Emergenz

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Jörn Budesheim
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So 18. Sep 2022, 07:16

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 16:08
eine Pluralität der Ebenen
sybok hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 21:00
Das ist womöglich auch ein Problem, man ist gefühlt schnell bei Religion und Esoterik ...
Die Beispiele aus dem Video selbst:
Elektron und Rad
Quantenwelt und klassische Welt
Physik, Chemie, Biologie

Nicht gerade Dinge, die man traditionell mit Religion und Esoterik in Verbindung bringt.
sybok hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 21:00
Gibt es nicht von Nikola Tesla angeblich ein berühmtes Zitat in diese Richtung, sinngemäss sowas wie: "Wenn die Menschheit beginnt, die Naturwissenschaft im Hinblick auf Immaterielles zu öffnen, dann wird sie in 10 Jahren den Fortschritt erzielen, den sie zuvor in Jahrhunderten gemacht hat." Ginge in die Richtung, oder?
Nikola Tesla kenne ich leider nicht, von daher habe ich auch keine Vorstellung, was er sich unter Immateriellem vorstellt. Ab dem Moment, wo in den Interview über Emergenz gesprochen wurde, wurde eigentlich auch nicht mehr über Immaterielles gesprochen, wenn ich mich recht entsinne. Zudem gibt es vieles immaterielles, was sicherlich nicht generell etwas mit Religion zu tun hat: Zahlen, Logik und Information, um nur drei Beispiele zu geben. Apropos Religion, ich bin - um noch einmal den Ausdruck von Max Weber zu verwenden - religiös völlig unmusikalisch.
sybok hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 21:00
Ich glaube Wissenschaft ohne Philosophie ist prinzipiell gar nicht möglich.
Das ist meines Erachtens ohne jede Frage richtig. Und das gilt, für vieles was die Philosophie macht, sicherlich auch umgekehrt. Deswegen finde ich auch den Begriff Emergenz so spannend, weil er offensichtlich in den Naturwissenschaften selbst eine große Rolle spielt, wie immer die Diskussion darüber "ausgehen wird".

Da es in dem Video auch um top-down-causation ging, hier noch ein Link von der typisch esoterischen Plattform spektrum.de, den ich früher hier schon mal gepostet habe:
Spektrum.de hat geschrieben : Ist die Realität mehr als die Summe ihrer Teile?

Einer neuen mathematischen Theorie zufolge könnten Lebewesen mit Bewusstsein und viele andere makroskopische Systeme die Zukunft stärker beeinflussen als all ihre mikroskopischen Bausteine zusammen.

...

"Makroskopische Zustände wie Leidenschaften oder Überzeugungen sind nicht nur sprachliche Hilfsmittel, die die echten [mikroskopischen] Ursachen zusammenfassend beschreiben. Makroskopische Zustände sind selbst echte Ursachen."

https://www.spektrum.de/news/emergente- ... le/1534295




Burkart
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So 18. Sep 2022, 08:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 16:08
sybok hat geschrieben :
Do 15. Sep 2022, 23:26
Sehr spannend
Finde ich auch. Interessant ist für mich vor allem der Punkt, dass Clayton Emergenz nicht prinzipiell mit Unvorhersehbarkeit in Verbindung bringt. Das ist ein neuer Aspekt, wie ich finde.
Damit wird für mich der Emergenz-Begriff erst akzeptabel, die Unvorhersehbarkeit war mir schon immer etwas suspekt.
Sicher, es gibt Unvorhersehbarkeit auf einer bestimmten Ebene: Ein Münzwurf wird nun mal praktisch zufällig Kopf oder Zahl anzeigen, auf dieser Ebene ist Kopf oder Zahl aus Komplexitätsgründen praktisch nicht berechenbar. Das heißt aber nicht, dass man es nicht prinzipiell könnte, wenn alle physikalischen Faktoren bekannt wären - nur wird man sich wohl kaum die Mühe dazu machen i.a.
sybok hat geschrieben :
Do 15. Sep 2022, 23:26
Ich könnte mir sehr, sehr gut vorstellen, dass Sichtweisen die in Richtung wie die im Video präsentierte gehen, die allfällig nächste Revolution des menschlichen Erkennungsprozesses initiieren könnten. :)
Genau das denke ich auch. Wobei ich glaube, dass diese Entwicklung schon im Gang ist. Dabei denke ich, dass metaphysische Positionen, wie der Reduktionismus zunehmend verabschiedet werden und Positionen Platz machen, die verschiedene ontologische Ebenen zulassen bzw die Buntheit und Vielfältigkeit der Welt akzeptieren.
Vielleicht ist der entscheidende Punkt einfach der anzuerkennen, dass man aus Komplexitätsgründen eine höhere Ebene praktisch nicht mehr vollständig auf Basis der niedrigeren erklären können muss.

