Geografische Psychologie

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Stefanie
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Mi 9. Aug 2023, 15:32

https://www.spektrum.de/news/persoenlic ... gt/2165613
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Wie der Wohnort uns prägt

Unterscheiden sich die Einwohner verschiedener Regionen und Landschaftsräume systematisch in ihrem Charakter? Und wenn ja, wie kommt das? Solche Fragen erforschen geografische Psychologen.

Seit einigen Jahren suchen Fachleute auf dem Gebiet der geografischen Psychologie nach systematischen Unterschieden in der Verteilung von Persönlichkeitseigenschaften zwischen Land- und Stadtbevölkerung, Nordlichtern und Südländern, Ost und West oder auch zwischen den Bewohnern küstennaher und gebirgiger Regionen. Laut den Ergebnissen leben an manchen Orten tatsächlich substanziell mehr gesellige, gewissenhafte, offene oder extravertierte Menschen als anderswo.
AUF EINEN BLICK
STADT, LAND, PSYCHE
Mentalitätsunterschiede in verschiedenen Landesteilen oder Regionen gründen nicht bloß auf populären Vorurteilen. Auch Psychologen bestätigen manche solcher Differenzen.
So leben in Großstädten im Schnitt mehr neurotische Persönlichkeiten, und Küstenbewohner sind im Vergleich zu Menschen in anderen Gegenden häufig etwas offener.
Insgesamt sind diese Unterschiede zwar nicht riesig, aber recht stabil. Sie gehen auf verschiedene Ursachen zurück, darunter Migrationsströme, soziale Anpassung und Klimaeffekte.
(...)
Hier haben sich in den vergangenen Jahren mehrere Modellannahmen herauskristallisiert. Die erste betrachtet die regionalen Persönlichkeitsunterschiede als Ausdruck der lokalen Sozialstruktur. Städte oder Gemeinden mit überdurchschnittlich junger Bevölkerung zeigen demnach eher höhere Werte für Offenheit, in solchen mit hoher Kriminalitätsrate sind die Einwohner dagegen im Schnitt zum Beispiel verschlossener und weniger verträglich.
Die zweite, damit zusammenhängende Erklärung nimmt historische Migrationsströme in den Blick. So ziehen aus ökonomisch schlechter aufgestellten, etwa ländlichen Gegenden vermehrt extravertierte und gewissenhafte, sprich: ehrgeizige Menschen weg.
Drittens spielen wohl auch Umweltbedingungen wie die Bevölkerungsdichte (Stadt versus Land) oder die Topografie der Landschaft (Flachland versus Berge) eine Rolle dabei, welche Mentalitäten in einzelnen Ländern oder Regionen vorherrschen.
(...)
Vom Umfeld »umerzogen«
Menschen, die in einer Gemeinschaft zusammenleben, etablieren beinahe automatisch gewisse Normen und Selbstbilder, die ihr eigenes Handeln leiten. Selbst eine introvertierte Westfalin dürfte sich, wenn sie etwa zum Studium oder Job nach Köln geht, dort eher gesellig ­zeigen und so von ihrem neuen Umfeld »umerzogen« werden.

Kurz erklärt:
Mensch-Umwelt-Passung definiert den Grad der Übereinstimmung zwischen individuellen Eigenschaften und Umweltfaktoren. Die zentrale Annahme ist, dass die Lebensqualität steigt, je mehr die Umgebung mit der eigenen Persönlichkeit korrespondiert, etwa durch kulturelle Einrichtungen (Theater, Bibliotheken und so weiter) oder den vorherrschenden Lebensstil vor Ort.
Manche Erklärungen kann ich nachvollziehen, wie die "soziale Ansteckung" oder auch das "Vom Umfeld erzogen".

Aber kann es uns wirklich ein Wohnort, ein geographischer Wohnort wie Berge oder See, so prägen, dass sich der Charakter ändert? Ich weiß nicht..



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Quk
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Mi 9. Aug 2023, 17:03

Sehr interessant.

Man darf bei solchen Kategorisierungen nur nicht vergessen, dass das Durchschnittswerte sind, und die gehen mal ein bisschen in die eine oder andere Richtung. Bloß nicht verallgemeinern.

Wenn an einem bestimmten Ort häufiger der Typ X vorkommt, heißt das nicht, dass dort alle vom Typ X sind.




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Mi 9. Aug 2023, 17:47

Einfluss auf die Psyche und den s.g. "Charakter" etc. dürfte so ziemlich alles haben (zumindest potenziell). Ich hätte ein Problem, wenn die Rede auf bestimmte (womöglich noch "Volks"- etc.)"Mentalitäten" zusteuert (ggf.), die so manchen angeblichen "Landsleuten" usf. zugeschrieben werden. Ansonsten ist's tatsächlich ein interessantes (neues?) Thema.




