Gründe und Argumente

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Jörn Budesheim
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So 25. Aug 2019, 08:44

Zum Unterschied von Gründen und Argumenten, wie er mir vorschwebt, vielleicht ein Beispiel.

In der oben dargestellten Hilfe-Situation mit der Person, die verletzt am Boden liegt, gibt es überhaupt gar keine argumentative Struktur, meine ich. Das kommt erst ins Spiel, wenn jemandem nicht klar ist oder zwischen mehreren strittig ist, was zu tun ist. Wenn etwa verschiedene Ansprüche in Konkurrenz treten.

Wir stellen uns vor, dass wir die verletzte Personen sehen, zugleich aber eine äußerst wichtige Verabredung haben, in der es auch für eine andere Person um sehr viel geht. Wir sind zudem nicht allein unterwegs und die andere Person sagt, wir müssen zur Verabredung weil p und daher können/müssen/dürfen wir der verletzten Personen nicht helfen. Hier kann es äußerst komplexe Argumentationstypen und Deliberation-Prozesse geben, zudem steht das ganze vermutlich unter Zeitdruck.

Es kann sein, dass wir entscheidende Gründe haben, tatsächlich zu der Verabredung zu gehen ... und es kann sein, dass die Argumentation uns zu den falschen Schlüssel führt. Die Argumentation, die vielleicht auch ein innerer Dialog sein kann, kann uns also die Irre führen und wir erkennen die tatsächlichen Gründe, die vorliegen nicht wirklich.




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Jörn Budesheim
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So 25. Aug 2019, 09:08

Segler hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2017, 14:43
Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 28. Okt 2017, 05:35
Segler hat geschrieben :
Fr 27. Okt 2017, 21:22
Nicht alle Gründe sind notwendig Tatsachen.
Z.b.?
Wenn ich mich über einen Sachverhalt irre, ist dieser keine Tatsache. Dennoch kann er ein Grund für mich sein, eine bestimmte Entscheidung zu treffen, eine Handlung auszuführen oder zu unterlassen. Ich kann diesen Grund auch in ein Argument einbringen.

Setzt man Gründe und Tatsachen gleich, so unterstellt man damit, dass Gründe immer wahr sind. Das sind sie aber offensichtlich nicht. Es wird regelmäßig mit falschen Begründungen argumentiert.
Erstens setze ich Gründe und Tatsachen gar nicht gleich, an keiner Stelle. Und zweitens glaube ich tatsächlich, dass Gründe immer "wahr" sind. Gründe liegen meines Erachtens vor, sie sind objektiv. Was wir für Gründe zu haben glauben und welche Gründe wir tatsächlich haben, das kann differieren. Vielleicht könnte man sagen, dass Argumentationen das Ziel haben, herauszufinden, welche Gründe tatsächlich vorliegen.




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Alethos
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So 25. Aug 2019, 09:21

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 06:32
Alethos hat geschrieben :
Sa 24. Aug 2019, 20:30
folgern
Ein "Folgern" gibt es jedoch in meiner Rekonstruktion nicht. Es gibt dort ein "Wahrnehmen, dass ...".

Der Hauptunterschied dürfte darin liegen, dass in manchen Rekonstruktionen Wahrnehmungen gleichsam nichts als kalte Tatsachen (passiv) erkennen, auf die ethische Regeln erst noch angewendet werden müssen (aktiv). Das ist vermutlich ein Nachfolger der zwei Stämme Lehre, der eine Stamm, die Sinnlichkeit, gibt den Input und der andere Stamm, die Vernunft, verarbeitet das.

Holzschnittartig dargestellt: Dabei ist die Sinnlichkeit gewissermaßen biologisch/"mechanisch"/ursächlich realisiert. Sie gehört in dem Dualismus von Schema und Inhalt natürlich zum Inhalt. Und auf den Inhalt wird dann das Schema geprägt.

In meiner Rekonstruktion nimmt man direkt einen normativen Sachverhalt wahr. Es gibt keine zwei Stämme, sondern eine gesamtheitliche Wahrnehmung eines normativen Sachverhalts. Dieser Sachverhalt besteht ohnehin. Er wird nicht erst durch die richtige Anwendung des Schemas gleichsam "erschaffen". Um diesen Sachverhalt wahrzunehmen, braucht es eine gewisse Registratur. Die Fähigkeit, normative Sachverhalte zu erkennen, bringen wir zum Teil mit und zum Teil müssen wir sie erst erlernen.
Meinst du es etwa so, dass, überspitzt formuliert, im Sehen schon ein Erkennen steckt? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es Situationen gibt, in denen so klar eingezeichnet ist, was der Fall ist, dass wir gleichsam aus dieser Tatsache die Information 'automatisch', wenn du so willst, prima vista, ermitteln.

