Emergenz

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Jörn Budesheim
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Mo 17. Mai 2021, 21:10



Ich fand die Erklärung der Begriffe Realisation (von oben nach unten) Kausalität (horizontal) und Emergenz (von unten nach oben) sehr anschaulich.




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Alethos
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Mo 17. Mai 2021, 22:01

Spannend!

Wo ich nicht ganz mitkomme: Wenn Realisation top-down geschieht, dann sozusagen vom logischen Raum (von der logischen Informiertheit des Raums?) runter zum Realisierten: den Dingen.

Wenn nun aber die Dinge wie Systeme (allgemein: Anderes durch mehr) von unten, also bottom-up, geschieht, dasjenige, was emergiert aber zugleich realisiert wird (denn es existiert ja, es hat eine Realität), dann würde sozusagen durch Emergenz das realisiert werden, was logisch vorgegeben ist durch die Realisation von oben nach unten, oder? Wäre das zu verstehen als ineinanderlaufende Bewegung von Realisation und Emergenz, dass beides ineinander spielt, so dass emergiert, was durch Logik getrieben (driven) ist?

Und ist Logik die Realisation ihrer selbst oder gibt es ein noch Höheres?

:roll:



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Burkart
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Di 18. Mai 2021, 00:49

Ich bin mir nicht sicher, was sie mit Realisation meinen. Ich erläutere es mal mit meinen Worten und bin gespannt, ob ihr meint, dass es das gleiche ist oder nicht.

Der Mensch schaut auf alles aus seinem Verständnis heraus, von mir aus gerne aus seiner Logik, und dies geschieht von oben bzw. top-down.
Die Welt andererseits ist das Unten bzw. wird von unten bzw. bottom-up analysiert (z.B. von Elementarteilchen aus, aber auch z.B. von Pixeln).
Damit der Mensch das Ganze sinnvoll verstehen und verständlich machen kann, hat er diverse Ebenen eingeführt, unten die physischen elementaren bis nach oben seine logischen zum Verständnis hin.
Was dann z.B. unten physische Zusammenhänge sind, sind oben logisch kausale.

Passt das zusammen oder inwiefern ggf. nicht?



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Jörn Budesheim
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Di 18. Mai 2021, 11:33

Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 00:49
Ich erläutere es mal mit meinen Worten
Ich verstehe erstaunlicherweise genau das Gegenteil. Dann erläutere ich es auch mal mit meinen Worten:

Das Video ist bei YouTube mit folgenden Worten unterlegt: "Die Welt funktioniert auf verschiedenen Ebenen - fundamentale Physik, Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie - wobei jede Ebene ihre eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten hat. Hier ist die tiefe Frage: Lässt sich das, was auf einer höheren Ebene geschieht, letztlich vollständig mit dem erklären, was auf einer niedrigeren Ebene geschieht? Wenn die Antwort "Nein" lautet, wenn die vollständige erklärende Reduktion versagt, was könnte dann noch vor sich gehen?"

Nachdem George F. R. Ellis seine Vorstellung zu Beginn etwas skizziert hat, wendet der Interviewer ein, dass Ellis bis dahin noch nichts von nicht-physischer Natur für seine Erklärung in Anspruch genommen hat, es also bis dahin keine "Bedrohung" für den Physikalismus gibt.

Ellis macht dann jedoch sogleich folgendes deutlich: Eine Idee ist eine nicht-physikalische Sache. Eine Idee wird zwar im Gehirn realisiert, aber die Idee selbst ist kein physikalisches Ding. Dann fügt er ergänzend hinzu: Gedanken sind kausal wirksam, aber ein Gedanke ist kein physikalisches Ding, er wird auf physikalische Weise realisiert, aber er ist nicht von sich aus ein physikalisches Ding. Ich verstehe den Kosmologen und Mathematiker Ellis hier so, dass er dem Reduktionismus eine klare Absage erteilt. Er sagt auch nach meinem Verständnis nicht, dass es da draußen oder irgendwo da unten eine wahre, fundamentale Wirklichkeit gibt, die wir eben mit unseren Mitteln verstehen. Er sagt, dass Ideen und Gedanken (zum Beispiel) eigene Wirklichkeiten in der Wirklichkeit sind, die kausal wirksam sind.