Deshalb sehe ich auch "das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" so:
Das Ganze beschreibt auf seiner Ebene etwas sinnvoll, was ansonsten aufgrund der Komplexität des Zusammenspiels seiner Teile und deren Beziehungen nicht mehr hinreichend durchschaut werden kann.
Clayton hat geschrieben : ... nichts, was der Löwe macht, verstößt gegen die Gesetze der Physik ...
Das scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein. Wenn Emergentismus - gleich welcher - richtig ist, dann ist der Physikalismus falsch. Aber das heißt nicht, dass der Emergentismus darauf festgelegt ist, zu behaupten oder zu implizieren, dass die Gesetze der Physik "verletzt" werden müssen oder in Frage gestellt sind, damit es eine Pluralität der Ebenen geben kann.
Der Physikalismus sagt, dass alles was existiert, physisch sei. Ich halte nicht unbedingt den Physikalismus für das Problem, sondern unser Verständnis, was wir als "existieren" bezeichnen. Auf der Ebene der Physik, also das "physische Existieren" mag ja "alles" in diesem Sinne existieren, nur gibt es halt auch "geistiges Existieren", also etwas das mit höheren, geistigen Begriffen beschrieben wird - es ist halt eine andere Denk-/Begriff-/sprachliche Ebene, die mit der physischen z.T. nicht mehr viel zu tun hat bzw. nur noch indirekt.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Körper
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So 18. Sep 2022, 09:16

Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 08:42
Auf der Ebene der Physik, also das "physische Existieren" mag ja "alles" in diesem Sinne existieren, nur gibt es halt auch "geistiges Existieren", also etwas das mit höheren, geistigen Begriffen beschrieben wird - es ist halt eine andere Denk-/Begriff-/sprachliche Ebene, die mit der physischen z.T. nicht mehr viel zu tun hat bzw. nur noch indirekt.
"geistiges Existieren" ist nur "für existent halten".

Das, was du mit "physisches Existieren" und "geistiges Existieren" trennen möchtest, ist die Wahrnehmungskomponente.

Bei "physischem Existieren" kommt es nicht darauf an, wie ein Beobachter darauf reagiert (-> wahrnehmungsunabhängig).
Bei "geistigem Existieren" ("für existent halten") geht es nicht ohne Beobachterreaktion (-> wahrnehmungsabhängig).

Bei Emergenz soll exakt diese Trennung aufgehoben werden.

Bereits der Begriff "Ebene" ist doch eigentlich sehr verräterisch, denn es existieren nirgendwo Ebenen.
Es handelt sich lediglich um Beobachtungszusammenstellungen.
Diese "Ebenen" sind wahrnehmungsabhängig und gehören damit maximal nur zu "für existent halten".




Burkart
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So 18. Sep 2022, 09:40

Körper hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:16
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 08:42
Auf der Ebene der Physik, also das "physische Existieren" mag ja "alles" in diesem Sinne existieren, nur gibt es halt auch "geistiges Existieren", also etwas das mit höheren, geistigen Begriffen beschrieben wird - es ist halt eine andere Denk-/Begriff-/sprachliche Ebene, die mit der physischen z.T. nicht mehr viel zu tun hat bzw. nur noch indirekt.
"geistiges Existieren" ist nur "für existent halten".
Oder auch "als existent anerkennen/akzeptieren".
Das, was du mit "physisches Existieren" und "geistiges Existieren" trennen möchtest, ist die Wahrnehmungskomponente.
Ich sehe auch die begriffliche Komponente. Wenn wir z.B. über Bewusstsein oder Politik sprechen, sind es vor allem unsere Ideen zu den Begriffen, nicht direkte Wahrnehmung.
Bei "physischem Existieren" kommt es nicht darauf an, wie ein Beobachter darauf reagiert (-> wahrnehmungsunabhängig).
Bei "geistigem Existieren" ("für existent halten") geht es nicht ohne Beobachterreaktion (-> wahrnehmungsabhängig).
Das stimmt schon, aber wie oben gesagt, geht es in Begriffen abstrakt(er) weiter.
Bei Emergenz soll exakt diese Trennung aufgehoben werden.

Bereits der Begriff "Ebene" ist doch eigentlich sehr verräterisch, denn es existieren nirgendwo Ebenen.
Es handelt sich lediglich um Beobachtungszusammenstellungen.
Diese "Ebenen" sind wahrnehmungsabhängig und gehören damit maximal nur zu "für existent halten".
Ebenen sind halt begriffliche Konstrukte, um uns etwas besser vorstellen und ggf. darüber sprechen zu können.
Das Ergebnis eines Münzwurfs mag theoretisch physikalisch noch berechenbar sein, praktisch ist er das i.a. nicht. Damit existiert auf der Ebene des Münzwurf der Zufall, auf der theoretisch berechenbaren des Münzflugs noch nicht.



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Körper
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Registriert: Fr 18. Feb 2022, 20:14

So 18. Sep 2022, 10:17

Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Ich sehe auch die begriffliche Komponente. Wenn wir z.B. über Bewusstsein oder Politik sprechen, sind es vor allem unsere Ideen zu den Begriffen, nicht direkte Wahrnehmung.
Wahrnehmung verwende ich als Oberbegriff für das "gesamte Mentale". Da gehören "Begriffe", "Ideen", "Bewusstsein", "Denken" mit dazu.
Als Begriff ist "Wahrnehmung" aber frei von diesem Phänomenalüberbau.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Das stimmt schon, aber wie oben gesagt, geht es in Begriffen abstrakt(er) weiter.
"Begriffe" gehören zur Wahrnehmung und sind damit wahrnehmungsabhängig.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Ebenen sind halt begriffliche Konstrukte, um uns etwas besser vorstellen und ggf. darüber sprechen zu können.
Ja, wahrnehmungsabhängig.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Das Ergebnis eines Münzwurfs mag theoretisch physikalisch noch berechenbar sein, praktisch ist er das i.a. nicht. Damit existiert auf der Ebene des Münzwurf der Zufall
Dein obiges "nicht mehr berechenbar" ist die Abteilung "Wahrnehmung", mehr nicht.