Hat das aber nicht mit Erfahrung zu tun? Denn wir müssen ja die Tatsachen in einem Sachverhalt wie auch immer zueinander stehend als diesen Sachverhalt bildend bewerten, und wenn wir dies quasi augenblicklich tun, dann doch nur scheinbar ohne Grund. Die Gründe beinhalten sich als Information im Sachverhalt, und wir rufen ein Wissen um diese Gründe ab, das wir aus ähnlichen Sachverhalten schon kennen.
Wenn du so willst, haben wir ein routiniertes Auge für moralisch relevante Sachverhalte, manchmal reagieren wir auch 'instinktiv', wenn wir z.B. losrennen, um jemanden, der im Fallen begriffen ist, zu stützen, ohne zu überlegen. Aber hat das nicht alles mit Bewertung zu tun, mit einer augenblicklich stattfindenden wohl, aber doch nie nur mit Wahrnehmung. Denn Wahrnehmung ist ja mehr als blosses Sehen, es bedeutet, etwas als etwas als wahr zu erkennen, also eine Übereinstimmung herzustellen zwischen blossem Meinen und Wissen. Zu letzterem gehört, eine Registratur für die Gründe des Wahrseins zu entwickeln, damit aber auch die Einordnung des Gesehenen in seinen Zusammenhang zu leisten. Ohne, dass wir kombinierten, dass Person A in Situation B steckt, würden wir doch gar nicht wahrnehmen, dass es sich so und so verhält mit A.



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Alethos
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So 25. Aug 2019, 09:33

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 07:14
NS: 'Reine Vermutung' daher, weil wir nicht wissen können, ob jemand nur vorspielt, Schmerzen zu haben, oder er sie wirklich hat. Wir können sehen und hören, dass jemand Schmerz empfindet, wenn er 'Aua' schreit. Dies ja nicht willkürlich, denn es gibt deutliche Anzeichen (der Laut, das schmerzverzerrte Gesicht, die Wunde etc.), die uns darauf schliessen lassen, dass er Schmerzen hat und darauf schliessen wir, weil der Andere eben wie wir leidet. Wir sehen es ihm zwar an, zuverlässig, aber wir können uns täuschen, weshalb die Bewertung fallibel ist und zunächst nur Vermutung sein kann..
Richtig ist, dass wir uns täuschen können. Das gilt für alle unsere Sinne und Wahrnehmung. Daraus folgt jedoch meines Erachtens nicht, dass sie stets reine Vermutungen sind. Wenn ich die Dinge so wahrnehme, wie sie sind, dann liegt nicht nur eine Vermutung vor, sondern Wissen. Es hat keinen Sinn, die Erfolgsfälle der Wahrnehmung gleichsam in Sippenhaft zu nehmen ... es ist sinnlos zu sagen ich vermute vor mir steht ein Glas, wenn ich es direkt im Visier habe. Zweifel müssen auch für jeden Einzelfall begründet werden und können nicht einfach generell geäußert werden.
Wenn man einen Satz aus dem Zusammenhang nimmt, ihn in einem anderen Zusammenhang setzt, dann bedeutet er nicht dasselbe. :) Ich sage nicht, dass alle unsere Wahrnehmungen nur Vermutungen sind. Es geht ja um die Situation, dass Androide so perfekt menschengleich gebaut sein sollen, dass wir nicht erkennen sollen können, ob es sich um Menschen handelt oder nicht. Wenn wir es mit solchen Situationen zu tun haben, in denen wir ständig davon ausgehen müssen, von Androiden getäuscht zu werden, dann sind unsere Wahrnehmungen in Sippenhaft. Dann ist es ja so, dass wir in einem Modus des Dauerzweifelns operieren und dann ist es zunächst reine Vermutung, dass dieses Lächeln oder dieses Reden oder diese Geste menschlich ist oder nur maschinelle Reproduktion.

Dass die Tasse auf dem Tisch steht oder das Sofa unter meinem Körper, das Ipad links von mir liegt und das Möbel rechts steht: Das vermute ich nicht, sondern weiss es.



