Gaia

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Nauplios
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Mi 3. Aug 2022, 19:59

In Jenseits von Gut und Böse (Aphorismus 13) geht Nietzsche übrigens auf Distanz zu Spinozas Selbsterhaltung:

"Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht –: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Prinzipien! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inkonsequenz Spinozas –). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Prinzipien-Sparsamkeit sein muß." (Nietzsche; Jenseits von Gut und Böse; Aph.13)

Aber das nur nebenbei.

(Falls es hier nicht recht paßt, kann die Moderation die letzten Beiträge von mir auch in den Thread "Schematische Ostrakisierung" verschieben.)




Groot
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Mi 3. Aug 2022, 20:27

Nauplios hat geschrieben :
Di 2. Aug 2022, 16:33
Es gibt im Griechischen den bei Platon im Titel (Nomoi) geführten Begriff des Νόμος, der meistens mit "Gesetz" übersetzt wird. Der ältere Νομός (Betonung auf der zweiten Silbe) hingegen meint so etwas wie "Ort", "Gegend", auch im Sinne eines "Weideplatzes" (s. Nomade). Der Νόμος hat es mit Ordnung zu tun, der Νομός mit Ortung. Carl Schmitt, als Theoretiker der Freund/Feind-Unterscheidung von Theo Waigel verschmäht, kommt von daher zu seiner Bestimmung des Rechts als "erdhaft und auf die Erde bezogen" (Der Nomos der Erde; S. 13). Der politische Urakt ist für ihn folglich die Landnahme. Hatte nicht auch Ferdinand Tönnies, über den Du ja kürzlich eine Hausarbeit geschrieben hast, die Unterscheidung Welt/Erde verwendet, Groot? - Bei Heidegger ist ja die Erde das Bergende, während Welt das daraus Aufragende ist; bei Tönnies hab' ich Ähnliches in Erinnerung.

"Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft." (Ludwig Klages; Mensch und Erde)
Er unterscheidet zwischen Kaufmann und feudalem Großgrundbesitzer. Aber ich weiß nicht, ob er Welt und Erde unterscheidet. Aber es macht natürlich Sinn dies zu tun.

Die Erde kam dort im Zusammenhang von Boden vor, der beackert wird und dies eine Art natürlicher Zinsfuß ist. Anders beim Utilitarismus, wo es um die Arbeitskraft und die "eingesetzte Arbeitskraft pro Zeitstunde" geht. Es lässt sich dann pathisch auf die weltlichen und instrumentellen Prozesse verweisen, die der Ökonomie und den Demokratien oder nicht-Demokratien anhängen und intentional auf die irdische Ebene der Naturwissenschaften, welche Abgrenzung finden zum Geiste und dessen "weit weg sein" und dessen extraterrestrischen und überindividuellen Anteilen.




Groot
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Mi 3. Aug 2022, 20:42

Nauplios hat geschrieben :
Di 2. Aug 2022, 19:12
Der Begründer der Gaia-Hypothese, James Lovelock hat geschrieben :
„Aber wenn ich von einem lebendigen Planeten spreche, soll das keinen animistischen Beiklang haben; ich denke nicht an eine empfindungsfähige Erde oder an Steine, die sich nach eigenem Willen und eigener Zielsetzung bewegen. Ich denke mir alles, was die Erde tun mag, etwa die Klimasteuerung, als automatisch, nicht als Willensakt; vor allem denke ich mir nichts davon als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend.
Wenn nichts "als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend" - warum ist die Hypothese dann mit dem Namen Gaia verbunden? - Gaia tat nichts "automatisch". Die Wahlverwandtschaft von Hypothese und Gaia lädt ja gerade das innerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften Ablaufende mit dem auf, was den Mythos grundiert: Bedeutsamkeit.
Ja, entweder man übersieht Zivilisation und Sinn. (Bedeutung ist m.e. ein sprachliches Phänomen, es hängt erst akzidenziell an der Kultur...diese ordnet sich im Sinn) Dann kann man die biologische Menschheit ins Felde führen, in der wir uns anthropologisch aufsummieren können.
Oder aber man sagt, Gaia funktioniere Automatisch (rückwirkend legen wir die Kausalität hinein, die uns oder die nächsten "Aha, so funktionierts also", denken lässt beim nächsten mal). Dann aber kann man die Grenzen der Naturwissenschaften wenigstens in zwei Richtungen nicht validieren....Theologie (die kann dadurch ausgefiltert werden) oder aber, wichtiger, Sozialwissenschaften und Psychologie.
Denn eine vollständig funktionale Gaia ließe nicht zu, dass man den Unterschied erkennt, zwischen

