Welche Aspekte des Menschseins sind angeboren, und welche erwerben wir erst im Kontakt mit unserer Kultur?

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Jörn Budesheim
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Di 17. Okt 2023, 19:31

Die Aufgabe in dem Test ist doch, wenn ich mich nicht völlig falsch erinnere, zufällig den Finger zu heben.




Marcus Breitmeyer
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Di 17. Okt 2023, 19:45

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 19:16
Der Gedanke ist eigentlich eher, dass Emotionen selbst etwas rationales sind :)
Für mich ist das ein Gegensatz. 😀

emotional vs rational

Dass die Emotionen, ihrem Wesen nach, rational beschreibbar sind, will ich damit keineswegs in Abrede stellen.

Ganz sicher gibt es auch einen rationalen Einfluss des Bewusstseins auf die Emotionen. Ist doch die jeweils bewertete Vorstellung zum Teil auch ein Ergebnis rationaler Überlegung. Wir suchen nach Lösungen, bis uns das Glück zuteil wird, eine geeignete gefunden zu haben, die wir dann umsetzen.




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Jörn Budesheim
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Di 17. Okt 2023, 20:01

Marcus Breitmeyer hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 19:45
Dass die Emotionen, ihrem Wesen nach, rational beschreibbar sind, will ich damit keineswegs in Abrede stellen.
Die Idee ist nicht, dass die Emotion rational beschreibar ist, sondern die Idee ist, dass Emotionen in sich selbst eine Form der Rationalität sind.




Marcus Breitmeyer
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Di 17. Okt 2023, 20:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 19:31
Die Aufgabe in dem Test ist doch, wenn ich mich nicht völlig falsch erinnere, zufällig den Finger zu heben.
Es ging um spontane Entscheidungen. Egal was wir machen: Das ist nie im eigentlichen Sinne Zufall. Der revolutionäre Aspekt des Libet-Experiments bestand darin, dass jeder Bewegung und damit auch jeder willkürlich intendierten, eine unbewusste Entscheidung voraus geht, die uns erst zeitverzögert bewusst wird. Damit war die Freud'sche Hypothese, wir würden bewusst entscheiden, in wesentlichen Teilen widerlegt. Damit ist das Drei-Instanzen-Modell aber noch nicht hinfällig. Es muss nur angepasst werden:

Hirnstamm = Es = unbewusst
Kleinhirn = Ich = vorbewusst
Großhirn = Über-Ich = bewusst

Ich hoffe, ich werde jetzt von den Psychoanalytikern nicht als Ketzer verfolgt und lande auf dem Scheiterhaufen! 😉




Marcus Breitmeyer
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Di 17. Okt 2023, 20:10

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 20:01
Die Idee ist nicht, dass die Emotion rational beschreibar ist, sondern die Idee ist, dass Emotionen in sich selbst eine Form der Rationalität sind.
Nicht, ohne den Begriff "Rationalität" ad absurdum zu führen. Meines Erachtens.




Marcus Breitmeyer
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Di 17. Okt 2023, 22:09

