Anthropodizee

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Stefanie
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So 17. Dez 2023, 21:55

Ein noch junger Begriff.
https://de.wiktionary.org/wiki/Anthropodizee:
  • Wer um eine Anthropodizee bemüht ist, fragt nach einer Rechtfertigung des Menschen in Ansehung menschenverursachter Übel."
    „Längst ist eine Anthropodizee notwendig geworden, also eine Rechtfertigung des Menschen gegenüber einer Anthropologie, derzufolge WIR es gewesen sein sollen, die das Leid in die Welt brachten

https://de.wikipedia.org/wiki/Anthropod ... ntwortlich.
Wer um eine Anthropodizee bemüht ist, fragt nach einer Rechtfertigung des Menschen in Ansehung menschenverursachter Übel.

https://www.philoclopedia.de/2014/05/23/anthropodizee/



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Di 19. Dez 2023, 08:57

Abgeleitet von der Theodizee, nehme ich an. Dabei geht es sinngemäß um die Rechtfertigung Gottes angesichts des von ihm zugelassenen, aber nicht gewollten Bösen in der Welt. Wenn man Gott für gut und allmächtig hält, stellt sich diese Frage fast zwangsläufig.

Doch wie weit geht diese Analogie? Der Mensch ist nicht allmächtig, und zwar zum Guten fähig, aber natürlich nicht schlechthin gut.

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass in diesem Ausdruck - ohne dass es Absicht ist - eine gewisse Hybris mitschwingt.




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Stefanie
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Do 21. Dez 2023, 11:20

Die eine Frage betrifft Gott, die andere den Menschen.
Menschen, die nicht an Gott glauben bzw. sagen, es gibt keinen Gott, müssen sich doch als Menschen fragen, warum lässt der Mensch so viel Leid in der Welt zu. Wie können wir uns rechtfertigen? Da es keinen Gott gibt, kann ein Gott auch nicht der Adressat dieser Frage sein.
Gemeinsam ist bei den Texten, die man so findet, dann doch wieder die Verknüpfung von Religion, Gott und Anthropodizee. Das finde ich schon erstaunlich, dass selbst bei der Frage der Rechtfertigung menschliches Handelns es doch wieder auf Gott heraus laufen zu scheint.

Zur Anthropodizee ist frei verfügbar nicht viel zu finden. Einen Autor findet man immer wieder: Michael Blume, ein Religionswissenschaftler.
Wesentlich mehr frei verfügbare Texte findet man zu dem Thema, welches sich aus der Anthropodizee ergibt: Antinatalismus. Die Frage, wie können wir noch Leben in die Welt bringen, wenn dieses Leben nur Leid und schließlich den Tod erleidet.

Ein Zitat von Michael Blume:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-g ... -religion/
Und logisch ist m.E. Antinatalisten wie Théophile de Giraud Recht zu geben: Wenn es keine Gottheit und keinen ewigen Sinn gibt, wenn alles Leben und Sterben nur im zeitlichen Rahmen stattfindet, dann gibt es keine absoluten Begründungen mehr für das Hervorbringen weiteren, bewussten Lebens. Denn jedes Kind wird leiden, Leid verursachen und schließlich sterben, wie schließlich auch der Planet und das gesamte Universum. Dies gilt sogar besonders bei “Überbevölkerung”, durch die Menschen ihre pflanzliche und tierische Umwelt beeinträchtigen oder gar zerstören. In dieser Perspektive wäre es sogar “egoistisch”, wenn sich Eltern für ihre emotionalen Bedürfnisse für (weitere) Kinder entscheiden oder wenn Gemeinschaften und Staaten Elternschaft etwa durch wirtschaftliche oder institutionelle Förderung unterstützen: Sie brächten nur weiteres Leid hervor, das keinem höheren Sinn diente.
Und ein längerer Artikel von Deutschlandfunk:
https://www.deutschlandfunk.de/kinder-k ... u-100.html

Aus dem Artikel:
Antinatalismus gab es schon lange vor der Klimadebatte. Ausgangspunkt der Ablehnung menschlicher Geburt war und ist oft das menschengemachte Leid. Denn Leben bedeutet auch Leiden. Der Lebende selbst leidet im Laufe seines Daseins, und er fügt mit großer Wahrscheinlichkeit auch anderen Leid zu – Menschen und Tieren. So eine Grundannahme des Antinatalismus.
Dem zugrunde liegt die sogenannte Anthropodizee-Frage. Anders als die Theodizee-Frage, die nach einer Rechtfertigung Gottes angesichts des Leides in der Welt sucht, fragt die Anthropodizee-Frage: Wie ist das menschliche Leben zu rechtfertigen, wenn es doch immer auch zu Leid führt? Eine Frage, die jetzt neu diskutiert wird – anhand der Klimakrise.