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infinitum
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Di 18. Mai 2021, 17:44

Alethos hat geschrieben :
Mo 17. Mai 2021, 22:01
Spannend!

Wo ich nicht ganz mitkomme: Wenn Realisation top-down geschieht, dann sozusagen vom logischen Raum (von der logischen Informiertheit des Raums?) runter zum Realisierten: den Dingen.

Wenn nun aber die Dinge wie Systeme (allgemein: Anderes durch mehr) von unten, also bottom-up, geschieht, dasjenige, was emergiert aber zugleich realisiert wird (denn es existiert ja, es hat eine Realität), dann würde sozusagen durch Emergenz das realisiert werden, was logisch vorgegeben ist durch die Realisation von oben nach unten, oder? Wäre das zu verstehen als ineinanderlaufende Bewegung von Realisation und Emergenz, dass beides ineinander spielt, so dass emergiert, was durch Logik getrieben (driven) ist?

Und ist Logik die Realisation ihrer selbst oder gibt es ein noch Höheres?

:roll:
ja, darüber habe ich auch nachgedacht. Also, so wie ich es verstanden habe, vergleicht er die logische Argumentationsebene mit einem Computer-Algorithmus, welcher die Entscheidungen trifft. Diese Entscheidungen werden durch die simultan ablaufenden Ebenen kausal top-down ausgeführt.
Dabei frage ich mich aber, woher kommt der Algorithmus und die daraus entstehenden logischen Entscheidungen? Resultieren diese aus der Idee? Da er aber zuvor sagt, dass ein Gedanke kein physikalisches Ding ist, führt er im Prinzip einen Dualismus ein.
Hier verstehe ich nicht, welche Verbindung die logische und die kausale Ebene haben und wie der Übergang stattfindet. Wenn Logik die Realisation ihrer Selbst ist, dann ist es schwer vorzustellen, woher die Logik stammt, wenn das Realisierte nicht als Regelwerk herangezogen werden kann. (also so meine ich es verstanden zu haben... :oops: )



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Alethos
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Di 18. Mai 2021, 19:51

Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 00:49
Damit der Mensch das Ganze sinnvoll verstehen und verständlich machen kann, hat er diverse Ebenen eingeführt, unten die physischen elementaren bis nach oben seine logischen zum Verständnis hin.
Was dann z.B. unten physische Zusammenhänge sind, sind oben logisch kausale.
Ich denke, dass ich das anders interpretiere:

Nehmen wir das Beispiel der Wassermoleküle und der Nässe von Wasser: Weder die Tatsache, dass Wasser nass, noch jene, dass den Wassermolekülen die Eigenschaft des Nasseins fehlt, haben wir Menschen eingeführt. Das besteht durch sich selbst: Dass Wasser nass ist, besteht nicht durch Moleküle, sondern durch Wasser. Wasser emergiert aus Molekülen, es leitet sich nicht von diesen (kausal) ab. Wasser besteht nicht durch Wassermoleküle, sondern aus ihnen, und Wassermoleküle bestehen nicht aus Wasser, sondern in ihm.

Ich glaube auch nicht, dass Menschen Logik eingeführt hätten. Logik ist viel eher die Bedingung der Möglichkeit, dass es so etwas wie Menschen, Gedanken, Wassermoleküle, Wasser (und alles andere überhaupt) geben kann. Logik realisiert alles, was doch so viel heissen soll, als dass alles, indem es sich realisiert, seiner (eigenen) Logik folgt.

