das Fremde

Im Zettelkasten können Zitate und Begriffe hinterlegt werden, auf die du andere Mitglieder des Forums aufmerksam machen möchtest.
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23445
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 2. Mär 2021, 16:03

"Was fremd ist, muss zerstört werden." Das hielt ein früherer Prof. von mir für einen grundlegenden Charakterzug des Menschen.




Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Di 2. Mär 2021, 19:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 16:03
"Was fremd ist, muss zerstört werden." Das hielt ein früherer Prof. von mir für einen grundlegenden Charakterzug des Menschen.
recht radikaler Charakterzug, bin mir nicht sicher, ob dieser so ganz zutrifft. Es gibt noch das Sprichwort: "Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht", aber hier ist eher Ablehnung oder Ignoranz im Verhalten vorherrschend.
Persönlich würde ich das Fremde eher als Entwicklungspotential ansehen, da es immer genug gibt, das man nicht kennt.
Ich kann aber auch verstehen, dass man Fremdlinge/Eindringlinge in den geschlossenen Kreis nicht so leicht oder gerne aufnimmt, da sie die internen Entwicklungen/Abläufe stören oder verändern, was evtl. unerwünscht ist.

Wie hat der Prof. denn diese Ansicht begründet bzw. ausgeführt?



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23445
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 2. Mär 2021, 19:51

transfinitum hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 19:04
Wie hat der Prof. denn diese Ansicht begründet bzw. ausgeführt?
Es entspricht vielen Erfahrungen, die man macht. Natürlich ist es so, wie es oben formuliert ist, nicht richtig, sondern es ist eine Provokation, eine Übertreibung.




Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Mi 3. Mär 2021, 11:19

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 16:03
"Was fremd ist, muss zerstört werden." Das hielt ein früherer Prof. von mir für einen grundlegenden Charakterzug des Menschen.
dem würde Camus so entgegnen:
Camus hat geschrieben : "Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann,
ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und
des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd."
Das Fremde /Absurde solle nach seiner Ansicht angenommen werden und um damit gerade trotz des Wissens darum damit weiterleben zu können.



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23445
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 3. Mär 2021, 14:58

Mit dem Fremden kann vieles gemeint sein. Am naheliegendsten ist wohl der Gedanke an den Fremdenhass in seinen verschiedensten Formen, als Rassismus, als Homophobie, also Ressentiments gegen ungewöhnliche Lebensweisen, abweichende Meinungen und so weiter und so fort.




Benutzeravatar
NaWennDuMeinst
Beiträge: 4640
Registriert: Sa 30. Mai 2020, 12:37

Mi 3. Mär 2021, 19:32

transfinitum hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 11:19
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 2. Mär 2021, 16:03
"Was fremd ist, muss zerstört werden." Das hielt ein früherer Prof. von mir für einen grundlegenden Charakterzug des Menschen.
dem würde Camus so entgegnen:
Camus hat geschrieben : "Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann,
ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und
des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd."
Das Fremde /Absurde solle nach seiner Ansicht angenommen werden und um damit gerade trotz des Wissens darum damit weiterleben zu können.
Nach Camus muss das Absurde angenommen werden um dagegen revoltieren zu können.
Camus geht es nicht um das Annehmen an sich. Sondern darum, dass man nicht gegen etwas revoltieren kann, das man vorher nicht angenommen hat.

Es gibt drei aufeinander folgende Stufen des Umgangs mit der Absurdität:

1. ihre Erkenntnis
2. ihre Annahme
3. die aufbegehrende Revolte

In der Revolte gegen das Absurde, als Reaktion auf das Annehmen der Absurdität, kann sich der „absurde Mensch“ selbst verwirklichen und zur Freiheit finden.


https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mythos_des_Sisyphos



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

Benutzeravatar
iselilja
Beiträge: 1551
Registriert: Mi 26. Jul 2017, 19:53

Mi 3. Mär 2021, 19:43

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 19:32

Es gibt drei aufeinander folgende Stufen des Umgangs mit der Absurdität:

1. ihre Erkenntnis
2. ihre Annahme
3. die aufbegehrende Revolte

In der Revolte gegen das Absurde, als Reaktion auf das Annehmen der Absurdität, kann sich der „absurde Mensch“ selbst verwirklichen und zur Freiheit finden.


https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mythos_des_Sisyphos
Aber wo genau erscheint bei den dreien die Absurdität? Erkenntnis kann noch nicht absurd sein. Die Annaheme auch nicht, weil man es sonst ja nicht annehmen würde. Also irgendwo zwischen 2. und 3.?