Auf einer anderen "Ebene" ist ein Mensch Besitzer des Lange-Haare-Habens.
Auf dieser Ebene existiert somit das Lange-Haare-Haben - "oha, ein Phänomen".
Da der Mensch ja irgendwann zum Friseur geht, ist das Lange-Haare-Haben also eine eigenständige neue Existenz, die auf den Menschen einwirkt - "Emergenz ist schon super".

Wahrnehmung ist eine Aufgabenstellung, bei der nicht alle Details zur Verfügung stehen, es aber dennoch zu einer sinnvollen Reaktion kommen muss.
Aus diesem Prinzip ein Existenzprinzip abzuleiten, geht zu weit - aber genau das wird bei Emergenz versucht.




Burkart
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So 18. Sep 2022, 10:52

Körper hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:17
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Ich sehe auch die begriffliche Komponente. Wenn wir z.B. über Bewusstsein oder Politik sprechen, sind es vor allem unsere Ideen zu den Begriffen, nicht direkte Wahrnehmung.
Wahrnehmung verwende ich als Oberbegriff für das "gesamte Mentale". Da gehören "Begriffe", "Ideen", "Bewusstsein", "Denken" mit dazu.
Als Begriff ist "Wahrnehmung" aber frei von diesem Phänomenalüberbau.
Hm, dann lass uns möglichst mit allgemein verständlichen Begriffen sprechen. Ich weiß, das fällt nicht immer leicht, z.B. bei "KI", aber sonst werden leicht Dinge unklar.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Das stimmt schon, aber wie oben gesagt, geht es in Begriffen abstrakt(er) weiter.
"Begriffe" gehören zur Wahrnehmung und sind damit wahrnehmungsabhängig.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Ebenen sind halt begriffliche Konstrukte, um uns etwas besser vorstellen und ggf. darüber sprechen zu können.
Ja, wahrnehmungsabhängig.
Das Problem bei deinem Begriff ist, dass man nicht weiß, ob es um akuelle Wahrnehmungen geht oder nur um solche, die irgendwann mal eine Rolle gespielt haben, z.B. zur Begriffsbildung.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 09:40
Das Ergebnis eines Münzwurfs mag theoretisch physikalisch noch berechenbar sein, praktisch ist er das i.a. nicht. Damit existiert auf der Ebene des Münzwurf der Zufall
Dein obiges "nicht mehr berechenbar" ist die Abteilung "Wahrnehmung", mehr nicht.
Als konkrete Wahrnehmung hast du recht. Aber kann halt auch über die Idee (Begriff) des Münzwurfs sprechen, der sogar ganz abstrakt von einem realen Münzwurf sein kann, z.B. wenn man der Münze realitätsfern drei gleichwertige Seiten andichtet, somit schon von einer 1/3-Wahrscheinlichkeit für die drei fiktiven Seiten sprechen kann.
Auf einer anderen "Ebene" ist ein Mensch Besitzer des Lange-Haare-Habens.
Auf dieser Ebene existiert somit das Lange-Haare-Haben - "oha, ein Phänomen".
Da der Mensch ja irgendwann zum Friseur geht, ist das Lange-Haare-Haben also eine eigenständige neue Existenz, die auf den Menschen einwirkt - "Emergenz ist schon super".
Na ja, beliebige viele Ebenen zu bauen macht natürlich kein Sinn, das würde schon alleine zu konfus. Deshalb nennen wir es gerne einfach "Phänomen" :)
Wahrnehmung ist eine Aufgabenstellung, bei der nicht alle Details zur Verfügung stehen, es aber dennoch zu einer sinnvollen Reaktion kommen muss.
Aus diesem Prinzip ein Existenzprinzip abzuleiten, geht zu weit - aber genau das wird bei Emergenz versucht.
Das Problem ist halt der Begriff der "Existenz". Man kann ja auch über die Existenz von Gott diskutieren, sicher eine ganz andere Existenz als die physi(kali)sche.

Wie früher schon geschrieben: Wenn es uns individuell oder zur Kommunikation hilft, gedankliche Ebenen einzubauen, um etwas genauer zu verstehen (was für mich halt die Emergenz ist), warum nicht. Damit glaube ich z.B. noch lange nicht an einen Geist-Körper-Dualismus oder gar an Gott.



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Körper
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Registriert: Fr 18. Feb 2022, 20:14

So 18. Sep 2022, 12:24

Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Hm, dann lass uns möglichst mit allgemein verständlichen Begriffen sprechen. Ich weiß, das fällt nicht immer leicht, z.B. bei "KI", aber sonst werden leicht Dinge unklar.
Ist dir aufgefallen, dass du keinen Alternativbegriff genannt hast?

Sieh es einfach vom Körper ausgehend: alles was hier im Nervensystem abläuft, ist Abteilung "Wahrnehmung".

Eine Aufteilung à la "Aussenweltkontakt" und "Abstraktes Denken" ist eine Erfindung, die auf reiner Unkenntnis beruht.
Im Nervensystem gibt es diese Aufteilung nicht.

Auch der 1mm grosse Wurm hat ein Nervensystem und führt damit Wahrnehmung durch.

