Hirne tragen keine Brillen

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Jörn Budesheim
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Sa 5. Jun 2021, 09:12

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Was bedeutet eigentlich das Wort "Gehirn"?

Wenn wir sagen, jemand hat ein großes Herz, ist damit in der Regel kein pathologischer Befund gemeint. Das ist eine Metapher, die man gemeinhin leicht versteht. Aber was soll es bedeuten, wenn wir sagen, das Hirn tut dies oder jenes, z.b. denken und planen? Was ist dann mit "Gehirn" gemeint? "Das" Organ, was sich zu einem gewissen Teil im Hohlraum des Schädels befindet und irgendwie (in mir unbekannterweise) über den Körper verteilt ist? Wohl kaum, denn Organe sind keine handelnden Akteure.

Aber eine Metapher hat man damit in der Regel auch nicht im Sinn, obwohl manchmal vage damit "das Kognitive" schlechthin gemeint ist (was auch immer das jetzt wieder sein soll) …

Manchmal wird der Begriff so gebraucht, als hätten sich in ihm alle Neuronen gegen uns verbündet. Dann feiern die Homunculi fröhliche Urständ, ohne uns über ihre Absichten zu informieren. Das Gehirn ist der große Mythos der Zeit: keiner weiß, was es ist, aber jeder glaubt, eins zu sein. Letztlich eine neuronale Entlastungs Maschine, denn wenn das Gehirn für mich denkt und handelt, dann bin ich selbst ja fein aus dem Schneider: ich war es nicht, mein Gehirn war's.



Im Radio rezitieren sie ein Gedicht. Dein Weltempfänger empfängt dasselbe, wie meiner. Wie kann das gehen? Das ist möglich, weil der Weltempfänger das Gedicht nicht produziert (du kannst gerne auch "konstruiert" sagen) sondern empfängt.




Burkart
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Sa 5. Jun 2021, 09:41

Stimmt, Hirne tragen keine Brillen.
Wir sind ja auch kein Gehirn, sondern haben nur eines (die Brillen tragen "nur" wir, wenn auch "inspiriert" durch unser Hirn, das durch unsere Augen bessere Daten wünscht).
Mein (Ge-)Hirn ist nie eine Ausrede für das, was ich tue. Wenn, sind es eher bestimmte Körperteile, die sich gegen mich "verbünden", z.B. Zellen, die einen Juckreiz auslösen.

Ich frage mich, ob deine Zeilen eine Art von Kunstform oder wirklich ganz ernst gemeint sind.



Der Mensch als Philosophierender ist Ausgangspunkt aller Philosophie.
Die Philosophie eines Menschen kann durch Andere fahrlässig missverstanden oder gezielt diskreditiert oder gar ganz ignoriert werden, u.a. um eine eigene Meinung durchsetzen zu wollen.

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Alethos
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Sa 5. Jun 2021, 12:38

Ich denke auch nicht, dass das Hirn etwas wünscht, z.B. schärfer sehen zu wollen. Das Hirn hat keine Präferenzen. Es hat auch keine Identität. Es hat auch keine Sinnesdaten. Es ist nur ein Organ, und niemand ist dort zuhause, wenn es niemanden gibt, der dieses Zuhause bewohnen kann.

Aber er produziert auch nicht diesen Jemanden, weil dieses emergiert aus vielen komplexen Systemen, darunter das Hirn nur eines ist.



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Groot
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Mo 7. Jun 2021, 04:29

Alethos hat geschrieben :
Sa 5. Jun 2021, 12:38
Aber er produziert auch nicht diesen Jemanden, weil dieses emergiert aus vielen komplexen Systemen, darunter das Hirn nur eines ist.
Ist aber nicht das Gehirn eines der essenziellsten Dinge für die Autopoiesis bzw. für die moralische Ethopoiesis?

Ich würde nicht meinen, dass das Selbst aus Systemen emergiert. Sondern es erkennt, dass komplexe Systeme Ursache sind für nachfolgende Synthesen dieser Systeme. Oder irre ich?

