Groot hat geschrieben : ↑ Mo 20. Jun 2022, 03:08
soweit ich weiß, heißt das Mediopassiv; also diese dritte Form neben aktiv und passiv.
Völlig richtig, Groot. Das Mediopassiv ist eine dritte Form, die es dann schon im Lateinischen nicht mehr gibt. Man kann sich leicht vorstellen, daß ein drittes Genus verbi die Möglichkeiten einer Sprache beim Beschreiben des menschlichen Handelns erweitert, sofern es neben dem aktiven Handeln und dem passiven Erdulden von Handlungen ein Mittelding gibt, welches die Wirkung eines Handelns auf den Handelnden selbst ausdrückt, sozusagen ein eingebauter Selbstbezug, ein Aktiv, das "nach hinten losgeht".
Daß eine Sprache mit drei Genus verbi Beschreibungsvorteile hat, liegt auf der Hand, daß sie filigrane Unterschiede machen kann und als "tote" Sprache einen Reichtum an Verbformen hervorbringt, zum Leidwesen ihrer "lebenden" Erlerner, auch.
(Leidwesen - beinahe schon ein Wort aus der Liste bedrohter Wörter)
Ich hab' allerdings nicht schlecht gestaunt bei dieser Ankündigung eines Vortrags von Hartmut Rosa:
"Der Vortrag nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Diagnose, dass die moderne Gesellschaft kulturell und strukturell (und sogar linguistisch) zwischen einer Haltung und Erfahrung aktiver Beherrschung (oder Herrschaft) und einem komplementären Gegenmodus passiven oder rezeptiven Unterworfenseins hin- und herschwankt und dass sich eben hier in der Spätmoderne eine Radikalisierung vollzieht: Der Erfahrung einer Beinahe-Omnipotenz etwa in der Atomkernspaltung oder überhaupt in der Naturbeherrschung stehen die Ohnmachtserfahrungen der Atom- oder Klimakatatsrophe gegenüber; der gewaltig gesteigerten Ferbedienungsmacht im Smartphone steht die Machtlosigkeit angesichts des Serverausfalls gegenüber, und das politische Allmachtsversprechen der uneingeschränkten demokratischen Volkssouveränität bricht sich an der Realerfahrung politischer Ohnmacht angesichts von Klimawandel, Finanzmärkten etc. Dieser Zustand, so die zu entwickelnde These, lässt sich nicht durch Steigerung der Handlungsmacht überwinden, sondern druch die (Wieder-) Entdeckung der Möglichkeit eines mediopassiven Weltverhältnisses, bei dem Selbstwirksamkeit nicht mit Herrschaft und Affizierung nicht mit Ohnmacht verbunden ist und bei dem sich aktiv und passiv gar nicht eindeutig unterscheiden lassen. Das Resonanzkonzept, so lautet die Kernthese des Vortrags, bringt diese Art des Weltverhältnisses begrifflich auf den Punkt."
(
Link)
" ... (Wieder-)Entdeckung der Möglichkeit eines mediopassiven Weltverhältnisses"! - Donnerlittchen!
Gehalten wurde der Vortrag anläßlich eines Workshops "Zwischen aktiv und passiv: Theorien, Konzepte und Praktiken eines Mediopassiv" des Max-Weber-Kollegs. Zwei Tage Mediopassiv!
Daß die Inspirationskraft des Mediopassiv derjenigen der Reaktanz ebenbürtig ist, zeigt der Vortrag von Joris Atte Gregor, in Jena zuständig für Geschlechterforschung, die in ihrem Vortrag den Gedanken entfaltet, daß es sich bei der Sexualität um ein "materiell-affektiv-diskursives Phänomen" handelt, "in dem Leib, Körper, Begehrensstruktur und intimes KörperHandeln in einer nichtorientierbaren Dynamik miteinander in Beziehung treten."
Näheres zu "nichtorientierbaren Dynamiken" hier:
Lust-Punkt