Wenn man den Menschen evolutionär aus einfachen Organismen heraus entstehen lässt, ist das, was man den einfachen Organismen zugesteht ("Wahrnehmung") auch der Oberbegriff für den Menschen.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Das Problem bei deinem Begriff ist, dass man nicht weiß, ob es um akuelle Wahrnehmungen geht oder nur um solche, die irgendwann mal eine Rolle gespielt haben, z.B. zur Begriffsbildung.
Eigentlich ist es ganz einfach: ich mache die Körper/Geist-Spinnerei nicht mit.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Aber kann halt auch über die Idee (Begriff) des Münzwurfs sprechen, der sogar ganz abstrakt von einem realen Münzwurf sein kann, z.B. wenn man der Münze realitätsfern drei gleichwertige Seiten andichtet, somit schon von einer 1/3-Wahrscheinlichkeit für die drei fiktiven Seiten sprechen kann.
Man jongliert hier lediglich mit Zusammenhängen - das ist Wahrnehmung.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Na ja, beliebige viele Ebenen zu bauen macht natürlich kein Sinn, das würde schon alleine zu konfus. Deshalb nennen wir es gerne einfach "Phänomen" :)
Oh, wir beide sind uns sicher, dass ein "Heidegger" und ein "Hegel" nichts anderes, als diesen Unfug gemachten hätten (und wie weit die anderen Spitzenmodelle der Philosophie davon entfernt sind, muss sich erst im Einzelfall zeigen).

Mit deiner Aussage hast du nun natürlich das Problem, dass du eine Abgrenzung, also ein Kriterium, für "sinnvolle Ebenen" angeben musst.
Ob dieses Kriterium dann auch die Abgrenzung für die, aus der Emergenz-Begeisterung heraus getroffenen Existenz-Behauptungen sein kann, ist nicht sicher - vielleicht benötigen wir dann nochmal ein Kriterium.

Mein Kriterium ist jedenfalls "wahrnehmungsabhängig/wahrnehmungsunabhängig" und die Emergenz-Ebenen sind nicht wahrnehmungsunabhängig.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Das Problem ist halt der Begriff der "Existenz". Man kann ja auch über die Existenz von Gott diskutieren, sicher eine ganz andere Existenz als die physi(kali)sche.
Wenn ich einem Gläubigen wirklich viel zugestehe, dann ist "Gott" ein "für existent halten", aber in der Regel ist "Gott" einfach nur ein Rollenspiel, das der Gläubige für sich entwirft und eine Gegenseite kommt dort gar nicht so richtig vor.

Dein oben angesprochenes Abgrenzen von der "physikalischen Ebene" ist lediglich die Nicht-XXXX-Strategie, d.h. man gibt nur an, wo man nicht suchen würde, mehr nicht.
Das ist das Motto: "Hauptsache ich habe etwas gesagt"
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Wie früher schon geschrieben: Wenn es uns individuell oder zur Kommunikation hilft, gedankliche Ebenen einzubauen, um etwas genauer zu verstehen (was für mich halt die Emergenz ist), warum nicht. Damit glaube ich z.B. noch lange nicht an einen Geist-Körper-Dualismus oder gar an Gott.
Dafür ist "Emergenz" aber doch ein fatal falscher Begriff, weil er für eine unsinnige Objekt-Existenz-Behauptung steht.

Hier ist wieder die "Paradoxie des Haufens" relevant.
Der "Haufen" taucht ("emergiert") doch nicht auf, sondern der Beobachter ist nicht in der Lage oder will nicht die Details aufschlüsseln und nachvollziehen.
Der "Haufen" ist vollständig wahrnehmungsabhängig, aber die Philosophen wollen ihn als wahrnehmungsunabhängig behaupten und stehen prompt vor einem Existenz-Rätsel, denn "ab welcher Teilekonstellation ist es denn ein Haufen?".

Exakt dieses Problem hat man immer bei Emergenz, denn hier soll eine Wahrnehmungsabhängigkeit als Wahrnehmungsunabhängigkeit behandelt und als Existenz ausgerufen werden.
Weder der "Haufen" noch das "Lange-Haare-Haben" sind Existenzen.




Nauplios
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So 18. Sep 2022, 13:14

sybok hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 21:00
Nauplios hat geschrieben :
Sa 17. Sep 2022, 20:19
Doch scheint der Gedanke inzwischen vermessen, daß die Philosophie es wert sein könnte, ihrerseits "bedient" zu werden.
Die Philosophie hält sich meinem Empfinden aber auch - mag der Disziplin innewohnenden Weisheit geschuldet sein ;) - selber zurück, stellt ihr Licht unter den Scheffel. Vielleicht ist sie auch irgendwo entrückt? Ich glaube Wissenschaft ohne Philosophie ist prinzipiell gar nicht möglich.
Aus meiner Zeit der religiös-musikalischen Früherziehung ist mir das Gleichnis Jesu' vom Licht, das man nicht unter einen Scheffel stellt, aus der Bergpredigt (Matth. 5,14) natürlich ebenso bekannt wie die frühjüdische Vorstellung einer Entrückung, deren Prototyp die biblisch belegte Entrückung Henochs (Gen. 5,24) ist. Die Septuaginta übersetzt den eigentlichen Vorgang der Entrückung mit λαμβάνω und Komposita, was so viel wie "annehmen, aufnehmen" bedeutet oder auch mit μεθίστημι im Sinne von "versetzen". Versetzen auf eine höhere Ebene, aufnehmen auf diese Ebene, was mit einem Entschwinden (ἁρπάζω) von einer tieferen Ebene verbunden ist - also ein emergentes Geschehen, das sich theologisch gelegentlich als Epiphanie des Entrückten beobachten läßt. Ich vermute, daß Du auf mit der Entrückung der Philosophie auf diese Zusammenhänge anspielst, Sybok. ;-)