Im Radio rezitieren sie ein Gedicht. Dein Weltempfänger empfängt dasselbe, wie meiner. Wie kann das gehen? Das ist möglich, weil der Weltempfänger das Gedicht nicht produziert (du kannst gerne auch "konstruiert" sagen) sondern empfängt.
Das ist ein schönes Bild.

Der Weltempfänger wäre das Hirn. Aber wieso sollt dies nicht das Gedicht produzieren? (Sicher empfängt es aber auch etwas; ich würde meinen Sinnesdaten und Qualia und formal Semantik, sowie Sittlichkeit)

Ich persönlich denke, dass das Gehirn schon als Ort gibt, der herausgehoben ist. Denn wir kartographieren uns neurologisch ja selbst. Beobachtung 3. Ordnung, statt 2.

Im Bild bzw. in der Metapher ist der Geist in sich selbst. Er feiert sein Kulturwesen im Kult oder als ein spontanes "Feiern-des-Seins" der Bohème. Aber der Geist ist ein historisches Phänomen, während das Bewusstsein eines der Gegenwart ist; also eines, das viel stärker operiert im Medium der Neurologie, als in der menschlichen Sphäre des Mesokosmos, auf die der Blick der Brille vielleicht verweisen will. Denn diese muss man zunächst aufsetzen, um wissenschaftlich zu sezieren. Du aber willst die Sphäre feiern, die hermeneutisch zugänglich, vor dieser wissenschaftlichen Ebene liegt. Du willst scheinbar aber nicht der Tradition wegen auf diese vorwissenschaftliche Ebene verweisen, sondern aus einem Verständnis von Ästhetik.

Ist denn nicht der Homunkulus gerade das, was überflüßig wird, weil wir ja ein Gehirn haben, statt nichts als Energieklumpen/nichts als Seele zu sein? Denn dadurch haben wir Sprache; damit die Deixis. Damit haben wir Synapsen; damit das Konnektom. Damit haben wir Organe; damit einen freien Organismus und Bürgerrechte.




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Jörn Budesheim
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@groot

Tut mir leid, ich verstehe praktisch nichts von dem, was du sagst. Es ist für mich wie eine Fremdsprache, die zwar deutsche Wörter enthält, aber für mich ganz unverständlich ist. Ich kann immer nur raten, was du meinen könntest. Wir können keine Unterhaltung führen auf dieser Basis. Ehrlich gesagt ist es mir auch zu anstrengend, wenn ich einen Beitrag fünfmal lesen muss, um vage erraten zu können, was gemeint sein könnte.
Groot hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 04:29
Ich persönlich denke, dass das Gehirn schon als Ort gibt, der herausgehoben ist.
Also - dennoch ein Wort zu dem Zitat: natürlich gehe ich davon aus, dass es das Gehirn gibt. Ich gehe auch davon aus, dass das Gehirn ein wichtiges Organ ist. Aber ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst. Nimmst du im Ernst an, dass ich bestreite, dass unser Hirn ein bedeutendes Organ ist?




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Alethos
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Mo 7. Jun 2021, 13:36

Groot hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 04:29
Alethos hat geschrieben :
Sa 5. Jun 2021, 12:38
Aber er produziert auch nicht diesen Jemanden, weil dieses emergiert aus vielen komplexen Systemen, darunter das Hirn nur eines ist.
Ist aber nicht das Gehirn eines der essenziellsten Dinge für die Autopoiesis bzw. für die moralische Ethopoiesis?
Ganz bestimmt ist das Hirn ein wichtiges Organ für das Bewusstsein, ohne Gehirn in einer minimalen Ausprägung könnten wir eine Vielzahl von Informationen gar nicht erfassen als Informationen. Es gibt sicherlich eine Vielzahl von essenziellen Hirnfunktionen, aber, ich finde, es ist ein Unterschied, ob wir sagen, dass das Hirn solche Dinge wie Sprache, Moral, Bewusstsein hervorbringt, oder ob wir das Hirn eher als Verarbeitungsorgan betrachten. Das Hirn ist eine Bedingung dafür, dass wir denken können, auch über das moralisch Gute usw., aber es ist nicht die Bedingung des moralisch Guten.