Marcus Breitmeyer hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 15:16
Allgemein erfolgt die emotionale Steuerung unbewusst. Es braucht dafür kein Bewusstsein. Wir (und auch alle Tiere mit einer Großhirnrinde) haben eines, was uns im Rahmen der bewussten Selbst-Wahrnehmung (= Selbst-Bewusstsein) ermöglicht, das jeweilige Ergebnis der emotionalen Steuerung rational zu kontrollieren. Hier arbeiten Kleinhirn (vorbewusst) und Motorkortex (bewusst) eng zusammen.
Auf den Aspekt der bewussten Selbst-Kontrolle möchte ich noch einmal weiterführend eingehen: Die Axone der großen Pyramidenzellen (Betz-Riesenzellen) im Motorkortex (hinterer Rand des Frontallappens) bilden die (nach ihnen benannte) Pyramidale Bahn. Gemeinsam mit der Extrapyramidalen Bahn aus dem Hirnstamm (Kleinhirnkerne via Nucleus ruber) bilden sie die motorische Bahn im Rückenmark. Beide werden in den Ganglien exzitatorisch auf die motorische Endplatte am jeweiligen Muskel umgeschaltet. Demzufolge greift der Motorkortex bewusst in die Motorik ein. Die Betz-Zellen sind, neben den Purkinje-Zellen im Kleinhirn, der leistungsstärkste Neuronentyp in unserem Gehirn. Der Einfluß des Bewusstseins auf die Motorik ist nicht nur vorhanden, er ist auch sehr stark! Aber: Die POSITIVE Entscheidung zu handeln, erfolgt immer unbewusst und niemals bewusst. Der Motorkortex agiert nicht, er reagiert nur im Rahmen der bewussten Selbst-Kontrolle. Der schnellen unbewussten emotionalen (Bauch-) folgt eine langsame bewusste rationale (Kopf-) Entscheidung. Unter der Voraussetzung, dass dafür genug Zeit ist. Unter Lebensgefahr zählt Schnelligkeit. Deshalb hat sich dieses Prinzip bewährt. Grundsätzlich hat der Motorkortex drei Möglichkeiten, eine unbewusst eingeleitete Bewegung bewusst zu kontrollieren: Wir können uns a) gehen lassen, uns b) Beuger contra Stecker verspannen, oder das intendierte Handeln c) mit Nachdruck bestätigen. Dieser bewusste Teil der Entscheidung wurde von Benjamin Libet in seinem Experiment NICHT widerlegt.




Marcus Breitmeyer
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Di 17. Okt 2023, 23:11

Um die Wirkungsweise von Emotionen zu begreifen, ist es erforderlich, die Sache anschaulich zu machen. Nehmen wir als Beispiel die Angst. Im Hirnstamm gibt es einen Kern (bestehend aus Neuronen des gleichen Typs) namens Nucleus caeruleus. Die Neuronen des NC nutzen Noradrenalin als Transmitter und haben damit eine definierte Wirkung (Aufladung des Endoplasmatischen Retikulums) am jeweiligen Zielneuron (Postsynapse). Bei der besagten Aufladung strömen Ca++ Ionen vom Zellsoma in das ER. Dadurch wird die Zelle negativer und inaktiver. Man spricht hier von neuronaler Inhibition. Die Aktivität noradrenerger Neurone hemmt die Aktivität der Neurone im Zielgebiet. Indem der Nucleus caeruleus sowohl ins Kleinhirn, als auch in den frontalen Kortex verschaltet, hemmt Angst die Motorik. Um das zu erreichen, muss aber zunächst der NC selbst aktiviert werden. Also schaut man nach: Woher bekommt der NC seinen (exzitatorischen) Input? Hier ist es so, dass die Aktivierung im Wesentlichen durch den Thalamus erfolgt, und zwar unspezifisch. Bekommt der Thalamus viel zu tun, nimmt die Angst zu, hat er wenig zu tun, nimmt sie ab. Da der Thalamus als Schaltzentrale des Großhirns fungiert, folgt die Intensität der Angst proportional der Aktivität des Bewusstseins. Je schwieriger die bewusste Lösung eines Problems oder die Zahl der Probleme ist, umso größer wird die Angst. Was uns effektiv davon abhält, zu handeln, bevor wir eine Lösung gefunden haben.