Das würde übrigens auch mit der These von Tononi übereinstimmen, die besagt, dass Bewusstsein sich realisiert im logischen Raum und zwar auf vielen Ebenen: durch Materialisation von Neuronen, durch Gedanken (die nichts Materielles sind), durch Sozialität, durch Subjektivität (da es Subjekte sind, die ein Bewusstsein haben) etc.. Bewusstsein leitet sich nicht kausal von Neuronen oder anderen Dingen ab, sondern emergiert als Ding eigener Ordnung nach Gesetzen der jede Realisation möglich machenden Logik. Dass wir hier nicht von einer binären Aussagenlogik sprechen, oder einer anderen Ausdrucksform von Logik, sondern von einer der Realität inhärenten logischen Struktur, dürfte klar sein. Aber eben führt das auch nicht in einen Monismus der Art: „Alles ist Logik“, denn real sind ja nicht die logischen Dinge allein, sondern alle spezifischen Dinge, die emergieren als Neues und als diese bestehen sie durch sich selbst. Das, meine ich, ist der Unterschied zwischen Realisation und Emergenz: Real ist, was logischen Regeln des Seins folgt, aber es emergiert als System oder Teilsystem eigenen Rechts (d.h. in raumzeitlichen, politischen, sozialen, logischen, juristischen, geschichtlichen, ästhetischen usw. Zusammenhängen).

Emergenz beschreibt, wenn wir so wollen, das „Selbstrecht“ des Neuen aus Anderem, die Autonomie der Seienden sozusagen, die sich nach logischen Regeln realisieren.



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Jörn Budesheim
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Di 18. Mai 2021, 20:06

Alethos hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 19:51
Das würde übrigens auch mit der These von Tononi übereinstimmen, die besagt, dass Bewusstsein sich realisiert im logischen Raum und zwar auf vielen Ebenen: durch Materialisation von Neuronen, durch Gedanken (die nichts Materielles sind), durch Sozialität, durch Subjektivität (da es Subjekte sind, die ein Bewusstsein haben) etc..
Hat du dazu Material? Eine Quelle?




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Alethos
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Di 18. Mai 2021, 21:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 20:06
Alethos hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 19:51
Das würde übrigens auch mit der These von Tononi übereinstimmen, die besagt, dass Bewusstsein sich realisiert im logischen Raum und zwar auf vielen Ebenen: durch Materialisation von Neuronen, durch Gedanken (die nichts Materielles sind), durch Sozialität, durch Subjektivität (da es Subjekte sind, die ein Bewusstsein haben) etc..
Hat du dazu Material? Eine Quelle?
Schriftliche Quellen gibt es kaum im
Internet, oder ich finde sie nicht. Hier aber ein Ausschnitt aus einem Referat - ab 8:50



Wenn das physische Korrelat der Phänomenologie des Bewusstseins eine begriffliche Struktur ist (conceptual structure), dann bedeutet es, dass das Bewusstsein entsteht aus dieser begrifflichen Struktur. Das Hirn ist dann nicht das Bewusstsein erzeugende, sondern das Bewusstsein habende Vehikel. Um aber Bewusstsein haben zu können, muss es selbst geformt sein in der Art, dass es Bewusstsein haben kann, d.h. es muss sich in seiner Materialisation der begrifflichen Architektur des Bewusstseins anspassen, also selbst ein Produkt begrifflicher Strukturen sein.

Oder wie es Gabriel formuliert: „ ..ist (Ihr) Bewusstsein eine immaterielle mathematische Architektur, die sich das Gehirn druckt!“



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Di 18. Mai 2021, 23:42

Alethos hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 19:51
Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 00:49
Damit der Mensch das Ganze sinnvoll verstehen und verständlich machen kann, hat er diverse Ebenen eingeführt, unten die physischen elementaren bis nach oben seine logischen zum Verständnis hin.
Was dann z.B. unten physische Zusammenhänge sind, sind oben logisch kausale.
Ich denke, dass ich das anders interpretiere:

Nehmen wir das Beispiel der Wassermoleküle und der Nässe von Wasser:
Gerne.
Weder die Tatsache, dass Wasser nass, noch jene, dass den Wassermolekülen die Eigenschaft des Nasseins fehlt, haben wir Menschen eingeführt.
Was bedeutet es eigentlich, dass Wasser nass ist?
Dass wir es als solches empfinden? Dass Wasser einen bestimmten prozentualen Anteil gegenüber anderer Materie überschreitet, um z.B. nicht nur feucht zu sein?
Zumindest den Begriff der Nässe haben wir eingeführt bzw. definiert.
Das besteht durch sich selbst: Dass Wasser nass ist, besteht nicht durch Moleküle, sondern durch Wasser.
Nur inwiefern (s.o.)?
Wasser emergiert aus Molekülen, es leitet sich nicht von diesen (kausal) ab. Wasser besteht nicht durch Wassermoleküle, sondern aus ihnen, und Wassermoleküle bestehen nicht aus Wasser, sondern in ihm.
Die Frage ist dann, was ist Wasser mehr als Menge aller gerade hier existierenden Wassermoleküle. Wenn wir z.B. die Nässe nehmen, können wir auf oben verweisen.
Ich glaube auch nicht, dass Menschen Logik eingeführt hätten.
Ist Logik nicht "das vernünftige Schlussfolgern", wenn ich man den Anfang/Kern von Wikipedia nehme?
Schlussfolgern können aber nur denkende Wesen - ok, damit auch Tiere, aber darauf wolltest du sicherlich nicht hinaus.
Logik ist viel eher die Bedingung der Möglichkeit, dass es so etwas wie Menschen, Gedanken, Wassermoleküle, Wasser (und alles andere überhaupt) geben kann.
Die Bedingung, dass es das geben kann, ist einerseits die physische Welt, andererseits sind es die physikalischen, chemischen, biologischen u.ä. "Gesetze", also Zusammenhänge in unserer Welt, die wir als solche erkannt haben.
Logik realisiert alles, was doch so viel heissen soll, als dass alles, indem es sich realisiert, seiner (eigenen) Logik folgt.
Etwas Abstraktes wie eine Logik kann nur metaphorisch etwas realisieren, ansonsten müsste Logik anders als "vernünftiges Schlussfolgern" definiert werden (wie ggf.?), was klar ans Denken gekoppelt ist.



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Mi 19. Mai 2021, 00:40

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 11:33
Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 00:49
Ich erläutere es mal mit meinen Worten
Ich verstehe erstaunlicherweise genau das Gegenteil. Dann erläutere ich es auch mal mit meinen Worten:
Gerne.
Das Video ist bei YouTube mit folgenden Worten unterlegt: "Die Welt funktioniert auf verschiedenen Ebenen - fundamentale Physik, Physik, Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie - wobei jede Ebene ihre eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten hat.
Richtig, jede Ebene hat ihre eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, nicht zufällig haben wir für sie z.B. verschiedene Schul- und Studienfächer.
Diese Ebenen sind nur genau die, wie wir sie erkennen bzw. analysieren (so gut wie möglich). Chemie bzw. z.B. die ganzen Moleküle gäbe es dabei faktisch nicht ohne deren physikalischen Zusammenhänge, Biologie nicht ohne Biochemie usw.
"Die Welt funktioniert auf verschiedenen Ebenen" ist letztlich die Metapher für "Wir erkennen/beschreiben die Welt auf verschiedenen Ebenen, entsprechend der, die für uns gerade relevant ist".
Hier ist die tiefe Frage: Lässt sich das, was auf einer höheren Ebene geschieht, letztlich vollständig mit dem erklären, was auf einer niedrigeren Ebene geschieht? Wenn die Antwort "Nein" lautet, wenn die vollständige erklärende Reduktion versagt, was könnte dann noch vor sich gehen?"
Da ich die Frage mit "prinzipiell ja (wenn auch praktisch oft mit nein, weil zu komplex)", muss nichts weiter "noch vor sich gehen".
Ellis macht dann jedoch sogleich folgendes deutlich: Eine Idee ist eine nicht-physikalische Sache. Eine Idee wird zwar im Gehirn realisiert, aber die Idee selbst ist kein physikalisches Ding.
Die Idee ist halt unsere Abstraktion, unser Gedanke, insofern nicht (direkt) physikalisch.
Dann fügt er ergänzend hinzu: Gedanken sind kausal wirksam, aber ein Gedanke ist kein physikalisches Ding, er wird auf physikalische Weise realisiert, aber er ist nicht von sich aus ein physikalisches Ding.
Das interpretiere ich wie eben mit der Idee.
Ich verstehe den Kosmologen und Mathematiker Ellis hier so, dass er dem Reduktionismus eine klare Absage erteilt. Er sagt auch nach meinem Verständnis nicht, dass es da draußen oder irgendwo da unten eine wahre, fundamentale Wirklichkeit gibt, die wir eben mit unseren Mitteln verstehen. Er sagt, dass Ideen und Gedanken (zum Beispiel) eigene Wirklichkeiten in der Wirklichkeit sind, die kausal wirksam sind.
Ob er das so versteht, konnte ich nicht genau verstehen. Jedenfalls ist der Dualismus von realer und Ideenwelt für mich nur ein scheinbarer, u.a. weil Ideen ohne reale Welt einfach nicht existieren können, weil Ideen bzw. Gedanken auf den Denkenden beruhen, die halt in der realen Welt sind.