Das moralische Gute halte ich nicht für ein Produkt von Hirnprozessen, vielmehr denke ich, dass wir dank unserer Urteilsfähigkeit dieses nachvollziehen können. Das Gehirn ermöglicht das Haben von Gedanken, er ist nicht Hersteller von Gedanken, wenigstens nicht in der Art, dass wir sagen könnten, ohne das Gehirn gäbe es sie nicht. Es ist wohl eher richtig zu sagen, dass dann niemand Gedanken hätte. Aber sowenig Gedanken nur Hirninhalte sind, weil sie bspw. von etwas handeln können, das selbst wiederum kein Gedanke ist, so wenig existiert Moral nur wegen Hirnprozessen, sondern aus realen Gründen.

Darüberhinaus glaube ich, dass Gefühle, also der Sinn für Emotionen grob gesagt, ebenso massgeblich an der Moralerkenntnis beteiligt sind. Denn ohne zu fühlen, was es heisst, ein Mensch zu sein und ohne zu wissen, was es heisst, ein leidensfähiges Wesen zu sein, werden wir das moralisch Richtige ebenso verkennen, wie wenn wir es ohne Hirn nicht denken können.



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Mo 7. Jun 2021, 13:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 10:37
Nimmst du im Ernst an, dass ich bestreite, dass unser Hirn ein bedeutendes Organ ist?
Manchmal könnte man das meinen , ja.
Mich stört auch eines sehr: Es werden zwar unendlich viele Argumente dafür angeführt, dass wir keine Gehirne sind (btw, wer behauptet denn sowas?), und dass Gehirne nicht denken usw.
Mir fehlt aber immer die alternative und plausibel nachvollziehbare Erklärung dafür wo das Denken dann herkommt. Wenn das Gehirn nur ein "Empfänger" und nicht der "Produzent" des Denkens ist, wer oder was denkt dann tatsächlich?
Und wie genau läuft das ab? Schwebt der Geist irgendwo frei herum und manipuliert Materie so (wie?), dass sich ein Körper formt der dann "Gedanken empfängt"?
Wie funktioniert das? Wie gelangt das Denken überhaupt in den "Empfänger"?
Kannst Du das mal etwas näher ausführen wie Deiner Meinung nach diese Sender-Empfänger-Interaktion abläuft?
Zuletzt geändert von NaWennDuMeinst am Mo 7. Jun 2021, 14:20, insgesamt 1-mal geändert.



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Mo 7. Jun 2021, 14:16

Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 13:36
Das moralische Gute halte ich nicht für ein Produkt von Hirnprozessen, vielmehr denke ich, dass wir dank unserer Urteilsfähigkeit dieses nachvollziehen können.
Das klingt so, als existiere das "moralisch Gute" auch ohne Jemanden der denkt/ darüber urteilt.
Wenn Du das so meinst, würde ich gerne wissen woher Du das weißt. Oder glaubst Du das einfach nur ohne das begründen zu können?



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Mo 7. Jun 2021, 15:32

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 13:53
btw, wer behauptet denn sowas?
Wenn du danach suchst, findet du leicht viele, viele Belegstellen. Es gibt viele Bücher und Aufsätze, die die These vertreten, dass wir unser Gehirn sind. Und zum Glück auch viele "Gegentitel", die davor warnen, das zu glauben. Das ist eine Diskussion, die seit langem auf vielen Ebenen geführt wird. In "Neurowissenschaft und Philosophie" (stw) kommen viele der Kombattanten in diesem Streit selbst zu Wort - sehr empfehlenswert.




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Jörn Budesheim
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Mo 7. Jun 2021, 16:07

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 14:16
Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 13:36
[Ich denke], dass wir dank unserer Urteilsfähigkeit [das moralische Gute] nachvollziehen können.
Das klingt so, als existiere das "moralisch Gute" auch ohne Jemanden der denkt/ darüber urteilt.
Fällt mir schwer zu sehen, dass das so klingt.