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Quk
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Mi 18. Okt 2023, 00:42

Marcus Breitmeyer hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 18:14
Quk hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 16:58
Ich tendiere zu der Ansicht, dass Qualia weder im physischen Kopf stattfinden, noch dass ein Qualia erlebendes Subjekt vorhanden sein muss, noch dass überhaupt (Selbst-)Bewusstsein dabei sein muss.
Deine ersten beiden Annahmen teile ich (im Hinblick auf die Empfindungen und die Bewegungen) nicht, die dritte aber durchaus.
Vermutlich denkst Du an die korrelierenden Hirnaktivitäten im Kopf. Klar, die finden dort statt. Aber die meine ich nicht, wenn ich "Qualia" sage. Ein Quale wie "rot" oder "salzig" hat noch niemand im Kopf beobachtet. Ich meine damit nicht die Beobachtung der korrelierenden Hirnaktivitäten, sondern die Qualität "rot" oder "salzig" an sich. Ich meine, diese Qualität ist etwas raumloses, und daher ist es keinem Raum zuordenbar. Zuordenbar ist nur die korrelierende Hirnaktivität, aber die ist weder "rot" noch "salzig". Wenn ich eine Kirsche rieche, ist im Schädel keine Kirsche. Verstehst Du, was ich meine?




Marcus Breitmeyer
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Mi 18. Okt 2023, 02:05

Quk hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 00:42
Vermutlich denkst Du an die korrelierenden Hirnaktivitäten im Kopf. Klar, die finden dort statt. Aber die meine ich nicht, wenn ich "Qualia" sage. Ein Quale wie "rot" oder "salzig" hat noch niemand im Kopf beobachtet. Ich meine damit nicht die Beobachtung der korrelierenden Hirnaktivitäten, sondern die Qualität "rot" oder "salzig" an sich.
Karte ≠ Gebiet. Oder anders ausgedrückt: Vorstellung ≠ Vorsehung. Die (psychische) Vorstellung der Sinne im Innen ist niemals identisch mit der (physischen) Vorsehung der Dinge im Außen, weder zeitlich noch räumlich. Die Schwierigkeit besteht darin, den inneren Raum gegen den äußeren eindeutig abzugrenzen. Wenn wir über rot und salzig reden, geht es bereits um die Sinne und deren Wahrnehmungen, also um Wechselwirkungen zwischen beiden.
Quk hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 00:42
Ich meine, diese Qualität ist etwas raumloses, und daher ist es keinem Raum zuordenbar. Zuordenbar ist nur die korrelierende Hirnaktivität, aber die ist weder "rot" noch "salzig". Wenn ich eine Kirsche rieche, ist im Schädel keine Kirsche. Verstehst Du, was ich meine?
Die Kirsche ist eindeutig im Außen beheimatet. Selbiges gilt für Aromen in Atemluft und Nahrung oder für ausgesendete elektromagnetische Wellen. Bilden unsere Sinnesorgane die Grenze, weil sie es sind, die physische Reize in neuronale Erregungsmuster umwandeln? Ich denke, dass diese Annahme zweckmäßig ist. Würdest Du dem folgen?




1+1=3
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Mi 18. Okt 2023, 02:18

Ich komme mit dem Lesen nicht mehr nach. Ihr seid jetzt bei Qualia, die aber kein Subjekt benötigen? Oder habe ich da etwas falsch verstanden? Mal sehen, ob ich morgen mehr Zeit finde...




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Quk
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Mi 18. Okt 2023, 02:19

Marcus, ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders, nämlich bei den Empfindungsqualitäten an sich. Die bestehen meines Erachtens nicht aus physikalischer Masse oder physikalischer Energie. Deine Gedanken, so scheint mir, sind gerade bei den physikalischen Vorgängen im Kopf, deren Reihenfolgen und deren Timing.




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Quk
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Mi 18. Okt 2023, 02:44

1+1=3 hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 02:18
... Qualia, die aber kein Subjekt benötigen?
Zu dieser Auffassung tendiere ich. Bin mir aber noch nicht ganz sicher.

Auch in der Bewusstlosigkeit können Qualia geschehen; Bewusstlosigkeit definiere ich als einen Zustand, in dem kein Selbstbewusstsein vorliegt.