Benutzeravatar
NaWennDuMeinst
Beiträge: 4640
Registriert: Sa 30. Mai 2020, 12:37

Mi 3. Mär 2021, 19:50

iselilja hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 19:43
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 19:32

Es gibt drei aufeinander folgende Stufen des Umgangs mit der Absurdität:

1. ihre Erkenntnis
2. ihre Annahme
3. die aufbegehrende Revolte

In der Revolte gegen das Absurde, als Reaktion auf das Annehmen der Absurdität, kann sich der „absurde Mensch“ selbst verwirklichen und zur Freiheit finden.


https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mythos_des_Sisyphos
Aber wo genau erscheint bei den dreien die Absurdität? Erkenntnis kann noch nicht absurd sein. Die Annaheme auch nicht, weil man es sonst ja nicht annehmen würde. Also irgendwo zwischen 2. und 3.?
Vor 1. Bei Camus ist das die generelle Lebenssituation in der der Mensch sich befindet. Das Leben selbst ist absurd.
Camus verdeutlicht das an dem "Mythos des Sisyphos".
Sisyphos wurde von den Göttern als Strafe dazu verdammt jeden Morgen einen riesigen Felsbrocken einen Berg hinauf zu rollen. Jeden Abend, bevor Sisyphos den Gipfel erreicht, entgleitet ihm der Stein und rollt den ganzen Berg wieder hinab. Sisyphos beginnt am nächsten Morgen wieder von vorn.
Sisyphos' Leben ist sinnlos und absurd.
Und nach Camus ist das die Grundsituation in der sich der Mensch befindet. Wir mühen uns ein ganzes Leben ab immer in dem Wissen das wir einmal sterben.
Wozu sich anstrengen, wozu sich mühen, wenn am Ende eh alles für die Katz ist?

Zuerst erkennen wir die Absurdität des Lebens. Dann nehmen wir die Absurdität als gegeben an, und dann revoltieren wir dagegen.
"Jetzt erst recht". Daraus gewinnen wir unsere Freiheit zurück.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

Benutzeravatar
Friederike
Beiträge: 4950
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 07:48

Do 4. Mär 2021, 16:45

transfinitum hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 11:19
Camus hat geschrieben : "Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann,
ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und
des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd."
Das Faszinierende an dieser Äußerung ist, wie ich finde, daß der Mensch/die Menschen sich selbst als Fremde erleben. Das Fremde sind nicht die Anderen und es sind auch nicht die Dinge, die den Menschen umgeben, sondern die Menschen werden sich selbst zu Fremden oder besser, sie erleben sich selbst als das Fremde. Im ersten Satz ist zwar von der "vertrauten Welt" die Rede, so, als sei es doch das den Menschen Umgebende, was "fremd" sein kann, aber der zweite Teil kommt mir entscheidender vor.




Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Do 4. Mär 2021, 19:30

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 19:50


Wozu sich anstrengen, wozu sich mühen, wenn am Ende eh alles für die Katz ist?

Zuerst erkennen wir die Absurdität des Lebens. Dann nehmen wir die Absurdität als gegeben an, und dann revoltieren wir dagegen.
"Jetzt erst recht". Daraus gewinnen wir unsere Freiheit zurück.
das ist das. was ich an Camus´ Philosophie schätze. Er gibt dem, was sich nicht so ändern oder erreichen lässt, keine grosse Bedeutung. Es ist in seinem Sinne so, dass Sisyphos darin aufgeht den Stein den Weg nach oben zu rollen und auch Spass daran findet, dass er dann kurz vor Gipfel wieder herunter rollt. Für ihn ist der Weg dorthin das Eigentliche, worin man aufgehen kann/sollte. Anstatt zu verzweifeln oder unten liegen zu bleiben, macht er darauf aufmerksam, dass Sisyphos damit glücklich und stolz gegenüber den Göttern ist, die ihn zu dieser Aufgabe verdammt haben.



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Do 4. Mär 2021, 19:32

Friederike hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 16:45
transfinitum hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 11:19
Camus hat geschrieben : "Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann,
ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und
des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd."
Das Faszinierende an dieser Äußerung ist, wie ich finde, daß der Mensch/die Menschen sich selbst als Fremde erleben. Das Fremde sind nicht die Anderen und es sind auch nicht die Dinge, die den Menschen umgeben, sondern die Menschen werden sich selbst zu Fremden oder besser, sie erleben sich selbst als das Fremde. Im ersten Satz ist zwar von der "vertrauten Welt" die Rede, so, als sei es doch das den Menschen Umgebende, was "fremd" sein kann, aber der zweite Teil kommt mir entscheidender vor.
dieses "Fremde" kann einem laut Camus an jeder Strassenecke begegnen. Es passiert und danach ist das, was vertraut war, etwas fremdes oder eigenartiges, was man so nicht kannte. Sobald dieser Effekt auftritt, dann beginnt ein Prozess im Bewusstsein-wie er schreibt- der nötig für eine Erkenntnis des Absurden ist. Die Herausforderung besteht darin, mit der Kenntnis der Absurdität so weiter zu leben wie vorher, was wohl nicht leicht erscheint.