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So 25. Aug 2019, 09:48

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 08:27
Ich unterscheide z.b. zwischen Gründen und Argumenten, das habe ich weiter oben ausgeführt. Das ist übrigens der Gegenstand dieses Fadens. (An der Stelle bin ich allerdings noch nicht fertig... Die Zusammenhänge sind mir noch nicht wirklich völlig klar, daher finde ich es gut, wenn wir noch etwas weitermachen.)

Das Grundprinzip des Argumentierens ist p, weil q. Was damit gemeint ist/sein kann, habe ich am Beispiel der Geldanlage zu zeigen versucht. Bei p weil q kann die Argumentation bereits enden, muss aber natürlich nicht, wenn einer der Argumentation-Partner das Argument nicht akzeptiert z.b. Dann muss man erläutern, wieso q p stützt. In manchen Argumentationstheorien spricht man hier von Brücken-Prinzipien. Diese sollen plausibel machen, wie man von q nach p kommt. Diese Brücken-Prinzipien sind jedoch keineswegs einfach bloß deduktiv.
Aber sie sind auch deduktiv. Weiter oben hattest du auch den Begriff 'substantieller Schluss' angeführt und das zeigt doch, dass es beim Argumentieren auch um Gründe geht und sich Gründe auf die Form p, weil q bringen lassen: Aristoteles ist sterblich, weil alle Menschen sterblich und weil Aristoteles ein Mensch ist. Diese Form des Argumentierens ist deduktiv, und wenn es auch keinen substanziellen Schluss darstellt, so doch wenigstens einen Schluss.

Argumentationsketten können Deduktionen beinhalten und sie führen zu einem Ergebnis. Das Ziel des Argumentierens ist es doch, aus dem Zusammenhang der Gründe zu einer wahren Überzeugung zu gelangen. Sie steht am Ende einer argumentativen Rekonstruktion respektive ergibt sich aus ihr. Wir folgern durch Argumente (Grundzusammenhänge) auf Ergebnisse in Form von Einstellungen, Ansichten, Meinungen oder wir explizieren letztere durch Argumente. Es gibt eine Folgerichtigkeit, eine Stringenz, zwischen Ansichten und Argumenten, und das meine ich ist, weil sich erstere aus letzteren folgern lassen.



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So 25. Aug 2019, 09:54

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 08:27
Solche Argumente sind in der Regel substantiell und riskant. Sie sind schließlich für unser Leben äußerst bedeutsam. Dort geht es dann z.b. auch um Abwägen unter eingeschränkten Wissensbedingungen, induktionen und Wahrscheinlichkeiten...
Ja, tatsächlich. Aber sofern wir uns Gründe geben, führen wir sie zurück auf Bedingungen, aus denen wir dies und jenes folgern. Ich will hier nicht Syllogismen und substanzielles Argumentieren gleichsetzen, sondern ihren gemeinsamen Kern hervorheben: Stringenz.



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So 25. Aug 2019, 10:07

Alethos hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 09:48
Argumentationsketten können Deduktionen
Können ist nicht müssen.

"Doch wie steht es bei dieser Hochschätzung der Argumentationstheorie mit der Logik als Hort der Vernunft? Folgt man Theoretikern wie Perelman, Toulmin, Habermas oder Apel, dann wäre die Logik (zumindest in ihrer Rolle als Schlusslehre bzw. Syllogistik) angemessener als »spezielle« Argumentationstheorie zu bestimmen; als »spezielle« deshalb, weil sie nur argumentative Grenz- bzw. Ausnahmefälle berücksichtigt, nämlich solche Argumentationen, die schlüssig im strikt »logischen« Sinne sein können, weil sie strikt »analytisch« sind. [...] Solche analytischen Argumentationen sind erkennbar ebenso stringent, wie sie für die Argumentationspraxis wertlos sind; es gibt nämlich kaum Probleme, die sich mit ihrer Hilfe lösen ließen. [...] Die Praxis braucht nämlich etwas ganz anderes; Praxis braucht Argumentationen, die Ungewissheit durch methodisches Anschließen an geteilte Gewissheiten so weit zu reduzieren vermögen, dass sie ein auf bewährte Plausibilitätsannahmen gestütztes (!) und deshalb verantwortliches Reden und Handeln zulassen. Diese Argumentationen nennt Toulmin im Unterschied zu »analytisch«: »substanziell«. Substanzielle Argumentationen können gar nicht logisch stringent sein, weil sie sich an die Lösung von Problemen wagen, die mit den Mitteln analytischer Argumentation nicht einmal zugänglich wären. Entsprechend müssen sie ständig logische Toleranzgrenzen überschreiten." (Josef Kopperschmidt)




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So 25. Aug 2019, 10:07

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 08:44
Zum Unterschied von Gründen und Argumenten, wie er mir vorschwebt, vielleicht ein Beispiel.