Von dieser Feststellung ausgehend ist es nicht mehr weit zu der Annahme, dass überhaupt kein Subjekt anwesend sein muss, um Qualia geschehen zu lassen. Ein Lebewesen ist dann schlichtweg ein Feuerwerk aus Qualia, das als Lebendgesamtkunstwerk ohne Ich-Kern in der Welt tätig ist. Ich meine, der Versuch, den Ich-Kern im Schädel zu finden, ist alt. Gefunden hat ihn noch niemand. Auch Qualia kann man nicht orten. Im Schädel ortet man nur Aktivitäten, aber keine Qualitäten. Statt den Ich-Kern (das Subjekt) an einem bestimmten Punkt im Lebendgesamtkunstwerk zu suchen, tendiere ich zu der Auffassung, dass dieses Lebendgesamtkunstwerk das Subjekt schon ist, mit all seinen Qualia und Netzbeziehungen. Man findet den Wald vor lauter Bäumen nicht? Man findet das Ich vor lauter Neuroblitzen nicht? Das Gesamtwerk ist das, was gesucht wird. Und zwar nicht nur die Summe dessen Einzelteile, sondern auch deren Beziehungen zueinander machen das Gesamtwerk aus. Die Sache ist dann auch skalierbar auf größere Organismen: Man kann Menschengruppen als Organismus auffassen. Diese können abermals Beziehungen bilden und so weiter. In solchen Verflechtungen ist es schwierig, Ich- oder Subjekt-Kerne auszumachen, zumal das Hirn und andere Gruppierungen sich dauernd verändern.




Marcus Breitmeyer
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Mi 18. Okt 2023, 03:21

Quk hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 02:19
Marcus, ich bin mit meinen Gedanken ganz woanders, nämlich bei den Empfindungsqualitäten an sich. Die bestehen meines Erachtens nicht aus physikalischer Masse oder physikalischer Energie. Deine Gedanken, so scheint mir, sind gerade bei den physikalischen Vorgängen im Kopf, deren Reihenfolgen und deren Timing.
Hallo Quk,

mir ist die Qualia-Thematik völlig neu. Hab gerade mal bei Wikipedia rein geschaut, um einen groben Überblick zu erhalten. Im Unterpunkt 'Qualia-Argumente' habe ich nachfolgenden Absatz gefunden, der mich sehr an unser aktuelles Gespräch erinnert:
(...) Nun argumentieren die Vertreter der metaphysischen Lesart weiter, dass die Gedankenexperimente aber gezeigt hätten, dass es möglich sei, dass neuronale Zustände ohne Qualia auftreten. Also könnten Qualia nicht mit Eigenschaften von neuronalen Zuständen identisch sein. Eine solche Argumentation muss sich natürlich den Einwand gefallen lassen, dass die Gedankenexperimente gar nicht zeigen, dass es möglich sei, dass neuronale Zustände ohne Qualia auftreten. Sie zeigen nur, dass dies vorstellbar ist. Vertreter der metaphysischen Lesart erwidern darauf, dass a priori Vorstellbarkeit immer auch prinzipielle Möglichkeit impliziert. (...)
Dem letztgenannten Argument muss ich vehement widersprechen! Die Tatsache, dass falsche Vorstellungen ein häufiges Phänomen sind, schließt die a priori Implikation einer prinzipiellen Möglichkeit im Rahmen der Vorstellbarkeit aus. Für falsche Vorstellungen ist charakteristisch, dass sich die auf ihrer Basis theoretisch (Denken) erarbeiteten Strategien als praktisch (Handeln) unmöglich erweisen. Was für Strategien gilt, betrifft auch alle anderen logischen Schlussfolgerungen.