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23445
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Do 4. Mär 2021, 21:11

Aber ist es für Camus auch ein Charakterzug des Menschen, auf das Fremde mit Gewalt oder Hass zu reagieren?




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 7270
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Do 4. Mär 2021, 22:16

Das Fremde ist doch auch immer etwas, was neu ist. Weil etwas neu ist, unbekannt ist, ist es einem erstmal fremd.
Es ist eine Veränderung. Mit Veränderung tut man sich oft schwer. Will ich nicht, mag ich nicht, stört mich, also weg damit.
Es sind nicht nur Menschen, die für einen fremd sein können.

Das Fremde muss zerstört werden kann man doch auch sehen:
Das Fremde von etwas muss zerstört werden, durch einen Prozess der Annäherung, Akzeptanz, Wissen. Dann wird das Fremde nach und nach aufgelöst. Zerstört, und es ist dann nicht mehr fremd.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Benutzeravatar
iselilja
Beiträge: 1551
Registriert: Mi 26. Jul 2017, 19:53

Fr 5. Mär 2021, 05:21

Stefanie hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 22:16

Das Fremde von etwas muss zerstört werden, durch einen Prozess der Annäherung, Akzeptanz, Wissen. Dann wird das Fremde nach und nach aufgelöst. Zerstört, und es ist dann nicht mehr fremd.
Die griechische Mythologie kennt viele solcher "Zerstörungsprozesse", welche in Heldentaten besungen wurden. Jason säat Drachenzähne und Bellerophon bekämpft die Chimaira. Und wenn die Zeit nur lang genug ist, wird das einst ins Verständliche gebrachte Fremde uns wieder fremd und das Wissen darum vergessen.

Auch die erneuten Annäherungsprozesse lösen im Grunde nur eine erneute Befremdlichkeit aus.. so meinen Wissenschaftler heute, dass die Temperatur der Chimäre bei etwas über 300°C gelegen haben musste, weil bei dieser Temperatur Blei schmilzt. Daraus ergibt sich, dass Bellorophon auf Pegasos etwa [.?.] Meter hoch über der Chimäre geflogen sein muss, um sie mit Blei zu bewerfen. :-)

Das Fremde wird also am Ende in seiner Fremdheit akzeptiert.




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23445
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Fr 5. Mär 2021, 06:59

Stefanie hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 22:16
Das Fremde ist doch auch immer etwas, was neu ist.
Kann nicht etwas auch dauerhaft fremd bleiben?




Benutzeravatar
NaWennDuMeinst
Beiträge: 4640
Registriert: Sa 30. Mai 2020, 12:37

Fr 5. Mär 2021, 08:44

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 21:11
Aber ist es für Camus auch ein Charakterzug des Menschen, auf das Fremde mit Gewalt oder Hass zu reagieren?
Nicht dass ich wüsste.



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

Benutzeravatar
infinitum
Beiträge: 201
Registriert: Mi 12. Aug 2020, 07:10
Kontaktdaten:

Fr 5. Mär 2021, 15:46

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 5. Mär 2021, 06:59
Stefanie hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 22:16
Das Fremde ist doch auch immer etwas, was neu ist.
Kann nicht etwas auch dauerhaft fremd bleiben?
finde ich eine spannende Frage. Wenn etwas dauerhaft fremd bleibt, dann nimmt man sich / verschliesst man sich gegenüber der Möglichkeit dieses Fremde anzunehmen. Dann gibts zwei Möglichkeiten: Entweder beraubt man sich dadurch einer "Erkenntnis" oder es ist besser, dass man dieses Fremde nicht kennt oder kennenlernt, da es eine Gefahr für etwas Bestehendes darstellt.



summonsound.wordpress.com
https://t.me/franzphilo

Benutzeravatar
iselilja
Beiträge: 1551
Registriert: Mi 26. Jul 2017, 19:53

Fr 5. Mär 2021, 16:41

Könnte es nicht auch einfach so sein, dass es garnichts fremdes gibt. Sondern dass es nur Menschen gibt, die glauben, dass etwas fremd sei, weil sie nicht verstehen, dass sie selbst es sind, die das Wahre und Gute schon immer abgelehnt haben, weil sie in ihrem So-Sein sich jeden Tag auf's Neue bestätigt fühlen.. was man dann in der Regel als Xenophobie bezeichnet, die aus ihrem kleinlichen Dasein nie wirklich heraus kommt.