In der oben dargestellten Hilfe-Situation mit der Person, die verletzt am Boden liegt, gibt es überhaupt gar keine argumentative Struktur, meine ich. Das kommt erst ins Spiel, wenn jemandem nicht klar ist oder zwischen mehreren strittig ist, was zu tun ist. Wenn etwa verschiedene Ansprüche in Konkurrenz treten.

Wir stellen uns vor, dass wir die verletzte Personen sehen, zugleich aber eine äußerst wichtige Verabredung haben, in der es auch für eine andere Person um sehr viel geht. Wir sind zudem nicht allein unterwegs und die andere Person sagt, wir müssen zur Verabredung weil p und daher können/müssen/dürfen wir der verletzten Personen nicht helfen. Hier kann es äußerst komplexe Argumentationstypen und Deliberation-Prozesse geben, zudem steht das ganze vermutlich unter Zeitdruck.

Es kann sein, dass wir entscheidende Gründe haben, tatsächlich zu der Verabredung zu gehen ... und es kann sein, dass die Argumentation uns zu den falschen Schlüssel führt. Die Argumentation, die vielleicht auch ein innerer Dialog sein kann, kann uns also die Irre führen und wir erkennen die tatsächlichen Gründe, die vorliegen nicht wirklich.
Du sagst, dass es in der obigen Situation mit dem Verletzten keine argumentative Struktur gibt. Meine Frage: Gibt es denn Gründe? Und, falls ja, stehen sie nicht immer schon in Zusammenhängen? Und ergeben sich aus diesen nicht apriori Argumentationen?

Du stellst den verletzt am Boden Liegenden als eine isolierte Tatsache dar, als käme er gar nicht in Sachverhalten vor, die Argumentationsstrukturen hervorbringen.
Ich kann das (noch) nicht so recht nachvollziehen.



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So 25. Aug 2019, 10:19

Alethos hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:07
Du stellst den verletzt am Boden Liegenden als eine isolierte Tatsache dar
Nach meiner Ansicht mache ich genau das Gegenteil! Tatsachen sind in einem weiten Sinne logische Gebilde und stehen somit immer im Zusammenhang mit anderen Tatsachen. Denn bei Tatsachen geht es schließlich um Wahrheiten. Wir haben es hier neben anderen mit einem normativen Szenario zu tun. Das ist für mich der Grund, warum es zu uns "sprechen" kann, auch wenn es ausgebildete Ohren braucht, um das Richtige zu hören.

Für mich liegt keine isolierte Tatsache vor, die z.b. erst noch bewertet werden muss. Die Umstände selbst zeigen die Dringlichkeit der Hilfe an.




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So 25. Aug 2019, 10:47

Alethos hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:07
Du sagst, dass es in der obigen Situation mit dem Verletzten keine argumentative Struktur gibt. Meine Frage: Gibt es denn Gründe? Und, falls ja, stehen sie nicht immer schon in Zusammenhängen? Und ergeben sich aus diesen nicht apriori Argumentationen?
Argumentationen, so verstehe ich den Begriff, gehören zur "Episteme", zur Erkundung, zum "Wissenwollen". In der Argumentation wollen wir herausfinden, was zu tun ist, was wahr ist. Gründe hingegen sind objektiv, sie liegen unabhängig von uns vor. Argumentation können versuchen die Gründe zu treffen, sie treffen sie aber nicht apriori... Denn sie können sie auch verfehlen.




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So 25. Aug 2019, 11:22

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:47
Alethos hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 10:07
Du sagst, dass es in der obigen Situation mit dem Verletzten keine argumentative Struktur gibt. Meine Frage: Gibt es denn Gründe? Und, falls ja, stehen sie nicht immer schon in Zusammenhängen? Und ergeben sich aus diesen nicht apriori Argumentationen?
Argumentationen, so verstehe ich den Begriff, gehören zur "Episteme", zur Erkundung, zum "Wissenwollen". In der Argumentation wollen wir herausfinden, was zu tun ist, was wahr ist. Gründe hingegen sind objektiv, sie liegen unabhängig von uns vor. Argumentation können versuchen die Gründe zu treffen, sie treffen sie aber nicht apriori... Denn sie können sie auch verfehlen.
Ich habe hier ein anderes Verständnis als du. Ich denke, dass objektiv gegebene Gründe sich in einem Sachverhalt verweben und die Argumente, die diesen Sachverhalt treffen, sind objektive Argumente. Sie ergeben sich aus der Sache. Ein Argument, das an diesen Gründen vorbei geht, ist dann eben gar keines.