Mir liegt die "erkenntnistheoretische Lesart" ganz allgemein und auch sonst näher, als die "metaphysische". Ich nehme an, bei Dir ist es umgekehrt, oder? 🤔

Viele Grüße, Marcus




Marcus Breitmeyer
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Mi 18. Okt 2023, 04:15

Quk hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 02:44
Auch in der Bewusstlosigkeit können Qualia geschehen; Bewusstlosigkeit definiere ich als einen Zustand, in dem kein Selbstbewusstsein vorliegt. Von dieser Feststellung ausgehend ist es nicht mehr weit zu der Annahme, dass überhaupt kein Subjekt anwesend sein muss, um Qualia geschehen zu lassen.
Selbstbewusstsein ist dem Subjekt zu eigen, oder auch nicht, insofern es keine (intakte) Großhirnrinde (mehr) besitzt. Aber wo ist der Link zum Verschwinden des Subjekts? Wie kommst Du zu der Annahme, es bräuchte keines?
Quk hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 02:44
Ein Lebewesen ist dann schlichtweg ein Feuerwerk aus Qualia, das als Lebendgesamtkunstwerk ohne Ich-Kern in der Welt tätig ist. Ich meine, der Versuch, den Ich-Kern im Schädel zu finden, ist alt. Gefunden hat ihn noch niemand.
Wenn Du mich fragst, dann bilden die Kleinhirn-Kerne den Ich-Kern. Sie sind die einzige Struktur im Kleinhirn, deren Axone aus dem Kleinhirn hinaus verschalten.
Quk hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 02:44
Auch Qualia kann man nicht orten. Im Schädel ortet man nur Aktivitäten, aber keine Qualitäten. Statt den Ich-Kern (das Subjekt) an einem bestimmten Punkt im Lebendgesamtkunstwerk zu suchen, tendiere ich zu der Auffassung, dass dieses Lebendgesamtkunstwerk das Subjekt schon ist, mit all seinen Qualia und Netzbeziehungen. Man findet den Wald vor lauter Bäumen nicht? Man findet das Ich vor lauter Neuroblitzen nicht? Das Gesamtwerk ist das, was gesucht wird.
Instanz (psychisch) ≠ Subjekt (physisch).

Das Ich ist eine psychische Instanz und als solche nicht mit dem Subjekt im Sinne des "Lebendgesamtkunstwerks", deren Teil sie unbestritten ist, gleichzusetzen. Um in Deinem Bild zu bleiben: Das Ich ist ein Baum unter vielen anderen im Wald. Dessen innere Struktur zu untersuchen, halte ich für notwendig, um sie zu begreifen. Auch, was die genaue Funktion des Ichs betrifft. Wir reden reflexiv von Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein, Selbstentfremdung, Selbstgerechtigkeit, Selbstverleugnung, Selbstvergessenheit, Selbstlosigkeit, Selbstständigkeit, etc.. All diese Kategorien beziehen sich auf das Ich, aus der bewusst rationalisierenden Perspektive des Über-Ichs beurteilt. Ob man nun die Freud'sche Terminologie benutzen will oder nicht: Die Existenz der psychischen Instanzen ist schon anhand des allgemeinen Sprachgebrauchs überhaupt nicht zu leugnen.




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Jörn Budesheim
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Quk hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 16:58
Hypothetisch-fantasierend -- und das ist jetzt sehr spekulativ -- könnten bestimmte Moleküle (hormonelle, zum Beispiel), die sich auf einem Teller befinden, bereits Qualia geschehen lassen (die dann aber nicht auf dem "Teller" sind, sondern raumlos sind und ganz unphysikalisch sind -- im Sinne der zeitgenössischen Physik).
In einem Interview (2019) mit Matthias Eckholdt erwähnt Markus Gabriel beiläufig, dass der Neurowissenschaftler Giulio Tononi Qualia in der Petrischale für möglich hält.




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Jörn Budesheim
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Mi 18. Okt 2023, 09:00