"Pädagogik reduziert sich auf Lehrer und Schüler"
"Pädagogik reduziert sich auf das Klassenzimmer"

Ersteres fokussiert die "Instrumentalität", die durch Gaia in der Gesellschaft auftaucht (Affekte, Geldgier, Habsucht). Hier sind alle Menschen anthropologisch aufsummiert.
Letzteres fokussiert Zivilisation...es ist eine von vornherein institutionelle Sache, die so und auf diese Weise, nicht an der Natur zu sehen ist, sondern von vornherein über eine bloße Anthrologie hinausgeht und den Raum fokussiert, in dem kommuniziert wird, statt der bloßen, isolierten Kommunikation von Meister und Lehrling.

Gaia ist dann mit Lovelock vereinbar, wenn die Gesellschaft durch und durch instrumentell ist. Aber so denken wir sie einmal nicht (obwohl es viellecht sinnvoll wäre!), und zum zweiten ist Gesellschaft und was daraus entsteht (nämlich komplexer Geist und Intellekt, sowie sinnliches Selbstbewusstsein), ja nicht nur instrumentell.




Nauplios
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Do 4. Aug 2022, 10:24

Groot hat geschrieben :
Mi 3. Aug 2022, 20:42
Nauplios hat geschrieben :
Di 2. Aug 2022, 19:12

Die Wahlverwandtschaft von Hypothese und Gaia lädt ja gerade das innerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften Ablaufende mit dem auf, was den Mythos grundiert: Bedeutsamkeit.
Ja, entweder man übersieht Zivilisation und Sinn. (Bedeutung ist m.e. ein sprachliches Phänomen, es hängt erst akzidenziell an der Kultur...diese ordnet sich im Sinn) ...
Bedeutsamkeit / Bedeutung

Bedeutsamkeit ist philosophisch vor allem mit Erich Rothackers "Satz der Bedeutsamkeit" (Die Genealogie des menschlichen Bewußtseins verbunden, natürlich mit Heidegger Sein und Zeit, vorher schon mit Dilthey und Simmel. Dabei geht es meistens um Bedeutsamkeit als Bezugsrahmen, in dem der Einzelne steht und von dem aus sein Leben Sinn bezieht. Bei Rothacker kann das Bewußtsein nur Inhalte verarbeiten, die von Bedeutsamkeit geprägt sind.

Blumenberg hat der Bedeutsamkeit im Zusammenhang seiner Mythostheorie eine spezielle Formatierung gegeben. Eine Definition ist (wie fast immer) nicht zu erwarten. "Bedeutsamkeit gehört zu den Begriffen, die sich erläutern, aber nicht im strikten Sinne definieren lassen." (Arbeit am Mythos; S. 78) Vielleicht läßt sich eine Erläuterung am ehesten vom Gegenbegriff zu Bedeutsamkeit bewerkstelligen: Bedeutung. In Form von denotativen Bezeichnungen von Objekten hat es die Semantik mit Bedeutung zu tun - einer Aussage, eines Textes usw. Damit bewegt man sich dann in der Tat auf der Ebene eines "sprachlichen Phänomens". Mythen, Metaphern, Anekdoten ... lassen sich jedoch nicht auf Bedeutungen in diesem Sinne festlegen. Sie haben nicht die Prägnanz von exakten Begriffen, propositionalen Aussagen, strengen Theorien. Durch ihre Verweisvielfalt und ihre Konnotationen verdichten sie sich zu polyvalenten Formen von "dosierter Ungenauigkeit" (Blumenberg). Sie erzeugen Bedeutsamkeit indem sie Bedeutungen diffundieren. Die Unschärfe des Bedeuteten ist Bedingung für die Bedeutsamkeit.

Heideggers "Bewandtnisganzheit" in Sein und Zeit ist eine Art Vorläufer der Blumenberg' schen Bedeutsamkeit. Während es Heidegger um das Ganze geht, von dem aus etwas seine "Bewandtnis" hat, verzichtet Blumenberg auf eine holistische Ausrichtung. Bedeutsamkeit kann bereits im einzelnen Mythos, in der Fabel, in der Metapher liegen. Die Bedeutung solcher Narrative ergibt in ihrer Gesamtheit nicht ihre Bedeutsamkeit. "Wer darauf besteht, an der 'Bedeutsamkeit' auch die 'Bedeutung' zu erfassen, verliert beides." (Vor allem Fontane; S. 74)




Groot
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Do 4. Aug 2022, 16:09

Ist nicht der Ort, wo der Einzelne steht, die Deixis? Der Ort, von dem Sätze gesprochen sind...denn stehen tun wir in Kultur, sitzend sind wir, wenn wir bloßer naturentsprungener Körper sind.