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Mo 7. Jun 2021, 17:00

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 15:32
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 13:53
btw, wer behauptet denn sowas?
Wenn du danach suchst, findet du leicht viele, viele Belegstellen. Es gibt viele Bücher und Aufsätze, die die These vertreten, dass wir unser Gehirn sind.
Ich kann das gar nicht glauben. Das ist doch absurd.
Ich weiß dass viele die Ansicht vertreten, dass das Gehirn der Sitz unseres Denkens ist (es ist halt unser Denkorgan), aber deshalb sind wir ja nicht unser Gehirn.
Das ist doch total albern. Ich finde das überhaupt nicht der Rede wert.



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NaWennDuMeinst
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Mo 7. Jun 2021, 17:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 16:07
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 14:16
Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 13:36
[Ich denke], dass wir dank unserer Urteilsfähigkeit [das moralische Gute] nachvollziehen können.
Das klingt so, als existiere das "moralisch Gute" auch ohne Jemanden der denkt/ darüber urteilt.
Fällt mir schwer zu sehen, dass das so klingt.
Wie ist es denn sonst gemeint?
Ich finde es passt auch zu dem was ihr sonst so schreibt, also in Bezug auf die objektive Moral und so.
Die ist irgendwie da, egal was (und ob überhaupt) Menschen darüber denken.
So verstehe ich Euch da jedenfalls.



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Alethos
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Mo 7. Jun 2021, 18:02

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 17:07
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 16:07
NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 14:16

Das klingt so, als existiere das "moralisch Gute" auch ohne Jemanden der denkt/ darüber urteilt.
Fällt mir schwer zu sehen, dass das so klingt.
Wie ist es denn sonst gemeint?
Ich finde es passt auch zu dem was ihr sonst so schreibt, also in Bezug auf die objektive Moral und so.
Die ist irgendwie da, egal was (und ob überhaupt) Menschen darüber denken.
So verstehe ich Euch da jedenfalls.
Also, leider kann ich hier nur auf dem Handy antworten, daher bitte entschuldige die kurze Antwort, sie geht in etwa so:

Moral hat ohne Lebewesen keinen Sinn, denn massgeblich geht es da um Betroffenheit. Wenn es niemanden gibt, der betroffen sein kann, dann ist Moral einfach witzlos.
Das heisst aber nicht, dass Subjekte diese Moral „herstellen“ würden (oder Hirne oder Konventionen). Ich glaube tatsächlich, dass es eine moralische Richtigkeit gibt, die in den Sachverhalten selbst zu finden ist, so wie es in den Sachen selbst liegende Antworten gibt auf die Frage: „Wie spät ist es jetzt?“ oder „Wie viel Grad herrscht in Köln um 16.45h?“
Dass wir bei der moralischen Frage nicht auf ein Thermometer schauen können oder auf eine Uhr, sondern andere Sinne aktivieren müssen, u.a. unseren Urteilssinn oder unseren emotionalen Sinn, heisst ja nur, dass Moral eine Objektivität hat, die sich anders als über die fünf „klassischen“ Sinne erschliessen lässt. Aber die Gründe, die für dieses Handeln als richtiges Handeln sprechen, die müssen an sich vorkommen.

Auch subjektive Präferenzen kommen in moralischen Gemengelangen an sich (im Subjekt) vor, und sie bilden einen Teil des ganzen Komplexes des moralischen Sachverhalts. Meine Gründe für die Einstellung zu Sex vor der Ehe sind, anders gesagt, nicht völlig irrelevant für die Objektivität der Richtigkeit des moralischen Urteils in dieser Frage, aber diese Gründe sind nur ein Parameter der gesamten Objektivität des in Frage stehenden Komplexes, bei dem es verschiedene Betroffene gibt. D.h. wir sind als Betroffene von Moral auch Involvierte und unsere Gefühle spielen eine Rolle, aber sie sind eben nur ein Teil des grösseren Ganzen des Sachverhalts selbst.