Marcus Breitmeyer hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 23:11
Um die Wirkungsweise von Emotionen zu begreifen, ist es erforderlich, die Sache anschaulich zu machen. Nehmen wir als Beispiel die Angst. Im Hirnstamm gibt es einen Kern (bestehend aus Neuronen des gleichen Typs) namens Nucleus caeruleus. Die Neuronen des NC nutzen Noradrenalin als Transmitter und haben damit eine definierte Wirkung (Aufladung des Endoplasmatischen Retikulums) am jeweiligen Zielneuron (Postsynapse). Bei der besagten Aufladung strömen Ca++ Ionen vom Zellsoma in das ER. Dadurch wird die Zelle negativer und inaktiver. Man spricht hier von neuronaler Inhibition. Die Aktivität noradrenerger Neurone hemmt die Aktivität der Neurone im Zielgebiet. Indem der Nucleus caeruleus sowohl ins Kleinhirn, als auch in den frontalen Kortex verschaltet, hemmt Angst die Motorik. Um das zu erreichen, muss aber zunächst der NC selbst aktiviert werden. Also schaut man nach: Woher bekommt der NC seinen (exzitatorischen) Input? Hier ist es so, dass die Aktivierung im Wesentlichen durch den Thalamus erfolgt, und zwar unspezifisch. Bekommt der Thalamus viel zu tun, nimmt die Angst zu, hat er wenig zu tun, nimmt sie ab. Da der Thalamus als Schaltzentrale des Großhirns fungiert, folgt die Intensität der Angst proportional der Aktivität des Bewusstseins. Je schwieriger die bewusste Lösung eines Problems oder die Zahl der Probleme ist, umso größer wird die Angst. Was uns effektiv davon abhält, zu handeln, bevor wir eine Lösung gefunden haben.
Um die Wirkungsweise von Emotionen zu verstehen, ist es notwendig, sie zu veranschaulichen. Nehmen wir als Beispiel die Angst. Stellen wir uns vor, Karla und ihre kleine Tochter Luise treffen irgendwo auf ein Kätzchen. Luise erschrickt total, bricht sogar in Tränen aus und klammert sich an Karla. Karla nimmt sie auf den Arm, um sie zu beschützen und zu trösten. Sie versucht, ihre Tochter zu beruhigen: Du brauchst keine Angst zu haben, das ist doch nur ein kleines Kätzchen, das tut dir nichts. Schau, wie es sich an meine Beine schmiegt. Wo es wohl herkommt? Wie es wohl heißt? Schau, wie schön es ist, die schwarzen Flecken! Ich hatte früher selbst eine Katze, lange bevor du auf die Welt gekommen bist, sie hieß übrigens Luise. Sie lächelt dabei ihre Tochter Luise bedeutungsvoll an. Wenig später gelingt es Karla sogar, Luise dazu zubringen, das Kätzchen ganz vorsichtig zu streicheln.

Die Emotion Angst hat, wie alle Emotionen, ihren Platz in unserer Lebenswelt. Angst sagt uns (lässt uns spüren), dass Gefahr droht, etwas wird (im Erfolgsfall) als gefährlich erkannt. Das Gefährliche ergreift uns - je nach Schwere - leiblich, Angst ist auch etwas Körperliches, sonst könnte sie ihre Dringlichkeit nicht so gut anmelden. Wobei Emotionen in der Regel auch kulturell geformt werden wie in dieser kleinen Alltagsgeschichte angedeutet. Emotionen richten sich also oft auch an unsere Mitmenschen: Wären die Gefühle irgendwo in Luise verborgen, wüsste die Mutter gar nicht, dass etwas nicht stimmt und könnte ihr nicht helfen. Dieser sog. "Gefühls-Ausdruck" ist selbst Teil der Emotion. Wichtig ist in diesem Zusammenhang ist dementsprechend die Triangulation der beiden: Sie beziehen sich gemeinsam auf das vermeintliche Objekt der Angst, die harmlose kleine Katze. Wir werden solchen alltäglichen Situationen nicht gerecht, wenn wir sie irgendwie in unser Inneres (zum Beispiel das Gehirn) verlagern, denn das ist nicht der Schauplatz der dieser Geschichte.