Ich unterscheide immer zwischen Origo und Deixis.
Hieraus folgt dann die Propositionale Ebene und die syntagmatisch-semiotische Ebene. In dieser Unterscheidung aber bleibt die Bedeutung an die propositionale Dimension gebunden. Denn diese zielt auf die mythische Geschichte und auf die Phänomene die die Möglichkeitsbedingung für Intelligibeles sind. In ihr spielt die historische Dimension Materie keine sonderliche Rolle, weil die ideengeschichtliche Dimension ja stets auf eines verweist, welches zeitlos sein solle.
Die Dimension des Syntagma und der Semiotik zielt auf die materielle Historie, in die ich als Leib mich einverseele, weil mein Körper darin Biographie hat.
Die Deixis ist nun der Ort, von wo Bedeutungsgehalte geäußert werden, während die Origo den Sinn ermöglicht, der sprachlich zu einem kulturspezifischen Bedeutungsgehalt wird. Der Sinn ist überkultural, während Bedeutung von Kultur zu Kultur differiert. Der Sinn gibt Existenz, Bedeutung die Orientierung an Hand der sprachlich übermittelten Riten und Gebräuche einer Kultur, sei es beim Wissenserwerb oder beim Verhalten im öffentlichen Raum.

Der Einzelne erfasst entweder den Mythos in seiner Vielfalt und in seiner Wichtigkeit für die Einheit der spezifischen Kultur, der er immanent bleibt und der er inhäriert. Diese Bedeutungsebene bleibt m.e. aber sprachlich. Denn sie fokussiert von Anbeginn im Grunde in einem hermeneutischen Raster. Die Phänomenologie wird akzidenziell genutzt, d.h. es ist der Geschichte nicht eingeschrieben, dass Beobachtungen, die an ihr getätigt werden, auch als "historisch materiell" in die Einsicht und Ansicht der historischen Datenlage eingeht. Dadurch aber erlangt eine idealistische Deutung das Dominion ggü. einer material gehaltenen Deutung...und die Gefahr, dass alles in Beliebigkeit verrottet, die steigt, sofern man Sinn nicht exakt von der kulturrelativen Bedeutung scheidet.

Sinn ist existenziell, Bedeutung zielt auf den sprachlichen Holismus, in den man als gesunder Mensch geworfen wird...denn nur diese sprachliche Dimension trägt in Solidarität. Die existenzielle Ebene vereinheitlicht die Kulturen, vermutlich deshalb, weil dortige Denker erkennen, dass die europäische Kultur bzw. allg. abrahamitische Kulturen falscher denken als es asiatische Kulturen tun.




Nauplios
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Do 4. Aug 2022, 17:08

So könnte es sein. ;)


Groot hat geschrieben :
Do 4. Aug 2022, 16:09

Die Dimension des Syntagma und der Semiotik zielt auf die materielle Historie, in die ich als Leib mich einverseele, weil mein Körper darin Biographie hat.
Einverseelung - ganz in der Nähe befindet sich die Abfahrt "Spiritualität". ;)




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Jörn Budesheim
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Do 4. Aug 2022, 18:50

"Neues Nasa-Weltraumteleskop kann fremde Zivilisationen anhand von Luftverschmutzung aufspüren" (fr.de)

"Interessant": Zivilisationen erkennt man aus dem Weltall auf eine andere Art und Weise als einfaches biologisches Leben.




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Do 4. Aug 2022, 19:30

Nauplios hat geschrieben :
Di 2. Aug 2022, 19:12
Wenn nichts "als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend" - warum ist die Hypothese dann mit dem Namen Gaia verbunden?
Vielleicht ist James Lovelock der Verführung falscher Bedeutsamkeit erlegen?!