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Stefanie
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Mo 7. Jun 2021, 21:54

Mich verwirrt das Thema immer. Der Satz "Wir sind unser Gehirn" ist irgendwie nicht fassbar, weil ich immer noch nicht ganz verstehe, was genau damit gemeint ist.
Diese Experimente, in denen je nach gezeigten Bild ein bestimmtes Areal aktiviert wird, sagen ja nur aus, auf ein Bild mit einem bestimmten Gesicht, passiert das im Gehirn, aber nicht was die Person dann tatsächlich fühlt, oder handelt. Also die Bewertung des Gezeigten durch die Person sieht man nicht.
Allerding ist das Gehirn wie eine Festplatte, auf der die Prozesse abgespeichert sind, die das Gehirn im Körper steuert. Es ist auch z.B. der Ort wo Erinnerungen und Gedächtnis abgelegt sind.
Wenn die Festplatte Gehirn beschädigt wird hat das Auswirkungen. Gedächtnisverlust kurzfristig oder dauerhaft, Verlust der Sprachhfähigkeit, etliches muss neu gelernt werden, was manchmal nicht mehr möglich ist. Usw. Es gibt Fälle von Gehrintumoren, die zu einer Veränderung der Persönlichkeit und des Verhaltens führen.

Also ist es, "ich bin mein Gehirn", oder ist "mein Gehirn wie ich"?



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Jörn Budesheim
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Di 8. Jun 2021, 06:16

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 17:00
Das ist doch total albern. Ich finde das überhaupt nicht der Rede wert.
Felix Hasler, in Neuromythologie hat geschrieben : Im Neuro-Zeitalter ist das Gehirn Maß aller Dinge. Man identifiziert sich nicht länger mit seinen Genen, sondern mit seinem Gehirn. Der Homo neurobiologicus hat nicht nur ein Gehirn, er ist sein Gehirn. Sein Gehirn »sein« – für den Philosophen Jan Slaby ist das der »Chorgesang der naturalistischen Neurophilosophie: […] die subjektive Erfahrung sei nicht mehr als die Benutzeroberfläche eines Neuro-Computers und somit eine bloße user illusion; was ›eigentlich‹ vor sich gehe, seien neuronale Prozesse, und diese zu entschlüsseln, verständlich zu machen und nötigenfalls zu optimieren, sei eine Sache der Neurowissenschaften und ihrer philosophischen Gewährsleute.«[4] Zur Beschreibung der ontologischen Qualität des »Sein-Gehirn-Seins« hat der Wissenschaftshistoriker Fernando Vidal den Begriff der »brainhood« geprägt.[5] Aus der »Persönlichkeit« ist eine »Gehirnlichkeit« geworden. Im Begriff der »brainhood« steckt die weit verbreitete Ansicht, dass das Gehirn das einzige Organ sei, das wir brauchen, um uns selbst zu sein. Der Umstand dieser besonderen Selbstwahrnehmung macht uns gemäß Vidal zu »zerebralen Subjekten«.[6] Früher handelten Personen, heute handeln Gehirne.
Felix Hasler, in Neuromythologie hat geschrieben : Die kulturelle Hegemonie der Neurowissenschaften hat zu einer tiefen Durchdringung unserer Lebenswelt mit neurobiologischen Erklärungsmodellen geführt. Die Befunde der Hirnforscher haben längst ihren Weg aus den Labors in die Welt gefunden. Aufgrund der massiven medialen Präsenz neurobiologischer Erklärungsmodelle muss sich konsequenterweise auch unser Selbstbild verändern – die eigene Vorstellung davon, was wir dem Wesen nach eigentlich sind. Im neurozentrischen Zeitalter fängt die modernisierte Selbst-Definition schon früh an. »[Bereits] Teenager wissen heute, was Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörung sind und wie sie behandelt werden. Sie konzeptualisieren Bewegungsunruhe und Unkonzentriertheit als neurochemische Symptome, die mit Hilfe von Stimulanzien zu bezähmen sie mehr als bereit sind.«[7,DHess E, Jokeit H]
Wir haben es also bei dieser Frage nicht nur mit einem Spezial Problem der Hirnforscher und Philosophen zu tun, sondern es greift viel weiter aus: es betrifft unmittelbar unseren Geist, im Sinne unserer Selbstbild-Fähigkeit. Das heißt die Frage, wer wir sind oder sein wollen und sollen wird zunehmend delegiert an spezialisierte Hirnforscher.