Benutzeravatar
NaWennDuMeinst
Beiträge: 4640
Registriert: Sa 30. Mai 2020, 12:37

Fr 5. Mär 2021, 18:53

transfinitum hat geschrieben :
Fr 5. Mär 2021, 15:46
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 5. Mär 2021, 06:59
Stefanie hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 22:16
Das Fremde ist doch auch immer etwas, was neu ist.
Kann nicht etwas auch dauerhaft fremd bleiben?
finde ich eine spannende Frage. Wenn etwas dauerhaft fremd bleibt, dann nimmt man sich / verschliesst man sich gegenüber der Möglichkeit dieses Fremde anzunehmen.
Mir ist das alles zu unkonkret.
Irgendeine Mahlzeit ist mir fremd.
Dann probiere ich sie. Und sie schmeckt mir einfach nicht.
Muss ich es dann trotzdem jeden Tag runterwürgen nur weil man das "Fremde in sein Leben lassen muss"?
Sicher nicht.

Etwas anders ist die Lage zum Beispiel beim Fremdenhass.
Will sagen: Es ist doch eine ganz andere Situation, ob es um Menschen geht (die man dann vielleicht auch ausgrenzt oder diskriminiert) oder um Fragen des pers. Geschmacks.

Und nochmal eine andere Frage ist es auch, ob man etwas nicht mag, oder ob man es dann auch bekämpft. Und wenn man es bekämpft, warum?
Kann denn auch das Fremde übergriffig sein? Kann die Ablehnung von Fremden auch "Selbst-verteidigung/-behauptung" und/oder "Notwehr" sein?



But I, being poor, have only my dreams; I have spread my dreams under your feet;
Tread softly because you tread on my dreams.
(William Butler Yeats)

Benutzeravatar
Alethos
Beiträge: 4212
Registriert: Do 17. Aug 2017, 15:35
Wohnort: Schweiz

Fr 5. Mär 2021, 19:19

Friederike hat geschrieben :
Do 4. Mär 2021, 16:45
transfinitum hat geschrieben :
Mi 3. Mär 2021, 11:19
Camus hat geschrieben : "Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann,
ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und
des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd."
Das Faszinierende an dieser Äußerung ist, wie ich finde, daß der Mensch/die Menschen sich selbst als Fremde erleben. Das Fremde sind nicht die Anderen und es sind auch nicht die Dinge, die den Menschen umgeben, sondern die Menschen werden sich selbst zu Fremden oder besser, sie erleben sich selbst als das Fremde. Im ersten Satz ist zwar von der "vertrauten Welt" die Rede, so, als sei es doch das den Menschen Umgebende, was "fremd" sein kann, aber der zweite Teil kommt mir entscheidender vor.
Vielleicht meint Camus aber auch, dass es ganz allgemein eine Bedingung des Vertrautwerdens mit der Welt ist, dass wir uns Illusionen über das Universum machen, weil nur dort, wo wir uns in die kalte, die trostlose Wirklichkeit des Universums mit gutem Glauben hineinentwerfen, Welt entsteht als ein vetrauter Ort, in dem wir ein Zuhause finden können und eine Heimat.

Ein solcher Illusionsbegriff würde dann wohl zurückgehen auf den alten Sinn des Worts „illudieren“, was so viel bedeuten würde, als dass wir uns spielerisch die absurde Trostlosigkeit einleuchtend machen, indem
wir das Licht der Hoffnung so in die nackte Welt legen, dass sie eine Welt sein kann, an die wir glauben wollen: unsere Heimat - die vertraute Welt.

Wenn es Camus so gemeint haben sollte, dann funktioniert das Prinzip Hoffnung natürlich nur, wenn wir zugleich auch das Prinzip des Wohlmeinens anwenden: Die Ansicht, dass die Fremdheit uns eine Heimat sein will und der Fremde ein guter Freund. Wenn wir diese Hoffnung in das Universum und die Menschen verlieren, dann meinen nicht nur wir es nicht gut mit ihnen, sondern dann können sie es in unseren Augen auch gar nie gut meinen mit uns. Illusionen in diesem Sinn sollten wir haben, meine ich, auch auf die Gefahr hin, dass wir uns irren, ja sogar unter Vorwegnahme der Wahrscheinlichkeit, dass wir uns vielleicht tatsächlich irren, weil nur so der Glaube an das Gute in den Anderen, auch den Fremden, in Vertrautheit münden kann - selbst dann, wenn sie uns immer fremd bleiben sollten.
Zuletzt geändert von Alethos am Fr 5. Mär 2021, 19:34, insgesamt 3-mal geändert.



-------------------------------
Alle lächeln in derselben Sprache.

Antworten