Nauplios
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Do 4. Aug 2022, 20:02

"Falsche Bedeutsamkeit" auf individueller Ebene - Wenn man das in der Philosophie seit über hundert Jahren behandelte Theorem der Bedeutsamkeit als Instrument der "Verführung" sieht, dem man "unterliegt" oder ihm widersteht, dann verkennt man dieses Theorem als Auswuchs von Irrationalität, als überwundene vortheoretische Stufe, deren Zauber man sich nicht zu entziehen weiß.




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Do 4. Aug 2022, 20:10

Nun ist allerdings der Wissenschaftler in meiner Interpretation nicht (womöglich) der Verführung der Bedeutsamkeit erlegen, sondern, wie ich geschrieben habe, der Verführung der "falschen Bedeutsamkeit" - er hat sich vielleicht etwas verwürzt. Wie der Begriff von manchen aufgenommen wurde, zeigt ja, dass die Suppe etwas versalzen war.




Groot
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Do 4. Aug 2022, 20:30

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Do 4. Aug 2022, 18:50
"Neues Nasa-Weltraumteleskop kann fremde Zivilisationen anhand von Luftverschmutzung aufspüren" (fr.de)

"Interessant": Zivilisationen erkennt man aus dem Weltall auf eine andere Art und Weise als einfaches biologisches Leben.
Das ist spannend. Denn dadurch kann man ja einen Zivilisationsbegriff abseits von anthropomorpher Größen, also abseits des biologischen Gattungsbegriffs, denken.

Man kann damit sozusagen eine "isomorphe" Perspektive einnehmen auf die Zivilisation. Eine Perspektive die bspw. bei Elias Gestalt hat, wenn er meint, dass die Symbole objektiv eine 5. Dimension sind. Oder aber auch allg. in makrosoziologischen Zusammenhängen oder in der historisch-geschichtlichen Dimension.

Ich denke, dass genau diese Perspektive m.e. mit Gaia in Konflikt gerät. Denn bei Gaia ist in gewissen Grenzen ein Anthropomorphismus dabei, der auf ein biologisches Gattungswesen referiert. Aber für den Zivilisationsbegriff braucht es gerade nicht eine Reduktion auf das Soma und einen körperlichen Metabolismus, sondern eine Art von Emergenz hinein in viszeral-neuronale Strukturen oder eben eine Emergenz eines Wesens das durch und durch Sozietät ist und worin sich der Einzelne genetisch und dem Spracherwerbe nach, als Angehöriger einer Zivilisation erkennen kann. Hierbei ist Zivilisation notwendig, Kultur kontingent.




Nauplios
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Do 4. Aug 2022, 20:36

Bedeutsamkeit kann nie "falsch" sein, weil sie sich nicht in propositionalen Aussagen äußert, die einen Wahrheitswert wie "falsch" annehmen können. Sowenig wie es einen "falschen" Mythos gibt, gibt es eine "falsche" Fabel oder eine "falsche" Anekdote. - Bedeutsamkeit ist immer untergründig, unterhalb der Schwelle von Aussagen, wissenschaftlichen Hypothesen u.ä. am Werk.

"Mythen lassen sich nicht in propositionale Aussagen übersetzen, Metaphern nicht verlustfrei auf Begriffe bringen, Anekdoten nicht auf eine aus ihnen resultierende Moral reduzieren." (Artikel "Bedeutsamkeit" im Blumenberg-Glossar)




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Do 4. Aug 2022, 20:49

Felix Heidenreich hat geschrieben : Unter dem Titel »falsche Bedeutsamkeit« führt Blumenberg vor Augen, dass die Produktion von Bedeutsamkeit durch eine allzu willentlich betriebene Anstrengung »falsch« werden, also sich selbst auflösen kann.




Nauplios
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Do 4. Aug 2022, 21:10

Das allerdings ist keine "falsche" Bedeutsamkeit im Sinne eines Wahrheitswertes. Eine "allzu willentlich betriebene Anstrengung" liegt ja dann nicht auf seiten der Bedeutsamkeit vor, sondern auf seiten dessen, der sie "allzu willentlich betreibt". Das kann etwa durch die "Produktion" von Bedeutsamkeit vorliegen. Was Lovelock betrifft, so "produziert" er ja keine Bedeutsamkeit; er setzt sich sogar ein Stück weit vom Gaia-Mythos ab. Der Gaia-Mythos stammt ja nicht von Lovelock. Er läuft im Hintergrund mit.