Ich kann nicht verstehen, warum du Gründe und Argumente trennst, vielleicht auch, weil du unbeantwortet lässt, ob in der Situation des Verletzten Gründe vorkommen oder nicht. Denn dann könnten wir herausfinden, warum dieser Grund das Argument liefert, ihm zu helfen.



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So 25. Aug 2019, 11:27

Wieso lasse ich das unbeantwortet? ich sage das die ganze Zeit explizit! Ich dränge sogar darauf, dass objektive Gründe vorliegen, zu helfen und zwar wiederholt sage ich das. Die Situation selbst liefert Gründe zu helfen, was auch immer wir glauben.




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So 25. Aug 2019, 12:18

Okay, ich wollte es nur nochmal ganz sicher wissen, weil es nicht mehr klar war, wie Argumente und Gründe in deiner These zusammenspielen Und es bleibt unklar.

Es gibt also objektive Gründe, die fürs Helfen sprechen. Und wie du sagtest, gibt es objektiv Gründe, die fürs Unterlassen sprechen, z.B. liegt zwischen mir und dem Hilfsbedürftigen eine lebensgefährliche Stromleitung. Die Zeit drängt. Es gibt Menschen, die ihm direkt und schneller helfen können. Es zeigt sich, dass er sich alleine helfen kann, etc. Dies sind doch alles Gründe, die zusammenspielen. Das Abwägen dieser Gründe erschliesst sich doch uns nicht einfach durch Wahrnehmung, wir wägen ja ab, wir reflektieren. Das ist ein epistemischer Vorgang und zwar entlang objektiver Gründe. Das Argument ergibt sich meiner Meinung nach aus dem Gesamt dieser Gründe, sofern wir es überhaupt im Blick haben können. Dann aber ist das Argument nicht einfach etwas Erdachtes, vielmehr etwas von der Sache nach Bewertungsvorgängen Abgezogenes. Das Argument steckt im Sachverhalt drin, weil in ihm die Gründe, die für etwas sprechen, vorgezeichnet sind.

Unterscheidest du denn zwischen richtigen und falschen Argumenten? Inwiefern kann ein Argument überhaupt falsch sein, ist es doch die Fürsprache für eine Ansicht überhaupt. Natürlich kann eine Ansicht falsch sein, aber dann nicht wegen des falschen Arguments, sondern wegen des nicht vorhandenen?
Zuletzt geändert von Alethos am So 25. Aug 2019, 12:20, insgesamt 1-mal geändert.



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Nehmen wir noch mal das Beispiel mit der Giftschlange, die dich gefährdet. Da sie nur bewegliche Ziele angreift, hast du alle Gründe der Welt, stehenzubleiben. Du argumentierst jedoch: eine gefährliche Schlange! Da muss ich sofort fliehen!




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So 25. Aug 2019, 12:24

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 12:20
Nehmen wir noch mal das Beispiel mit der Giftschlange, die dich gefährdet. Da sie nur bewegliche Ziele angreift, hast du alle Gründe der Welt, stehenzubleiben. Du argumentierst jedoch: eine gefährliche Schlange! Da muss ich sofort fliehen!
Es gibt sowohl Grund zum Fliehen wie zum Stehenbleiben. Ich werde mich hüten stehenzubleiben, wenn ich mit ein, zwei Sätzen nach hinten der Gefahr viel effizienter entkommen kann. Das ist alles nicht so steril und binär, wie du es darstellst, so als ob es nur mich, die Schlange und die Gefahr gäbe, aber keine Eigenschaften :) Bewegt sich die Schlange? Macht sie ein Nickerchen. Ist sie vollgefressen? Ist sie aufmerksam und bissbereit? Ist sie abgelenkt? etc etc. Du zeichnest lauter Situationen, die so nicht einmal im Labor vorkommen können. Sachverhalte sind doch komplexe Situationen, deren präskriptiver Gehalt sich nicht aus einem Grund heraus allein verstehen lässt.