Ich akzeptiere natürlich, dass ein funktionierendes Gehirn eine notwendige Zutat für Wesen wie uns ist (für andere Wesen könnte es anders sein), aber der Blick auf das Gehirn reicht bei weitem nicht hin, um Angst zu verstehen, dazu müssen wir dorthin schauen, wo sich unser Leben abspielt, denke ich. Stellen wir uns vor, Außerirdische blicken mit ihren hochpräzisen Scannern auf Karla und Luise. Was auch immer sie in ihren Gehirnen sehen (Qualia jedenfalls nicht), sie werden nicht verstehen, worum es in dieser Situation geht, wenn sie selbst nie Angst hatten und daher die Institution des Trostes nicht kennen. Um das zu verstehen, muss man, glaube ich, auf der Ebene des (Er)Lebens sein.




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Jörn Budesheim
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mo 23. Dez 2019, 15:38
Richard Schröder aus dem Aufsatz des Lachzentrum: "Vor einiger Zeit wurde per Zufall im Gehirn des Lachzentrum entdeckt. Wenn man die fragliche Region im Gehirn einer Person mit einer Elektrode reizt, dann fängt sie an zu lachen. Und zwar ganz unabhängig davon, ob in ihrer Umgebung etwas Witziges oder Lächerliches vorgefallen ist. Bei dieser Gehirnregion handelt es sich also um die notwendige Voraussetzung für unsere lebensweltliche Fähigkeit zu lachen. Diese Person lachte "bloß mit Ursache im Gehirn, aber ohne Grund in der Welt. Nichts Lächerliches war vorgefallen. Es war ein weltloses Lachen und wenn wir nicht wüssten, dass es von der der Elektrode kommt, würden wir sagen: die Arme ist verrückt, das ist ja ein irres Lachen." (R.S.)


Ungefähr ab 2:10 min.




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Marcus Breitmeyer hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 04:15
Wenn Du mich fragst, dann bilden die Kleinhirn-Kerne den Ich-Kern
Das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass das Ich etwas Materielles ist. Das Ich hat (unter anderem) seinen Platz im sozialen Raum. Ich, du, er, sie ... sind die Spieler im Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen.




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Jörn Budesheim
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Marcus Breitmeyer hat geschrieben :
Di 17. Okt 2023, 22:09
Benjamin Libet
Das Experiment wurde in der Tat in der Philosophie rauf und runter diskutiert. Man darf aber nicht vergessen, dass dieses Experiment (soweit ich weiß) in den 80er Jahren durchgeführt wurde. Seitdem ist viel passiert, es gab meines Wissens viele andere Experimente, die die Ergebnisse von Libet teilweise in Frage gestellt haben.




Marcus Breitmeyer
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Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 11:21
Das Ich hat (unter anderem) seinen Platz im sozialen Raum.
Hallo Jörn,

Wenn Dein Ich sich in Dir aufhält, und Du Dich im sozialen Raum, trifft das auch zu. Deine Annahme, dass Ich sei außerhalb des Gehirns zu verorten, halte ich nicht für plausibel. Selbiges gilt für die Angst. Wir sind in Kontakt mit unserer Umwelt, klar. Aber physisch und nicht psychisch.

Ich kann mich in die Lage eines Anderen hinein versetzen, indem ich ihn beobachte und mir dann vorstelle, ich wäre jetzt er. Mein eigenes emotionales System wird diese Vorstellung bewerten, wie jenes des Anderen seine Vorstellung bewertet. Diese beiden - jeweils autonomen! - Bewertungen werden umso ähnlicher ausfallen, je ähnlicher die beiden (biologischen und/oder technischen) Vorstellungs- und Bewertungssysteme sind. Das bringt mich zu der Folgerung, dass Selbstähnlichkeit eine wesentliche Bedingung für Empathie-Fähigkeit ist.
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Mi 18. Okt 2023, 11:21
Das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass das Ich etwas Materielles ist.
Glauben machen vs Wissen schaffen.
Die Frage ist: Was soll erreicht werden?

Sind immaterielle Phänome beobachtbar und der Wissenschaft zugänglich? Oder sind das unbeobachtbare Phantome, die sich jeder Wissenschaft entziehen?

Viele Grüße, Marcus




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