Gefühl des Verstehens - Aha Erlebnis

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Stefanie
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Do 20. Jul 2023, 22:28

Meine eine hat auch etliche Beiträge angefangen, geschrieben und sie dann doch nicht gepostet. Nicht nur allgemeine Themen, oder zum letzten Thema, durchaus auch welche mit philosophischen Bezug. Normalerweise beglücke ich das Forum mit Reiseberichten, wenn ich mir mal was angeguckt habe und nicht nur zu den Erfahrungen mit der Bahn, wie vor kurzem.

Das hier finde ich zB interessant..
Aha-Momente – vom Fühlen und Finden der Erkenntnis
Bahnbrechende Erkenntnisse entspringen fast immer einem Geistesblitz. Phänomenologisch besehen, steckt hinter diesem nicht weniger als ein Gefühl des Verstehens. Doch wie sieht das aus und wie verhilft es uns zu besseren Erkenntnissen?

https://www.philomag.de/artikel/aha-mom ... erkenntnis



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Stefanie
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Fr 21. Jul 2023, 22:57

Es geht in dem Text nicht um bahnbrechende Geistesblitze.
Es geht um das Gefühl des Verstehens.
Noch nie ein Aha Erlebnis, einen Geistesblitz gehabt, und sich so gefühlt, wie in dem Text beschrieben?

Es geht auch um das:
Nun kann man einwenden – und das ist das zentrale Argument der Dichotomie-Befürworter – dass dies zwar mit Glück gelingen mag, die Erkenntnisfunktion von Gefühlen jedoch grundlegend an ihrer Unzuverlässigkeit krankt. Warum sollte uns das Aha-Erleben nicht gleichermaßen täuschen wie die Angst vor der Hausspinne, die nichts weiter ist, als ein falsches Indiz für Gefahr? Während die Psychologie mit diversen Studien zu antworten vermag, die die Zuverlässigkeit mehrheitlich unterstreichen, kann aus philosophischer Perspektive mit der Gefühlsstruktur selbst argumentiert werden: Können zwar nicht Missverständnisse aller Art ausgeschlossen werden, so wohl aber jene, die auf grundlegende Abwege führen. Wie Verschwörungserzählungen gut verdeutlichen, fehlen in diesen Fällen die Voraussetzungen dafür, dass der Verstehensprozess durch einen Geistesblitz abgeschlossen wird. Denn die Pseudotheorie bietet lediglich einen Ausweg, eine Fluchtmöglichkeit aus der Anstrengung heraus, vor die uns der Erklärungsversuch unerklärlicher Phänomene stellt. Es gelingt ihr nicht, das Rätsel zu lösen, indem die gegebenen Bestandteile kohärent zusammengefügt werden. Viel mehr tauscht sie die Teile schlichtweg aus, liefert eine gänzlich andere Erklärung, in der die eigentlichen Informationen, die in Zusammenhang gebracht werden sollten, keine Rolle mehr spielen. Damit wird dem Verstehenden die Möglichkeit auf eine erleichternde, hart erkämpfte Auflösung genommen. -Gefühl.
(...)
Das Geheimnis liegt in den richtigen Voraussetzungen, die der Findige herzustellen vermag. Und diese bestehen im Falle des Geistesblitzes wohl in der radikalen Aufgabe der bisher vermuteten Lösung. Nur wer die Stärke hat, von der mühsam erarbeiteten These zurückzutreten, wer bereit ist, sie als Sackgasse anzuerkennen und sich Neuem zu öffnen, wird durch das Aha-Erlebnis belohnt. Wer allerdings das sinkende Schiff umklammert und gedankliche Abschweifungen scheut, der verbannt es aus dem eigenen Erfahrungsraum. Denn es braucht die scheinbar unproduktive Ablenkung – einen Spaziergang, ein nettes Gespräch oder eben die Zeitung – um dem Gefühl einen Entfaltungsraum zu bieten.



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Jörn Budesheim
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Sa 22. Jul 2023, 06:32

Ein wichtiger Aspekt, den ich begrüße und akzeptiere, ist die Infragestellung der Dichotomie von Gefühl und Verstand: Der Aha-Moment ist ein „Gefühl des Verstehens“, Verstand und Gefühl spielen zusammen. Das überrascht nur, wenn man sich Vernunft und Gefühl als Gegensätze vorstellt. Emotionen* sind aber selbst eine Form des Verstehens. Das Aha-Erlebnis ist ein Beispiel dafür, es ist eine besondere Form des Verstehens.

