?




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Stefanie
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Mo 23. Okt 2017, 10:29

Oh, da habe ich mich missverständlich ausgedrückt.

"Reines Sehen" ist von mir, weil ich damit das (An)Sehen eines Gesichtes, von dem "Ansehen" des Anlitzes unterscheiden wollte.
Im Gesicht sieht man bestimmte "Zustände" (Trauer, Angst, Wurt, lachen, weinen.) und Gesichtsmerkmale... Augen, Nase, Stirn.



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Stefanie
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Mo 23. Okt 2017, 19:06

Merke: Nie einen Beitrag schreiben, wenn frau eigentlich weiß, sie hat keine Zeit, diesen zu Ende zu schreiben, und dann trotzdem einfach auf absenden klicken... und dann Stunden später zu merken, ähm, ups., was wolltest Du eigentlich schreiben? Ergebnis ist Beitrag Nr. 6217.



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Mo 23. Okt 2017, 19:19

:mrgreen:




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Stefanie
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Mo 23. Okt 2017, 19:41

Ich hatte mich zeitlich verschätzt....

Das linke Bild aus dem Startbeitrag ist doch eine Totenmaske, richtig ?
Das ist weniger ein Gesicht, sondern doch mehr ein Antlitz in dem oben beschriebenen Sinne. Nackter, entblößter und auch schutzbedürftiger geht es nicht. Das macht dann klar, finde ich, dass die Würde und die Menschenwürde auch nach dem Tod gilt.

Allerdings ist das was Jörn mit "fokusierten Sinnzusammenhängen" beschreibt nicht mehr möglich, oder ? Kann das Gesicht eines toten Menschen zurückblicken oder uns etwas über verstorbenden Menschen sagen?



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