Nein, das vermute ich natürlich nicht. Von einer "Hintergrundphilosophie" hattest Du geschrieben; versteht man das sowohl als eine Philosophie des Hintergrunds als auch als eine im Hintergrund wirkende Philosophie, dann wäre ein Betätigungsfeld dieser Philosophie die Begriffsgeschichte und die Geschichte von Mythen, Fabeln, Erzählungen, Gleichnissen, Bildern, Metaphern ... also Sprachformen der Unbegrifflichkeit. Darüber ließe sich die Diskussion über Künstliche Intelligenz, über Emergenz, über Technik, über Menschenbilder, über Weltbilder, über das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie ... anreichern und das wäre dann auch mehr bloße Wissenschaftstheorie, mehr als bloße Indienstnahme der Philosophie durch die Wissenschaft, mehr als bloße Orchestrierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Dazu allerdings wäre die Reduktion der Sprache auf ihre Funktion als Kommunikation ermöglichendes Zeichensystem zu überdenken und ihre expressive Funktion in den Vordergrund zu rücken, d.h. der Philosophie die Souveränität über ihre Ausdrucksformen zu belassen.




Burkart
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So 18. Sep 2022, 13:38

Körper hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 12:24
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Hm, dann lass uns möglichst mit allgemein verständlichen Begriffen sprechen. Ich weiß, das fällt nicht immer leicht, z.B. bei "KI", aber sonst werden leicht Dinge unklar.
Ist dir aufgefallen, dass du keinen Alternativbegriff genannt hast?
Vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber ich spreche z.B. von "Begriffen", wenn es um etwas geht, dass in unseren Köpfen ist.
Sieh es einfach vom Körper ausgehend: alles was hier im Nervensystem abläuft, ist Abteilung "Wahrnehmung".
Das ist mir zu undifferenziert. Zum einen geht es mal um Weiterverarbeitung von Sinnesdaten, mal um eigene Gefühle, mal ums (abstraktere) Gedanken.
Eine Aufteilung à la "Aussenweltkontakt" und "Abstraktes Denken" ist eine Erfindung, die auf reiner Unkenntnis beruht.
Im Nervensystem gibt es diese Aufteilung nicht.
Aber es gibt sie in unserem Denken, worüber wir sprechen u.ä., wieder in unseren Begriffen...
Auch der 1mm grosse Wurm hat ein Nervensystem und führt damit Wahrnehmung durch.

Wenn man den Menschen evolutionär aus einfachen Organismen heraus entstehen lässt, ist das, was man den einfachen Organismen zugesteht ("Wahrnehmung") auch der Oberbegriff für den Menschen.
Grundsätzlich einverstanden. Trotzdem haben Menschen natürlich komplexere Wahrnehmungen u.ä., die man z.T. mehr als "Bewusstsein", "Intelligenz" u.ä. ansieht/bezeichnet.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Das Problem bei deinem Begriff ist, dass man nicht weiß, ob es um akuelle Wahrnehmungen geht oder nur um solche, die irgendwann mal eine Rolle gespielt haben, z.B. zur Begriffsbildung.
Eigentlich ist es ganz einfach: ich mache die Körper/Geist-Spinnerei nicht mit.
Wie gesagt, ich bin auch gegen den Dualismus. Nur musst man ja irgendwie mit Leuten sprechen können, die für ihn sind, und es ist deshalb sinnvoll, ihr Modell wenigstens zu verstehen, wenn man es dann auch kritisieren kann.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Aber kann halt auch über die Idee (Begriff) des Münzwurfs sprechen, der sogar ganz abstrakt von einem realen Münzwurf sein kann, z.B. wenn man der Münze realitätsfern drei gleichwertige Seiten andichtet, somit schon von einer 1/3-Wahrscheinlichkeit für die drei fiktiven Seiten sprechen kann.
Man jongliert hier lediglich mit Zusammenhängen - das ist Wahrnehmung.
Das ist für mich "Denken".
Mal schauen, was Wikipedia sagt:
"Wahrnehmung (auch Perzeption genannt) ist bei Lebewesen der Prozess und das subjektive Ergebnis der Informationsgewinnung (Rezeption) und -verarbeitung von Reizen aus der Umwelt und aus dem Körperinneren".
Es geht also um Reize, nicht um Denkprozesse bei Wahrnehmung.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Na ja, beliebige viele Ebenen zu bauen macht natürlich kein Sinn, das würde schon alleine zu konfus. Deshalb nennen wir es gerne einfach "Phänomen" :)
Oh, wir beide sind uns sicher, dass ein "Heidegger" und ein "Hegel" nichts anderes, als diesen Unfug gemachten hätten (und wie weit die anderen Spitzenmodelle der Philosophie davon entfernt sind, muss sich erst im Einzelfall zeigen).

Mit deiner Aussage hast du nun natürlich das Problem, dass du eine Abgrenzung, also ein Kriterium, für "sinnvolle Ebenen" angeben musst.
Ob dieses Kriterium dann auch die Abgrenzung für die, aus der Emergenz-Begeisterung heraus getroffenen Existenz-Behauptungen sein kann, ist nicht sicher - vielleicht benötigen wir dann nochmal ein Kriterium.