Wenn es doch Leid auf der Welt gibt, mit welchem Recht soll es dann weitere Menschen geben? Also: Hast Du das Recht, überhaupt noch Menschen auf die Welt zu bringen?“
Blume: „Im Grundsatz kann man sogar sagen, haben Religionen ganz stark die Funktion gehabt, die Anthropodizee-Frage positiv zu beantworten. Also in der Bibel ist das allererste Gotteswort an die Menschen: ‚Seid fruchtbar und mehret Euch!‘ Also die Aufforderung, das Leben weiterzugeben. Und es gibt schon im Talmud eine ganz spannende Debatte darüber, wo Rabbiner darüber streiten, ob es eigentlich gut ist, geboren zu werden. Und interessanterweise kommen sie zu dem Ergebnis: Nein, es ist nicht gut, weil es gibt Leid auf der Welt. Aber Gott hat es uns eben geboten. Also wir sollen das. Es ist Teil unserer Aufgabe, das Leben eben zu durchleben und dabei zu bleiben. Gott möchte Leben, sagt ja zum Leben.“



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Stefanie
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Do 21. Dez 2023, 11:30

Im oben zitierten Artikel wird ein Lied von den Ärzten zitiert:




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Jörn Budesheim
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Do 21. Dez 2023, 14:22

Stefanie hat geschrieben :
Do 21. Dez 2023, 11:20
Die eine Frage betrifft Gott, die andere den Menschen.
Menschen, die nicht an Gott glauben bzw. sagen, es gibt keinen Gott, müssen sich doch als Menschen fragen, warum lässt der Mensch so viel Leid in der Welt zu. Wie können wir uns rechtfertigen? Da es keinen Gott gibt, kann ein Gott auch nicht der Adressat dieser Frage sein.
Gott wird als vollkommen vorgestellt und der Mensch eben nicht. Das macht für die Frage einen großen Unterschied. Warum lässt ein vollkommenes Wesen das Böse zu? Das ist erstaunlich. Aber dass ein (gelinde gesagt) unvollkommenes Wesen das Böse zulässt, ist doch zu erwarten, oder? Eine der Lösungen des Theodizeeproblems ist doch, dass Gott in seiner Vollkommenheit dem Menschen die Freiheit gegeben hat, die dann auch die Fähigkeit zum Bösen einschließt. So hängen die beiden Fragen dann wohl doch zusammen. Ob man's glaubt oder nicht :-)




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Stefanie
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Do 21. Dez 2023, 22:38

Ich glaube es nicht. Wie soll man einen Zusammenhang herstellen, wenn es keinen Gott gibt?



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Jörn Budesheim
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Fr 22. Dez 2023, 07:29

Dass Du nicht an Gott glaubst, ändert doch nichts an der Bedeutung des Begriffs. Die Person, die den Begriff Anthropodizee geprägt hat, hat diesen Bezug zur Theodizee doch sicher bewusst hergestellt. Und nun frage ich, worin er besteht, wo man den Menschen doch nicht als ein vollkommenes Wesen betrachten darf. Ob Gott existiert oder nicht, ist für diese Frage unbedeutend.




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Quk
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Di 9. Jan 2024, 09:13

Interessantes Thema. Vielleicht müssen wir beim machtbegrenzten Menschen nicht eine Allmacht voraussetzen sondern einfach bloß die Macht innerhalb seiner Begrenztheit. Mit so einer Machtrelation bekämen die Anthropodizee und die Theodizee einen gemeinsamen Nenner:

(A) Es gibt die Macht Gottes. (Sie ist groß). Warum lässt er innerhalb seines Machtspielraums so viel Übles zu?
(B) Es gibt die Macht des Menschen. (Sie ist klein). Warum lässt er innerhalb seines Machtspielraums so viel Übles zu?

Der gemeinsame Nenner heißt demnach:
Warum lässt er innerhalb seines Machtspielraums so viel Übles zu?

Ob der Machtspielraum klein oder groß ist, spielt keine Rolle. Sondern die Hauptfrage lautet: Warum handelt X so schlecht, obwohl er es besser machen könnte?




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Quk
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Registriert: So 23. Jul 2023, 15:35

Di 9. Jan 2024, 09:39

Ein spontaner Erklärungsversuch: Wie wir wissen, wenn der Mensch in unbekanntem Gebiet handeln muss, sei es empirischer oder rationaler Art, so arbeitet er nach dem Prinzip "Versuch & Fehler".

Eine gewisse Fehlerquote ist im System "Mensch" also schon mal unvermeidlich. Solche Fehler sind aber gesund, weil sie zu Wissen führen. Wahrscheinlich erfüllen etwa 50% aller menschlichen Handlungen die Erwartungen.

Darüberhinaus kann es aber auch sein, dass das Prinzip "Versuch & Fehler" selbst nichts Gutes ist. Wenn dieses Prinzip selbst fehlerhaft ist, dann übersteigt die Fehlerquote die 50%. Der Mensch steht dann nicht nur bis zum Bauchnabel im Matsch, sondern bis zur Brust. Aufgrund dieser Unausgewogenheit über die Mitte hinaus, kann der Mensch nicht besser handeln.

Der darauf folgende Nebensatz heißt dann nicht: "... obwohl er besser handeln könnte". Sondern: "... er kann es nicht besser". Denn sogar die Prinzipien, nach denen sein System funktioniert, müssen variieren, damit ein stetiger Prinzipien-Wettkampf immer das beste Prinzip herausfiltert. So kann eine zunächst gut erscheinende Handlung hinterher als eine schlechte sich herausstellen -- und umgekehrt. Da sind so viele Fehler auf so vielen Ebenen, dass der Mensch in seiner Prinzipien-Prinzip-Kaskade es einfach nicht besser machen kann, auch wenn man meinen könnte, er wäre zu besserem fähig. Aber das ist eine Illusion.




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