Leider habe ich das nicht gebookmarkt und finde es auch nicht wieder, vor kurzem habe ich in einem YouTube feature von einem renommierten Hirn-Forschern folgendes gehört: wenn man den Stand des Wissens in der Hirnforschung mit dem Stand des Wissens über das physikalische Universum vergleicht, dann ist die Hirnforschung so ungefähr im Mittelalter angelangt.




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Di 8. Jun 2021, 06:34

Markus Gabriel hat geschrieben : Das Manifest führender Hirnforscher [Anfang der 2000er] wurde hier in Bonn u. a. vom Neurowissenschaftler Christian Elger auf einer Tagung angestoßen. Elger ist einer der weltweit am meisten zitierten Epileptologen, also eine richtige Koryphäe in seinem Fach. Auf einem Podium hat er mir jüngst bestätigt, dass dasjenige, was sie über den freien Willen und das Bewusstsein damals so gesagt haben, nicht aufgegangen ist, das zieht er alles zurück. Auch die sehr technisch orientierten Neurowissenschaftler, mit denen ich hier in Bonn zusammenarbeite, sagen mir: Du kannst von uns etwas über Neurone lernen, aber auf Fragen nach Bewusstsein und freiem Willen können wir fürs Erste – und auf sehr lange Sicht – einfach gar nichts sagen. Da ist in der Tat so eine Depression in die deutsche Neurowissenschaft gekommen. Nach Gerhard Roth und Wolf Singer sind die jetzt alle handzahm...




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Di 8. Jun 2021, 06:58

Auch zu den folgenden habe ich leider keine Quelle, aber vielleicht finde ich es wieder im Laufe der nächsten Tage. Ein Hirnforscher hat in einem Feature darauf aufmerksam gemacht, dass schon der Begriff des Gehirns irreführend ist. Denn er suggeriert (zumindest erinnere ich mich so an das Statement) dass wir es mit einer einfachen klar definierten Entität gewissermaßen unter der Schädeldecke zu tun haben. In Wahrheit liegen die Dinge anders, denn wie "das Gehirn" - das vielleicht gar nicht diese Einheit ist, wie der Begriff nahelegt - mit dem Körper verwoben ist, ist viel komplizierter. Das heißt, schon der Begriff "Gehirn" ist fragwürdig und nach meinem Verständnis sind dies auch die Schemazeichnungen, wie ich sie oben auf der linken Seite des Bildes wiedergegeben habe.

Im Prinzip besteht der Mythos (ungefähr nach Max Weber, den wir vor kurzem besprochen haben) darin, dass man glaubt, es gäbe dort irgendwelche Fachleute, die de facto oder zumindestens vom Prinzip her genau Bescheid wissen oder bald wissen werden.




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Di 8. Jun 2021, 11:21

Ich finde der Einfluß der Neurowissenschaften wird hier deutlich überbewertet.
Hinzu kommt dass ich nicht erkennen kann, wie es gelingen soll alle Aspekte des Menschseins rein durch eine Analyse der Hirnfunktionen zu erklären.



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Di 8. Jun 2021, 11:29

Alethos hat geschrieben :
Mo 7. Jun 2021, 18:02
Ich glaube tatsächlich, dass es eine moralische Richtigkeit gibt, die in den Sachverhalten selbst zu finden ist, so wie es in den Sachen selbst liegende Antworten gibt auf die Frage: „Wie spät ist es jetzt?“ oder „Wie viel Grad herrscht in Köln um 16.45h?“
Wie genau stellst Du Dir das vor? Wie stellen wir das fest?
Und was ist die Ursache für eine "in den Sachen selbst liegenden Moral"?
Bei einer Temperaturmessung ist "die Sache selbst" die Energie die wir messen.
Wie ist das mit der Moral? Messen wir da "Moralenergie", oder wie muss ich mir das vorstellen?



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Di 8. Jun 2021, 11:31

NaWennDuMeinst hat geschrieben :
Di 8. Jun 2021, 11:21
Ich finde der Einfluß der Neurowissenschaften wird hier deutlich überbewertet.
Ich kann dir problemlos viele weitere Belegstellen bringen. Außerdem deckt sich das sehr gut mit meinen persönlichen Erfahrungen.




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