Mein Kriterium ist jedenfalls "wahrnehmungsabhängig/wahrnehmungsunabhängig" und die Emergenz-Ebenen sind nicht wahrnehmungsunabhängig.
Ich sehe die Ebenen nicht zu starr, sondern ggf. bei Bedarf in unserer Kommunikation "einziehbar".
Wichtig ist ggf. eine Ebene dann, wenn ihre niedrige und höhere Begrifflichkeiten nicht mehr zueinander passen, wie "Physik" und "Bewusstsein", zwischen die ich dann "Materie-Geist-Problem" stelle.
Auch mein Münzbeispiel ist für mich typisch: Physisch mag die Münze deterministisch rotieren und auf einer Seite zu landen; uns interessiert aber meist nur (die Ebene des bzw.) der Zufall, der sich mit Kopf oder Zahl ergibt.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Das Problem ist halt der Begriff der "Existenz". Man kann ja auch über die Existenz von Gott diskutieren, sicher eine ganz andere Existenz als die physi(kali)sche.
Wenn ich einem Gläubigen wirklich viel zugestehe, dann ist "Gott" ein "für existent halten", aber in der Regel ist "Gott" einfach nur ein Rollenspiel, das der Gläubige für sich entwirft und eine Gegenseite kommt dort gar nicht so richtig vor.

Dein oben angesprochenes Abgrenzen von der "physikalischen Ebene" ist lediglich die Nicht-XXXX-Strategie, d.h. man gibt nur an, wo man nicht suchen würde, mehr nicht.
Das ist das Motto: "Hauptsache ich habe etwas gesagt"
Ok, bei Gott kann man das so sehen. Wie ist aber mit "Bewusstsein"? Dass es das irgendwie gibt, dem wird man doch i.a. zustimmen, oder? Das, was uns gerade hinsichtlich KI fehlt, ist natürlich, was darunter genau(er) zu verstehen ist.
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 10:52
Wie früher schon geschrieben: Wenn es uns individuell oder zur Kommunikation hilft, gedankliche Ebenen einzubauen, um etwas genauer zu verstehen (was für mich halt die Emergenz ist), warum nicht. Damit glaube ich z.B. noch lange nicht an einen Geist-Körper-Dualismus oder gar an Gott.
Dafür ist "Emergenz" aber doch ein fatal falscher Begriff, weil er für eine unsinnige Objekt-Existenz-Behauptung steht.
[/quote]
Ob es einen besseren Begriff als "Emergenz" hierfür gibt, mag sein; bisher konnte ich mit Begriff sowieso nicht viel anfangen und habe ihn nur für mich irgendwie in meinem Denken mit möglichen Ebenen angenommen.
Hier ist wieder die "Paradoxie des Haufens" relevant.
Der "Haufen" taucht ("emergiert") doch nicht auf, sondern der Beobachter ist nicht in der Lage oder will nicht die Details aufschlüsseln und nachvollziehen.
Der "Haufen" ist vollständig wahrnehmungsabhängig, aber die Philosophen wollen ihn als wahrnehmungsunabhängig behaupten und stehen prompt vor einem Existenz-Rätsel, denn "ab welcher Teilekonstellation ist es denn ein Haufen?".
Beim Haufen muss uns einfach "nur" klar sein, dass es ihn nicht mal gibt und dann mit einem Korn weniger nicht mehr.
Der Haufen ist halt begrifflich subjektiv bzw. relativ (mal sind n Körner ein Haufen, mal nicht).
Unsere Begriffe sind halt nicht immer einfach und eindeutig.
Exakt dieses Problem hat man immer bei Emergenz, denn hier soll eine Wahrnehmungsabhängigkeit als Wahrnehmungsunabhängigkeit behandelt und als Existenz ausgerufen werden.
Weder der "Haufen" noch das "Lange-Haare-Haben" sind Existenzen.
Dass Haufen und lange Haare aber existieren können, zumindest in unserem Denken, stimmt doch? Oder lässt ein Existenzbegriff dies nicht zu? Meiner schon, halt als gedankliche oder begriffliche Existenz.
Wenn Haufen und lange Haare nicht existieren, was ist das mit rosa Elefanten oder Elfen/Einhörner/o.ä.?



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Nauplios
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So 18. Sep 2022, 13:40

Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 08:42

... der Emergenz-Begriff ... mit höheren, geistigen Begriffen ... die begriffliche Komponente ... unsere Ideen zu den Begriffen ... begriffliche Konstrukte ... Begriffsbildung ... Das Problem ist halt der Begriff der "Existenz" ...
Vielleicht ist das Problem aber auch unsere Vorstellung von dem, was Begriffe leisten, wo die Grenzen der Begriffsbildung liegen, daß es Begriffe gibt, zu denen es keine Anschauungen gibt und daß das Sagbare mehr ist als das, was sich über Definitionen auf den Begriff bringen läßt.