Mal abschließend gefragt: Gibt es irgendein Beispiel, wo eine höhere Ebene durch eine niedrige nicht hinreichend beschrieben werden kann? (Das mit "nass" habe ich versucht im vorigen Beitrag darzustellen. Oder landen wir jetzt vielleicht wieder bei KI/Intelligenz/Bewusstsein? :) )



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Burkart hat geschrieben :
Mi 19. Mai 2021, 00:40
Jedenfalls ist der Dualismus von realer und Ideenwelt für mich nur ein scheinbarer
Aber davon, dem Dualismus von realer und Ideenwelt spricht Ellis in dem Interview nicht, zumindest wäre mir das bisher nicht aufgefallen - an welcher Stelle denn?




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Jörn Budesheim
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Mi 19. Mai 2021, 06:07

Burhart, Alethos, transfinitum und ich schreiben bisher in diesem Faden. Nach Ansicht dieses Physikers ist es so, dass die Gedanken, die wir dabei haben, dafür verantwortlich zeichnen, was wir hier schreiben. Das klingt zwar wie eine Trivialität, wird aber letztlich von Physikalisten (= Metaphysikern) bezweifelt. (Und auch an anderer Stelle in diesem Forum heißt es ganz aktuell, dass die Geistesgeschichte abzulösen sei durch eine Geschichte des Materiellen).

Sich an dieser Diskussion hier zu beteiligen, das ist ein Fall von top-down causation - ich hoffe ich schaffe es im Laufe des Tages die entsprechenden Stellen noch einmal zu zitieren, soweit ich mich entsinne geht es dabei wortwörtlichen darum, Ideen zu Papier zu bringen*.

Wenn dieser simple Alltags-Gedanke wahr ist, dann ist der Physikalismus falsch. Dann müssen wir die Idee, das Geist und Bewusstsein einer Art Epiphänomen sind, beiseite legen. Und alle Versuche, das Phänomen Mensch zu erfassen, die genau das, was für das Menschsein essentiell ist, aus dem Bild streichen wollen, dürfen dann ad acta gelegt werden.


*In dem Interview schaut Ellis sich um und weist darauf, dass nach gerade alles in der Umgebung nach diesem Muster zu beurteilen ist, vielleicht abgesehen von den Bäumen. Aber auch da wäre ich nicht sicher, weil Bäume wahrscheinlich heute oftmals auch Kulturprodukte sind.




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Mi 19. Mai 2021, 06:48

Eine kleine Randbemerkung: es geht in dem Interview schließlich um "starke Emergenz"! Der Begriff ist nach meinem Verständnis auch ein Zeichen dafür, dass vereinfachte metaphysische Argumentationen ins Leere laufen und nach neuen Lösungen gesucht wird.