Nach der Passage, die ich gerade in eigenen Worten (hoffentlich einigermaßen korrekt) wiedergegeben habe, schreibt Antonia Siebeck: "Um diese Funktion begreifen zu können, hilft es, zunächst einen Blick auf die beiden zentralen Begriffe des Gefühls und des Verstehens zu werfen."

Aber was sind die beiden zentralen Begriffe des Fühlens und des Verstehens? Ich bin mir nicht ganz sicher. Da Siebeck aber im nächsten Absatz den Unterschied zwischen "Wissen" und "Verständnis" erläutert, nehme ich an, dass diese beiden Begriffe gemeint sind. Unter Wissen versteht Siebeck, wenn ich es richtig sehe, in diesem Zusammenhang propositionales Wissen - "wissen, dass p". Verständnis dagegen ist weiter gefasst. Die einzelnen Bausteine des Wissens fügen sich so zu einem kohärenten/stimmigen Ganzen zusammen. So jedenfalls verstehe ich die Passage. Es entsteht ein Netz von Informationen, durch das der verstandene Gegenstand erklärbar wird, heißt es sinngemäß. Welche Rolle dabei die Gefühle spielen, ist mir noch nicht ganz klar. Vielleicht hat es etwas mit dem Gefühl von Kohärenz/Stimmigkeit zu tun?

Der Geistesblitz ist ohne vorhergehende Anstrengungen nicht zu haben. Das ist sicherlich einer der wichtigsten Punkte im Text, oder? Ohne eine intensive Suche, mit allen Ab- und Umwegen gibt es keinen Geistesblitz: "Erst vor dem Hintergrund der aufreibenden Anstrengung, der Frustration durch die immer gleichen gedanklichen Sackgassen, die uns nicht entkommen lassen; erst vor dem Hintergrund der erfolgreichen Leistung, die aus dem Wirrwarr ein kohärentes Informationsnetz werden lässt, wird der emotional erlebte Fund phänomenologisch greifbar." fehlt diese Anstrengung, fehlt auch der Geistesblitz, was Siebeck am Beispiel von Verschwörungstheorien zu zeigen versucht. (Siehe die Passage, die Stefanie zitiert hat.) Wer mogelt, kann mit keinem Aha-Erlebnis rechnen. Das gleiche gilt für die, die unverdrossen an den alten Lösungen festhalten: "Nur wer die Stärke hat, von der mühsam erarbeiteten These zurückzutreten, wer bereit ist, sie als Sackgasse anzuerkennen und sich Neuem zu öffnen, wird durch das Aha-Erlebnis belohnt." Das erinnert mich an das Buch von Carlos Rovelli "Helgoland", das ich vor kurzem gelesen habe - da ging bei der Revolution der Quantenphysik wohl unentwegt darum, alte Bilder hinter sich zu lassen.

Neben der Anstrengung, der Mühsal braucht es aber oft auch die scheinbar "unproduktive Ablenkung - zum Beispiel einen Spaziergang". Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Oft ist das Muster so: Es gibt zunächst eine Phase des Sammelns von Informationen, von Wissen. Aber es fehlt der Überblick, die einzelnen Puzzleteile liegen unverbunden nebeneinander - und dann plötzlich und unerwartet, bei besagtem Spaziergang zum Beispiel, fügt sich alles zu einem Bild zusammen, der Knoten ist geplatzt.



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* Die Ausdrücke Emotion und Gefühl verwende ich hier synonym, ebenso Vernunft und Verstand.




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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2023, 07:00

Schade, dass der Text im Philomagazin keine Linkliste hat und auch die Zitate nicht belegt sind, ich hätte sehr gerne mehr von Bernhard Waldenfels zu diesem Thema gelesen. Leider konnte ich mit Hilfe des Zitats nichts vonmihm finden, aber immerhin habe ich beim Stöbern folgende sehr kurze Sequenz von Thomas Gruber gefunden, wenn auch nicht von einer philosophischen Fakultät, sondern der psychologischen :)
Wenn Sie jemandem die Lautfolge „Mähenäbteheuäbtemähennieheuäbtebeten“ vorsprechen, wird ihr Gegenüber wahrscheinlich annehmen, Sie reden Unsinn.


