David Deutsch über Empirismus

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Jörn Budesheim
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Di 29. Mär 2022, 06:17

David Deutsch, der Anfang der Unendlichkeit hat geschrieben : Der Empirismus hat ursprünglich wie gesagt eine positive Rolle in der Ideengeschichte gespielt, indem er eine Verteidigung gegen traditionelle Autoritäten und Dogmen bot und dem Experiment in der Wissenschaft eine zentrale – wenn auch die falsche – Rolle zuschrieb. Die Tatsache, dass der Empirismus eine unmögliche Schilderung der Funktionsweise der Wissenschaft ist, hat damals kaum geschadet, denn niemand hat ihn wörtlich genommen. Was auch immer Wissenschaftler darüber gesagt haben mögen, woher ihre Entdeckungen kamen, sie haben sich eifrig mit interessanten Problemen auseinandergesetzt, gute Erklärungen vermutet, sie überprüft und erst zuletzt behauptet, die Erklärungen aus dem Experiment hergeleitet zu haben. Unterm Strich hatten sie Erfolg: Sie erzielten Fortschritte. Nichts verhinderte diese harmlose (Selbst-)Täuschung, und nichts wurde aus ihr gefolgert. Allmählich begann man jedoch, den Empirismus wörtlich zu nehmen, und so führte er zunehmend zu schädlichen Auswirkungen. Die im 19. Jahrhundert entwickelte Lehre des Positivismus versuchte beispielsweise, alles, was nicht ›aus Beobachtungen abgeleitet‹ ist, aus wissenschaftlichen Theorien zu eliminieren. Da sich aus Beobachtungen nie irgendetwas ableiten lässt, hing das, was die Positivisten zu eliminieren versuchten, ganz von ihren eigenen Launen und Intuitionen ab. Gelegentlich waren diese sogar gut. Der Physiker Ernst Mach (der Vater von Ludwig Mach, nach dem das Mach-Zehnder-Interferometer teils benannt ist), der auch ein positivistischer Philosoph war, beeinflusste beispielsweise Einstein und spornte ihn an, unüberprüfte Annahmen aus der Physik zu eliminieren – einschließlich Newtons Annahme, die Zeit vergehe für alle Beobachter gleich schnell. Das war zwar zufällig ein ausgezeichneter Einfall, aber Machs Positivismus bewirkte auch, dass er sich der daraus resultierenden Relativitätstheorie widersetzte – im Grunde deshalb, weil sie behauptete, dass die Raumzeit wirklich existiert, auch wenn sie nicht ›direkt‹ beobachtet werden kann. Mach leugnete auch entschieden die Existenz von Atomen, weil sie zu klein seien, um beobachtet zu werden. Wir lachen zwar jetzt über diese Albernheiten – da wir Mikroskope haben, die Atome erfassen können –, aber die Rolle der Philosophie hätte darin bestehen müssen, schon damals darüber zu lachen.




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