Burkart
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So 18. Sep 2022, 14:06

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40
Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 08:42

... der Emergenz-Begriff ... mit höheren, geistigen Begriffen ... die begriffliche Komponente ... unsere Ideen zu den Begriffen ... begriffliche Konstrukte ... Begriffsbildung ... Das Problem ist halt der Begriff der "Existenz" ...
Vielleicht ist das Problem aber auch unsere Vorstellung von dem, was Begriffe leisten, wo die Grenzen der Begriffsbildung liegen,
Mag sein, der Unterschied ist für mich hier nicht erheblich.
daß es Begriffe gibt, zu denen es keine Anschauungen gibt
Keine direkten ist sicher richtig. Die Frage ist allerdings, ob wir nicht für alles irgendwelche indirekten Anschauungen haben (z.B. "Politik" -> Menschen, Entscheidungen (die zu realen Änderungen in der Welt führen) usw.).
und daß das Sagbare mehr ist als das, was sich über Definitionen auf den Begriff bringen läßt.
Hast du dafür (ein) Beispiel(e)?
Natürlich gibt es nicht für alles ein direkten Begriff, oft muss was mit mehreren Begriffen kombiniert werden und sei es einfach "rotes Auto" aus "rot" und "Auto".
Auch mögen Lautäußerungen manchmal keine direkte Begriffe sein... wenn man das den auch als Sagbares ansieht.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

Nauplios
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Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 14:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40

Vielleicht ist das Problem aber auch unsere Vorstellung von dem, was Begriffe leisten, wo die Grenzen der Begriffsbildung liegen,
Mag sein, der Unterschied ist für mich hier nicht erheblich.
Die Leistung des Begriffs liegt u.a. darin, Gegenstände (im allerweitesten Sinne, also auch Sachverhalte u.ä.) zu vergegenwärtigen, die im Moment solcher Vergegenwärtigung nicht anwesend sind. Man kann über sie sprechen, Handlungen an ihnen planen, sie klassifizieren, sie definieren ... auf Distanz. Der Begriff ermöglicht eine actio per distans, wie bei einer Falle, deren Spezifikationen am Beutetier ausgerichtet sind.

Die Funktion des Begriffs - insbesondere in wissenschaftlichen Kontexten - ist u.a. die Ermöglichung weitgehend störungsfreier Kommunikation, d.h. Begriffe sind auf Eindeutigkeit ausgerichtet. Nach cartesianischen Vorgaben sollen sie klar und deutlich sein.




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AufDerSonne
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So 18. Sep 2022, 17:08

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 16:59

Die Funktion des Begriffs - insbesondere in wissenschaftlichen Kontexten - ist u.a. die Ermöglichung weitgehend störungsfreier Kommunikation, d.h. Begriffe sind auf Eindeutigkeit ausgerichtet. Nach cartesianischen Vorgaben sollen sie klar und deutlich sein.
Hallo Nauplios.
Was würdest du sagen, wie wichtig sind Begriffe für die Philosophie?
Was ist der Unterschied zwischen einem Begriff in der Philosophie und einem genau definierten Begriff in der Mathematik?



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Nauplios
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Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 14:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40
... daß es Begriffe gibt, zu denen es keine Anschauungen gibt
Keine direkten ist sicher richtig. Die Frage ist allerdings, ob wir nicht für alles irgendwelche indirekten Anschauungen haben ...
Solche "indirekten Anschauungen" leisten beispielsweise Metaphern, sprachliche Bilder, die etwa eine Totalität ver-anschaulichen, wie etwa Welt, Geschichte, Gesellschaft usw. Metaphern, wie überhaupt alle Formen von Unbegrifflichkeit haben ein größeres Deutungsbedürfnis; sie haben keine Verpflichtung auf Eindeutigkeit, sondern gelten als mehrdeutig. Sie haben weniger diskursiven, eher expressiven Charakter, bringen etwas zum Ausdruck, was "ausgelegt" werden kann. Begriffe können präzise sein, Metaphern prägnant.




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Burkart hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 14:06
Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 13:40
... und daß das Sagbare mehr ist als das, was sich über Definitionen auf den Begriff bringen läßt.
Hast du dafür (ein) Beispiel(e)?
"Ein Greis fällte einst Holz, lud es sich auf und ging eine lange Strecke. Der Weg ermüdete ihn. Er lud seine Last ab und rief nach dem Tod. Der erschien alsbald und fragte, weshalb er ihn gerufen habe. Der Greis antwortete: Um mir die Last wieder aufzuladen."

Diese Fabel des Äsop haben wir vor einem Jahr mal hier im Forum besprochen. Natürlich kommen darin Begriffe wie Holz, Weg u.ä. vor, aber das, was die Fabel "sagen" will, was sie zum "Ausdruck" bringen will (Expressivität) ist ja etwas anderes. Wir können diese Geschichte deuten, aber diese Deutung ist nicht angewiesen auf ein festumrissene Definition von "Holz" und "Weg". Es reicht unser Vorverständnis. Auch der sprechende Tod überrascht uns eigentlich nicht; in Fabeln ist mit Allegorien zu rechnen. Das Verstehen oder vielleicht besser ein Verstehen der Fabel ist möglich, auch wenn wir nicht genau wissen, ob es Buchenholz oder Eichenholz war, was der Greis aufgeladen hatte. Auch sein Alter spielt für das Verstehen keine Rolle.

Das Sagen des Dichters ist nicht in erster Linie auf das Gelingen von Kommunikation aus (inwieweit und auf welche Weise zwischen dem Hörer/Leser und dem Autor nicht doch eine "kommunikative" Verbindung besteht, sei an dieser Stelle mal unberücksichtigt), sondern darauf, etwas "zur Sprache zu bringen". Noch deutlicher wird das beispielsweise bei der Betrachtung eines Gedichts,
L’Aprés-midi d’un faune von Mallarmé beispielsweise ...