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Mi 19. Mai 2021, 07:25

Es gibt noch einen anderen Punkt, der mir sehr wichtig erscheint. Es gibt gewisse philosophische Positionen, die sich gegen Einwände immunisieren, indem sie glauben, sie hätten die Aufklärung und die naturwissenschaftliche Sicht der Dinge auf ihrer Seite. Sie sind (nach eigener Einschätzung) im Denken vorne. Für die "andere Seite", (es gibt in diesem Bild nur zwei Seiten erstaunlicherweise) bleiben dann nur Unaufgeklärtheit, Aberglaube & Religion übrig. Die andere Seite ist im Denken natürlich hinten.

Nun ist es aber so, dass gerade der Blick auf die Naturwissenschaften zeigt, dass der Käse noch lange nicht gerollt ist. (Und der Ausdruck "starke Emergenz" ist nach meinem Gefühl auch eine Reaktion darauf.) Denn es gibt unzweifelhafte Realitäten, die sich hartnäckig nicht in das einfache metaphysische Bild integrieren lassen: “Intentionen, Qualia und Inferenzen, menschliches Handeln [...] und die objektiven logischen Relationen sprechen gegen die Plausibilität des zeitgenössischen physikalischen Naturalismus.” (schreibt der Philosoph Julian Nida-Rümelin, er studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft, sollte also wenigstens so ein bisschen wissen, wovon er spricht.)

Unabhängig davon, ob man Ellis (et.al.) letztlich beipflichten möchte, sollte man doch zumindest diese Positionen einmal zur Kenntnis nehmen!




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Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 00:49
Ich bin mir nicht sicher, was sie mit Realisation meinen. Ich erläutere es mal mit meinen Worten und bin gespannt, ob ihr meint, dass es das gleiche ist oder nicht.
Du hast nun - aufgrund deiner Verhackstückungsmethode, vermute ich - das Thema gewechselt. Hast du zu Beginn nach dem gefragt, was Ellis und Kuhn meinen - und wie wir das sehen, fragst du nun - mehr oder weniger - ob Ellis richtig liegt, bzw. sagst was deine Sicht der Dinge ist. Damit hast du Alethos und meine Einwände "gegen" deine Interpretation einfach ignoriert.




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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 19. Mai 2021, 06:07
Sich an dieser Diskussion hier zu beteiligen, das ist ein Fall von top-down causation - ich hoffe ich schaffe es im Laufe des Tages die entsprechenden Stellen noch einmal zu zitieren, soweit ich mich entsinne geht es dabei wortwörtlichen darum, Ideen zu Papier zu bringen*.
Kuhn erläutert gleich zu Beginn die Idee, die seit einiger Zeit so einflussreich geworden ist: Um zu erklären, wie alles funktioniert, braucht man das Konzept der Emergenz. Das ist nicht nur ein handlicher, metaphorischer Begriff, sondern etwas Tiefes und Fundamentales ... worin ihm Ellis zustimmt, da er als einer der Hauptvertreter dieser Sicht gilt.

Bei ca. 4 Minuten, sehr frei übertragen, sagt Ellis: Wie ist es überhaupt möglich, dass jemand z.b. i+i=0 ist auf ein Stück Papier schreibt? Die Physik weiß absolut nichts davon! Was man braucht, ist die Möglichkeit, dass eine logische Argumentation entsteht, damit so etwas stattfinden kann. Diese logische Argumentation hat dann die Möglichkeit zu kontrollieren, was auf dem Stück Papier erscheint.

Vielleicht hat jemand eine bessere Übersetzung im Angebot?