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So 25. Aug 2019, 12:52

Das Beispiel ist logisch möglich. Es ist so konstruiert, dass sich der Unterschied zwischen Argumenten und Gründen deutlich zeigt. Stehenbleiben ist deine Überlebenschance. Es ist möglich, dass du diese Gründe nicht kennst und daher falsch argumentierst, und fälschlicherweise glaubst, es sei fliehen angezeigt.




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So 25. Aug 2019, 13:28

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 25. Aug 2019, 12:52
Das Beispiel ist logisch möglich. Es ist so konstruiert, dass sich der Unterschied zwischen Argumenten und Gründen deutlich zeigt. Stehenbleiben ist deine Überlebenschance. Es ist möglich, dass du diese Gründe nicht kennst und daher falsch argumentierst, und fälschlicherweise glaubst, es sei fliehen angezeigt.
Stehenbleiben ist eine Möglichkeit, aber nicht die einzige. Ich könnte auch auf die Schlange drauf treten, wenn ich hohe Gummistiefel trage.

Ich sehe nur nicht, wie du Argumente von Gründen loslösen willst. Wenn ich ein Argument vorlege fürs Wegspringen, aber es liegt kein objektiver Grund für diese Option vor, dann gibt es auch kein Argument. Ich kann doch nicht für eine Handlung argumentieren, die keinen Grund bietet für diese Handlung.



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Mo 26. Aug 2019, 09:48

Ich spreche nicht von loslösen.

Bild

Der Unterschied, den ich sehe, entspricht dem Unterschied zwischen Fürwahrhalten und Wahrsein.




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Di 27. Aug 2019, 05:51

Ich habe gerade ein Zitat von Julian Nida-Rümelin zu Gründen gefunden, was recht gut hierher passt:

Der Realismus, für den ich plädiere, nimmt Gründe ernst. [...] Dieser Realismus geht davon aus, dass es empirische wie normative Tatsachen gibt, die für Überzeugungen, Handlungen, auch für emotive Einstellungen sprechen. Gründe sind nicht konstruiert, sondern real. Sie beziehen sich auf empirische und normative Tatsachen. Wer sich etwa für die Milderung des Weltelends einsetzt, hat dafür gute Gründe, da vermeidbares Elend ein – objektives – Unrecht darstellt.

Er nutzt sogar dieselbe Wendung, Tatsachen, die für etwas sprechen.




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Di 27. Aug 2019, 10:53

J. Nida-Rümelin hat geschrieben :
Di 27. Aug 2019, 05:51
Der Realismus, für den ich plädiere, nimmt Gründe ernst. [...] Dieser Realismus geht davon aus, dass es empirische wie normative Tatsachen gibt, die für Überzeugungen, Handlungen, auch für emotive Einstellungen sprechen. Gründe sind nicht konstruiert, sondern real. Sie beziehen sich auf empirische und normative Tatsachen. Wer sich etwa für die Milderung des Weltelends einsetzt, hat dafür gute Gründe, da vermeidbares Elend ein – objektives – Unrecht darstellt.
Das passt tatsächlich ziemlich gut hierher, auch weil es ein Zwischenergebnis darstellt, bei dem wir uns einig sein können. Für mich sind Gründe auch etwas Reales, sie sprechen objektiv für etwas.

Wo wir offenbar noch Diskussionsbedarf haben, ist bei der Frage nach Argumenten. Du sagst, sie seien etwas Konstruiertes. Ich sage, sie seien ein Zusammenhang von Gründen. Das denke ich deshalb, weil wir ja auf die Frage nach dem Grund für ein Argument fragen können. Was spricht denn für ein Argument, wenn nicht die Gründe, die für es sprechen? Ein Argument ist ebenso eine Tatsache, aber nicht so wie meine persönliche Ansicht eine Tatsache ist oder mein Geschmackssinn, sondern eine Tatsache, die aus einer objektiven Begründungsstruktur hervorgeht. Selbstverständlich ist das Argumentieren eine Handlung, etwas, was ich tue und indem ich es bin, der argumentiert, kennzeichnet sich mein Argument durch meine Präferenzen. Ich argumentiere für etwas aus der Optik meines Dafürhaltens. Aber insofern mein Argument überhaupt etwas geltend machen will, das sein soll, kann es sich gar nicht anders als auf "normative Tatsachen" beziehen.



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