Vieles aus dem Artikel des Philomagazins findet sich in diesen wenigen Zeilen bestätigt. Zum Beispiel, dass eine Reihe großer Einsichten auf solche Heureka-Momente zurückzuführen sind. Gruber nennt den Chemiker August Kekulé und natürlich viel bekannter die berühmte Anekdote von Newton und dem fallenden Apfel.

Wichtig scheint mir, dass in solchen Momenten "Inselwissen" zu einem "Ganzen" verbunden wird. Was natürlich gleichzeitig bedeutet, dass Geistesblitze nie aus dem Nichts kommen, das inselhafte Wissen muss schließlich vorher erworben werden :)

Hieß es im Philomagazin noch, solche Momente seien unverfügbar, so schränkt Gruber dies etwas ein und schreibt: "Wie und ob wir neue neuronale Verknüpfungen willentlich erzeugen und damit einen Moment der Einsicht erzwingen können, ist nicht völlig geklärt."




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Stefanie
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So 23. Jul 2023, 07:21

Cooles Beispiel.
In dem Moment wo er Äbte sagte, fing es an zu klick zu machen. Das konnte man auch ganz gut an den Reaktionen der Zuhörer*innen erkennen.
Aber aussprechen kann ich es noch nicht.



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Jörn Budesheim
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So 23. Jul 2023, 07:25

Der Aha-Moment blieb mir leider verwehrt, denn ich kenne das Beispiel seit über einem halben Jahrhundert, es war einer der Lieblingsspäße meines Großvaters :) allerdings in einer kleinen Abwandlung, bei meinem Großvater hieß es: "Mähen Äbte Heu? Äbte mähen kein Heu, Äbte mähen Gras."




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Stefanie
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So 23. Jul 2023, 20:13

Mir ist es auch nicht gelungen, einen frei verfügbaren Text zu Waldenfels zu finden.

Gefühl des Verstehens hat mich irgendwie angesprochen. Ich glaube, dass ich das erstmal anders verstanden habe, als Jörn.
Jörn hat geschrieben
"Emotionen* sind aber selbst eine Form des Verstehens. Das Aha-Erlebnis ist ein Beispiel dafür, es ist eine besondere Form des Verstehens."

In dem Moment, wo ich etwas verstanden habe, wie zB. beim aha Effekt, erlebe ich Emotionen. Nicht so erhabene wie in dem Beispiel mit Rousseau. Aber Freude, Erleichterung, und auch mal Stolz. Dies ist aber doch die Folge des Verstehens, und nicht das Verstehen an sich.
Oder?



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Jörn Budesheim
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Mo 24. Jul 2023, 09:25

Stefanie hat geschrieben :
So 23. Jul 2023, 20:13
Mir ist es auch nicht gelungen, einen frei verfügbaren Text zu Waldenfels zu finden.

Gefühl des Verstehens hat mich irgendwie angesprochen. Ich glaube, dass ich das erstmal anders verstanden habe, als Jörn.
Jörn hat geschrieben
"Emotionen* sind aber selbst eine Form des Verstehens. Das Aha-Erlebnis ist ein Beispiel dafür, es ist eine besondere Form des Verstehens."

In dem Moment, wo ich etwas verstanden habe, wie zB. beim aha Effekt, erlebe ich Emotionen. Nicht so erhabene wie in dem Beispiel mit Rousseau. Aber Freude, Erleichterung, und auch mal Stolz. Dies ist aber doch die Folge des Verstehens, und nicht das Verstehen an sich.
Oder?
Ich würde diese Passage gleich zu Beginn des Texts anders lesen. [meine Hervorhebungen]
philomag.de hat geschrieben : Für den Anfang tut man gut daran, sich den Aha-Moment als ein „Gefühl des Verstehens“ vorzustellen. Er hat also sowohl mit unserem Verstand, als auch mit einem emotionalen Erleben zu tun. [...] die Debatte um eine erkenntnisfördernde oder gar -stiftende Funktion von Emotionen [ist] jung und randständig. [Beim] Aha-Erleben ... handelt [es sich] nicht bloß um ein lustbereitendes Phänomen, einen netten Zusatz zu der Erkenntnis.
Aber ich glaube, ich habe die Pointe des Textes auch noch nicht ganz verstanden. So wie ich das bisher sehe, besteht die erkenntnisfördernde oder gar erkenntnisstiftende Funktion dieser Erfahrung darin, dass sie uns das "Objekt" plötzlich als Ganzes vor Augen führt, wo wir vorher nur einzelne Erkenntnisstücke hatten.




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