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Stefanie
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Mi 9. Aug 2023, 18:03

Ich kann einiges nachvollziehen, was in dem Artikel steht.
Aber bleibt ein Dickkopf nicht doch immer ein Dickkopf, egal in welcher Region jemand wohnt?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Mi 9. Aug 2023, 18:12

Vielleicht wurde er aber auch erst durch die "Region" zu einem... 😉




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Stefanie
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Mi 9. Aug 2023, 20:19

Hmm. Ich denke, dass es doch bestimmte Eigenschaften gibt, die eine Person von Anfang an hat, und zwar unabhängig davon, wo die Person wohnt.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Mi 9. Aug 2023, 23:43

Auch das. "Es gibt nichts, dass es nicht gibt". 😉




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Quk
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Do 10. Aug 2023, 07:46

Der Artikel erwähnt oft bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Extravertiertheit und so weiter, und beschreibt, wie diese örtlich auf andere Menschen wirken. Er setzt also voraus, dass es Persönlichkeitsmerkmale schon gibt, bevor sie in diesem speziellen Forschungsgebiet weiter untersucht werden.

Ein anderer Gedanke im Allgemeinen:

Ich glaube, dass vieles in diesen psychologischen Theorien tendenziell stimmt -- nur tendenziell. Man sollte mit diesen Tendenzen kein absolutes und präzises Vorhersage-System konstruieren, denn das würde der gesunden, zweifelnden Wissenschaftlichkeit einen esoterischen, kaffeesatzartigen Anstrich geben. Ich denke, dass diese Tendenzen sehr, sehr grob gemessen wurden, weil es schlichtweg in der Psychologie nur sehr grobe Messinstrumente gibt. In den Naturwissenschaften hingegen kann man beispielsweise mit einem Lineal eine Länge "nahezu objektiv" messen, und wenn man keins hat, kann man "Pi mal Daumen" grob messen. Das geisteswissenschachftliche Fach der Psychologie jedoch kommt meines Erachtens nicht einmal an die halbwegs brauchbare Schärfe des "Pi mal Daumen" heran, weil schlichtweg keine kalibrierbaren Referenzen verfügbar sind. Das Ergebnis sind dann sehr grobe Zahlen wie in einem Wetterbericht für den übernächsten Samstag, wo man schätzt, dass es Temperaturen geben wird zwischen 10 und 30 Grad, also man hat eine Toleranz von 20 Grad, womit man nicht viel anfangen kann, aber immerhin hat man eine grobe Tendenz. Je größer die Toleranz, desto wahrscheinlicher wird die Vorhersage zutreffen. Wenn eine Vorhersage einen Bereich angibt zwischen -50 und +50 Grad, dann wird sie sicher zutreffen. Neulich fragte mich eine Psychologin in einer universitären Umfrage, wie ich meine Besorgnis einschätzen würde auf einer Skala von 1 bis 10. Ich war sprachlos und fragte sie, wofür die 10 stehe. Für "suizidgefährdet" vielleicht? Sie verneinte und sagte, die 10 stehe eher für "sehr besorgt". 5 wäre dann so "mittel besorgt". -- Mit solchen unscharfen Messwerkzeugen werden Geistesinhalte gemessen. Die aufgestellten Theorien, wie auch jene in der Geopsychologie, fußen auf solchen Messungen. Also, ich denke, man sollte damit kein Haus bauen. Aber es hilft bei der Überlegung, ob man morgen einen Regenschirm mitnehmen sollte.




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Jörn Budesheim
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Do 10. Aug 2023, 08:02

AUF EINEN BLICK - STADT, LAND, PSYCHE
  • Mentalitätsunterschiede in verschiedenen Landesteilen oder Regionen gründen nicht bloß auf populären Vorurteilen. Auch Psychologen bestätigen manche solcher Differenzen.
  • So leben in Großstädten im Schnitt mehr neurotische Persönlichkeiten, und Küstenbewohner sind im Vergleich zu Menschen in anderen Gegenden häufig etwas offener.
  • Insgesamt sind diese Unterschiede zwar nicht riesig, aber recht stabil. Sie gehen auf verschiedene Ursachen zurück, darunter Migrationsströme, soziale Anpassung und Klimaeffekte.
Lukas Spatz hat geschrieben : Laut den Ergebnissen leben an manchen Orten tatsächlich substanziell mehr gesellige, gewissenhafte, offene oder extravertierte Menschen als anderswo.
Lukas Spatz hat geschrieben : die zu verzeichnenden Effekte [sind] in der Regel klein. Auch wenn in Dortmund also insgesamt etwas mehr extravertierte Menschen als in Marburg leben, ist das kein Unterschied wie Tag und Nacht. Selektions­effekte und Stereotype spielen bei der subjektiven Wahrnehmung sicherlich hinein.
Stefanie hat geschrieben :
Mi 9. Aug 2023, 20:19
Hmm. Ich denke, dass es doch bestimmte Eigenschaften gibt, die eine Person von Anfang an hat, und zwar unabhängig davon, wo die Person wohnt.
Ich halte das für völlig plausibel, dass unsere (biologische, kulturelle, etc.) Umwelt einen gewissen Einfluss darauf hat, wer wir werden. Aber in dem Artikel wird auch betont, dass man die beobachteten Effekte nicht überbewerten darf. Wenn es so etwas gibt, wie eine introvertierte Veranlagung, dann wird (schätze ich) die entsprechende (biologische, kulturelle, etc.) Umwelt daraus wohl eher nicht eine extrovertierte* Person machen.

* wieso gibt es neben der Form extravertiert auch die orthografische Variante extrovertiert? Der Grund ist ebenso banal wie offensichtlich: Es handelt sich um eine Angleichung der Schreibweise an introvertiert, die der engen Verwandtschaft der beiden Ausdrücke als Gegensatzpaar Rechnung trägt. (korrekturen.de)




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