Nun könnte man und wird man wahrscheinlich einwenden: Das ist ja auch Poesie. Ja, aber ist das philosophische Denken nicht das, was sich im aufgespannten Denkraum zwischen Begriff und seiner Hoffnung auf Eindeutigkeit und Poesie mit ihrer Tendenz zur Mehrdeutigkeit ereignet, ohne mit der Poesie zur Ununterscheidbarkeit zu verschmelzen und ohne eine Wissenschaft "wie jede andere" zu sein?




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AufDerSonne
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So 18. Sep 2022, 18:16

Meinst du nicht, der Dichter möchte schon, dass man ihn versteht? Ich meine, er will also, dass seine Kommunikation gelingt?



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AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 17:08

Hallo Nauplios.
Was würdest du sagen, wie wichtig sind Begriffe für die Philosophie?
Was ist der Unterschied zwischen einem Begriff in der Philosophie und einem genau definierten Begriff in der Mathematik?
Hallo AufDerSonne,
Begriffe sind in der Philosophie wichtig; das würde ich nicht bestreiten wollen. Die Begriffsgeschichte war ja eines der großen Themen der deutschen Nachkriegsphilosophie von Rothackers Archiv für Begriffsgeschichte bis hin zu Ritters Historisches Wörterbuch der Philosophie, einem Großprojekt, an dem mehr als 1500 Fachgelehrte mehr als drei Jahrzehnte gearbeitet haben. Also der Begriff und die Arbeit an seiner Geschichte ist selbstverständlich wichtig. - Aber ist es auch wichtig, das philosophische Denken rein auf Begriffe (idealerweise auf klare und deutliche) zu verpflichten und zu begrenzen, keine figurativen Denkformen zuzulassen? Du hattest vor einigen Tagen die Formulierung "in der Philosophie" in den Vordergrund gerückt. In der Philosophie - wie sieht es da aus mit den diversen Sprachformen? Und warum heißt es bei Wittgenstein: "Philosophie dürfte man eigentlich nur dichten." (Vermischte Bemerkungen; in: Werke; Bd. 8; S. 483)

Wollte die Philosophie nur noch "genau definierte Begriffe" zulassen, ginge der cartesianische Traum in Erfüllung. Es spricht jedoch nichts dagegen, auch Träume zuzulassen. ;)




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So 18. Sep 2022, 19:06

Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 18:54
AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 17:08

Hallo Nauplios.
Was würdest du sagen, wie wichtig sind Begriffe für die Philosophie?
Was ist der Unterschied zwischen einem Begriff in der Philosophie und einem genau definierten Begriff in der Mathematik?

Wollte die Philosophie nur noch "genau definierte Begriffe" zulassen, ginge der cartesianische Traum in Erfüllung. Es spricht jedoch nichts dagegen, auch Träume zuzulassen. ;)
Ich ging noch weiter als Descartes und dachte mir, es wäre gut, die Philosophie auf philosophischen Axiomen aufzubauen. Unter einem Axiom verstehe ich eine Aussage, die allgemein akzeptiert wird und nicht weiter begründbar ist. (Zum Beispiel. Alle Menschen wollen von Natur aus arbeiten. :) ). Aber du hast mich darauf gebracht, dass das vielleicht gar nicht gut wäre oder gar nicht geht. Ich lese ja ab und zu in der Metaphysik von Aristoteles. Ich glaube, er befasst sich dort auch mit dem Sinn von Begriffen (Definitionen). Aber wäre vielleicht eine axiomatische Philosophie als Teildisziplin denkbar?
Aber wenn die Philosophie den Anspruch hat, über den Begriffen zu stehen, was ist sie dann? So etwas wie eine Superwissenschaft? Wie kann man sie dann fassen?



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AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 18:16
Meinst du nicht, der Dichter möchte schon, dass man ihn versteht? Ich meine, er will also, dass seine Kommunikation gelingt?
Das klingt danach als habe der Dichter eine Botschaft, die er als Sender in Sprache einwickelt, um sie dann durch den Zustelldienst Schrift vom Leser als Empfänger auspacken zu lassen. Hält der Empfänger dann die Botschaft in den Händen, ist die Kommunikation "gelungen". - Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Wesen der Poesie damit erfaßt ist. ;)




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Nauplios hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 19:11
AufDerSonne hat geschrieben :
So 18. Sep 2022, 18:16
Meinst du nicht, der Dichter möchte schon, dass man ihn versteht? Ich meine, er will also, dass seine Kommunikation gelingt?
Das klingt danach als habe der Dichter eine Botschaft, die er als Sender in Sprache einwickelt, um sie dann durch den Zustelldienst Schrift vom Leser als Empfänger auspacken zu lassen. Hält der Empfänger dann die Botschaft in den Händen, ist die Kommunikation "gelungen". - Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das Wesen der Poesie damit erfaßt ist. ;)
Ja, da hast du schon recht. Es kommt darauf an, was man unter Kommunikation versteht. Ich meinte es im alltäglichen Sinne. So in der Art, ich teile dir etwas mit.
Ich denke, du musst auch aufpassen, dass du deinen gut ausgearbeiteten Kommunikationsbegriff nicht mit dem gängigen Verständnis von Kommunikation vermischst.



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