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Mi 19. Mai 2021, 18:31

Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 23:42
Alethos hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 19:51
Weder die Tatsache, dass Wasser nass, noch jene, dass den Wassermolekülen die Eigenschaft des Nasseins fehlt, haben wir Menschen eingeführt.
Was bedeutet es eigentlich, dass Wasser nass ist? Dass wir es als solches empfinden? Dass Wasser einen bestimmten prozentualen Anteil gegenüber anderer Materie überschreitet, um z.B. nicht nur feucht zu sein? Zumindest den Begriff der Nässe haben wir eingeführt bzw. definiert.
Das verstehe ich nun nicht. Ein Stein ist doch nass, wenn er mit Wasser bedeckt ist oder mit Wasser benetzt wird. Warum sollten wir es sein, die den Begriff der Nässe eingeführt haben?
Ja, wir empfinden die Nässe auf unserer Haut. Es ist unabdingbar, dass es uns gibt, damit es dieses Empfinden von Nässe geben kann. Es braucht auch uns, die wir eine Nass-Erfahrung machen können, die wir dann auf den Begriff der Nassempfindung bringen. Aber dass es "Nässe" gibt, das ergibt sich aus den Flüssigkeiten (in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie Temperatur, Druck etc.)
Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 23:42
Ist Logik nicht "das vernünftige Schlussfolgern", wenn ich man den Anfang/Kern von Wikipedia nehme?
Schlussfolgern können aber nur denkende Wesen - ok, damit auch Tiere, aber darauf wolltest du sicherlich nicht hinaus.
Logik in dieser von dir beschriebenen Form ist m.E. ein Vermögen, die logischen Strukturen zu erforschen. Du beschreibst, wenn ich es richtig sehe, das vernünftige Schlussfolgern als eine Tätigkeit, die Menschen tun. Aber dieses logische Tun von Menschen begründet nur das Vermögen der Menschen, Logik anzuwenden und nicht Logik selbst als den Gegenstand des Schlussfolgerns.

Logik, in dem Sinn, wie ich den Begriff hier verwendet, ist eine "mathematische Architektur der Wirklichkeit". Vielleicht lehne ich mich da zu sehr aus dem Fenster, aber ich kann mir eine solche Wirklichkeitsverfasstheit sehr gut vorstellen. :)



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Mi 19. Mai 2021, 18:45

transfinitum hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 17:44
Dabei frage ich mich aber, woher kommt der Algorithmus und die daraus entstehenden logischen Entscheidungen? Resultieren diese aus der Idee? Da er aber zuvor sagt, dass ein Gedanke kein physikalisches Ding ist, führt er im Prinzip einen Dualismus ein.
Das war auch meiner erster Gedanke, aber bei genauerem Hinsehen musste ich diesen revidieren :)

Wenn Logik "Realisation" ist (nach seinem Vorschlag), und Emergenz die Tatsache beschreibt, dass aus "Vielen etwas Neues entsteht" (um es einmal sehr vereinfacht zu sagen), dann sagt er ja nicht, dass es nur Logik und Materie gibt, sondern dass es Realisiertes gibt, das sich nach Regeln (Logik) realisiert. Wenn er zudem von mehreren "Ebenen" spricht, die nicht kausal miteinander verbunden sind, sondern durch Emergenz, dann sagt er im Grunde doch, dass sehr vieles (alles) real durch sich selbst ist, d.h. dass alles, was real ist, spezifisch dasjenige ist, was sich nach seiner Logik als das, was es ist, verwirklicht.

Wenn Wasser nicht aus Wassermolekülen entsteht, sondern emergiert aus ersteren als etwas anderes, dann gibt es da die "Wirklichkeit des Wassers" und dort die "Wirklichkeit der Moleküle", die sich beide nicht kausal aufeinander beziehen (sondern nur logisch). Die Wirklichkeit des Gedankens, anders gesagt, den ich hier denke, ist eine andere Wirklichkeit als diejenige der Neuronen, dank denen ich diesen Gedanken haben kann, aber beide Wirklichkeiten folgen der Logik ihres jeweiligen Seins (darum gibt es nur Realität, nämlich die, in der alles durch Realisation realisiert ist). Aber dasjenige, was real ist, ist ganz vielfältig dadurch, dass es als das und das ermergiert (Wasser, Moleküle, Gedanken, Wörter, Begriffe, usw.) emergiert.