Was ist das "Falsche" am Gaia-Mythos? Er wird ja hier nicht zum Gegenstand einer Inanspruchnahme eines Wahrheitswertes. Er kann gar nicht überführt werden in ein System wissenschaftlicher Aussagen. So wenig wie er falsch sein kann, kann er richtig oder wahr sein. Eine "allzu willentlich betriebene Anstrengung" ist nicht erkennen, noch weniger eine "Produktion".




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Do 4. Aug 2022, 21:23

Wenn du dir die Erläuterung von Heidenreich anschaust, dann weißt du zugleich exakt, was ich mit dem Begriff "falsche Bedeutsamkeit" im Zusammenhang mit der Benennung der Hypothese als Gaia-Hypothese gemeint habe.

Wahrheitswerte, Propositionen und dergleichen mehr kommen in meinen Text gar nicht vor.




Groot
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Do 4. Aug 2022, 21:43

Nauplios hat geschrieben :
Do 4. Aug 2022, 20:36
Bedeutsamkeit kann nie "falsch" sein, weil sie sich nicht in propositionalen Aussagen äußert, die einen Wahrheitswert wie "falsch" annehmen können. Sowenig wie es einen "falschen" Mythos gibt, gibt es eine "falsche" Fabel oder eine "falsche" Anekdote. - Bedeutsamkeit ist immer untergründig, unterhalb der Schwelle von Aussagen, wissenschaftlichen Hypothesen u.ä. am Werk.

"Mythen lassen sich nicht in propositionale Aussagen übersetzen, Metaphern nicht verlustfrei auf Begriffe bringen, Anekdoten nicht auf eine aus ihnen resultierende Moral reduzieren." (Artikel "Bedeutsamkeit" im Blumenberg-Glossar)
Ich würde es andersherum sehen. Gerade der Mythos und die Grammatik der Subjekt-Prädikat-Sprachen stützen die Möglichkeit, dass Propositionalität möglich ist. Propositionale Gehalte kann es nur geben, gerade weil der Mythos und die Deskription gemeinsam eine Sphäre aufspannen, die sprachlich und gesatzt ist und Bedeutungsgehalte produziert. Ich würde meinen, dass ein Bedeutungsgehalt schon falsch sein kann...oder sagen wir nicht kompatibel mit dieser oder jener kulturspezifischen Erziehung.




Nauplios
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Fr 5. Aug 2022, 16:36

Ich habe mir die entsprechenden Stellen im Artikel "Bedeutsamkeit" von Felix Heidenreich (Blumenberg lesen. Ein Glossar) noch mal angeschaut. Jörn hat recht, es gibt die "falsche Bedeutsamkeit", die Blumenberg u.a. an den historischen Analogien Hitlers erläutert. Im Film "Der Untergang" mit Bruno Ganz als Hitler sieht man diesen versunken in das Gemälde Friedrich des Großen, das hinter dem Schreibtisch Hitlers hängt. Hitler sieht sich mit Friedrich dem Großen in eine historische Schicksalsgemeinschaft eingebunden; der Arbeitstitel für solchen politischen Mythos ist bei Blumenberg die "Präfiguration". - Durch die "allzu willentlich betriebene Anstrengung" kann die Produktion von Bedeutsamkeit "falsch" werden, "falsch" in dem Sinne, daß "sie sich selbst auflösen kann" (Heidenreich; S. 54). -

(Ist nicht die angespannte geopolitische Lage in Europa auch das Ergebnis einer "falschen Bedeutsamkeit" in Form einer Korrektur der Geschichte und einer historischen Mission, in die sich Putin im Anschluß an Zar Peter den Großen wähnt?)




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Fr 5. Aug 2022, 17:56

Ich habe es zitiert aus "Blumenberg lesen"; ein Buch, von dem ich bis vor kurzem nicht mal wusste, dass ich es habe :)




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Fr 5. Aug 2022, 18:40

Ein sehr übersichtlich gehaltener Beitrag zur Bedeutsamkeit ist auch der Aufsatz von Barbara Merker: "Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit" in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg.

Sowie der Abschnitt "Die Phänomenologie der Bedeutsamkeit" in: Felix Heidenreich; Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg.




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Jörn Budesheim
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Fr 5. Aug 2022, 18:50

Ich könnte mir sehr gut vorstellen, das "Bedeutsamkeit" (im fraglichen Sinne) in der Kunst eine große Rolle spielt - namentlich als "ich weiß nicht, was soll es bedeuten", bzw etwas präziser: "je ne sais quois". Vielleicht als das Gefühl, dass etwas mitschwingt, was von Bedeutung ist, was man aber nicht benennen kann.




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