Er begründet also vielmehr einen Pluralismus, was so viel heisst, dass jedes emergierende Phänomen andersartig ist gegenüber den Dingen, aus denen es emergiert (und nicht auf diese zurückgeführt werden kann)



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Mi 19. Mai 2021, 19:04

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 19. Mai 2021, 15:36
Vielleicht hat jemand eine bessere Übersetzung im Angebot?
Nein, nur eine andere:

Die Behauptung ist, dass durch einige der von Ihnen angedeuteten Prozesse, von denen viele nicht physikalisch sind, Gehirne entstehen, die in der Lage sind, eine logische Argumentation als Argumentation auf der psychologischen Ebene durchzuführen.

Und diese Argumentation ist es, die dazu führt, dass z. B. e hoch πi +1 = 0 auf ein Blatt Papier geschrieben wird. Die Physik weiß davon überhaupt nichts. Man muss die Entstehung der Möglichkeit einer logischen Argumentation haben, damit sie stattfinden kann. Diese logische Argumentation hat dann die Möglichkeit, zu steuern, was auf einem Stück Papier erscheint.



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Mi 19. Mai 2021, 20:10

Alethos hat geschrieben :
Mi 19. Mai 2021, 18:31
Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 23:42
Alethos hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 19:51
Weder die Tatsache, dass Wasser nass, noch jene, dass den Wassermolekülen die Eigenschaft des Nasseins fehlt, haben wir Menschen eingeführt.
Was bedeutet es eigentlich, dass Wasser nass ist? Dass wir es als solches empfinden? Dass Wasser einen bestimmten prozentualen Anteil gegenüber anderer Materie überschreitet, um z.B. nicht nur feucht zu sein? Zumindest den Begriff der Nässe haben wir eingeführt bzw. definiert.
Das verstehe ich nun nicht. Ein Stein ist doch nass, wenn er mit Wasser bedeckt ist oder mit Wasser benetzt wird. Warum sollten wir es sein, die den Begriff der Nässe eingeführt haben?
Wer denn sonst, wenn nicht wir? Der Stein? Das Wasser?
Übrigens kann ein benetzter Stein auch nur feucht und muss nicht nass sein, unsere subjektive Grenze ist natürlich fließend.
Aber dass es "Nässe" gibt, das ergibt sich aus den Flüssigkeiten (in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie Temperatur, Druck etc.)
Was heißt denn "sich ergeben"? Wer hat es denn festgelegt, wenn nicht wir?
Burkart hat geschrieben :
Di 18. Mai 2021, 23:42
Ist Logik nicht "das vernünftige Schlussfolgern", wenn ich man den Anfang/Kern von Wikipedia nehme?
Schlussfolgern können aber nur denkende Wesen - ok, damit auch Tiere, aber darauf wolltest du sicherlich nicht hinaus.
Logik in dieser von dir beschriebenen Form ist m.E. ein Vermögen, die logischen Strukturen zu erforschen.
Welche logischen Stukturen denn? Nenn mir bitte mal ein Beispiel.
Du beschreibst, wenn ich es richtig sehe, das vernünftige Schlussfolgern als eine Tätigkeit, die Menschen tun.
Ich beziehe mich auf wikipedia mit "Mit Logik wird im Allgemeinen das vernünftige Schlussfolgern und im Besonderen dessen Lehre – die Schlussfolgerungslehre oder auch Denklehre – bezeichnet." Passt dies für dich nicht auf meine Beschreibung? Falls nicht, inwiefern?
Aber dieses logische Tun von Menschen begründet nur das Vermögen der Menschen, Logik anzuwenden und nicht Logik selbst als den Gegenstand des Schlussfolgerns.

Logik, in dem Sinn, wie ich den Begriff hier verwendet, ist eine "mathematische Architektur der Wirklichkeit". Vielleicht lehne ich mich da zu sehr aus dem Fenster, aber ich kann mir eine solche Wirklichkeitsverfasstheit sehr gut vorstellen. :)
Ich kann nicht behaupten dich genau verstanden zu haben. Mathematik ist immer nur eine Abstraktion, hat keinen direkten Bezug zur Wirklichkeit, so dass "mathematische Architektur der Wirklichkeit" keinen wirklichen Sinn macht, weil es die unterschiedlichen Ebenen der Abstraktion und die der Wirklichkeit vermischt.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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