Biographische Philosophie

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Stefanie
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Do 3. Mai 2018, 22:06

Gut, der Titel ist etwas seltsam; vielleicht fällt jemanden ein bessere Titel ein. Oder ein besserer Bereich wo das Thema hingehört.

Mir geht ein Nebengedanke aus den verschiedenen Threads zu Hannah Arendt, Sarah Kofman und den heute von Jörn geposteten Link zu Levinas nicht aus den Kopf.

Es gibt philosophische Schriften und Gedanken, die sind offensichtlich von und aus dem eigenem Erlebten entwickelt worden.
Konkret meine ich Arendt, Levinas und wohl auch Kofman. Alle drei wurden aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verfolgt.
Ihre Philosophien versuchen mit unterschiedlichen Ansätzen zu erklären, wie es dazu kommen konnte, wie es zukünftig verhindert werden kann. Bei Sarah Kofman weiß ich noch zu wenig, um es besser beurteilen zu können.

Popper zähle ich auch dazu, obwohl seine Lebensgeschichte anders verlaufen ist. Er hat u.a. aufgrund seiner gemachten Erfahrungen mit dem Kommunismus von diesem dann abgelassen. In seinem Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" sieht er u.a. Marx als Feind der offenen Gesellschaft an. Auch ist es vor dem Hintergrund der Nazi Zeit entstanden. Er hat sich auch zur Demokratie geäußert.

Ich finde Gemeinsamkeiten bei allen.
Menschlichkeit, Humanität, Freiheit, Denken, die Auseinandersetzung mit totalitären Systemen.

Levinas, Arendt, und Popper sind in den letzten Jahren wieder sehr populär geworden. Als wohl diejenigen, die in der Gefahr des erneuten Aufkommen von totalitären Systemen eine Antwort geben können.

Arendt ist politisch, Popper hinsichtlich seiner Demokratie Auffassung pragmatisch, Levinas konsequent und mich fasziniert er, weil noch nicht ganz durchschaut.

Diesen Nebengedanken wollte ich nur mitteilen.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
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Jörn Budesheim
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Fr 4. Mai 2018, 05:32

Bild

In dem Film über Derrida gibt es eine Szene, wo Derrida sich über die Biografie in der Philosophie äußert. Er meint, sie sei geradezu verpönt, den genauen Wortlaut habe ich nicht mehr im Kopf. Er zitiert zum Beleg eine wohlbekannte Sentenz Heideggers: "Die geringe Bedeutung, die Heidegger der Biografie eines Denkers zusprach, lässt sich an den Worten ablesen, mit welchen er einmal eine Vorlesung über Aristoteles eröffnete: 'Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb." (Zitiert nach Wikipedia)




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Joachim
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Fr 4. Mai 2018, 19:36

Stefanie,

was Du geschrieben halte ich für sehr wichtig. Es wäre wohl ungemein spannend zu ergründen, warum ein/-e PhilosophIn sich der Philosophie überhaupt zuwandte. Wie seine/ihre Biographie diese Entscheidung beeinflusste und überhaupt die jeweilige Philosophie. Ich finde dies auch insofern wichtig, als sicherlich jedes Mitglied hier im Forum seine ganz eigenen Beweggründe hat, warum er/sie sich mit Philosophie beschäftigt.


Joachim

P.S. Zum Thema Biographie noch ein Tipp: "Amor Mundi oder die Liebe zur Welt." http://www.brintrup.com/brintrup-film-e ... mundi.html Man kann dort die Sendung als MP3 herunterladen bzw. das Transkript als PDF. Eine wundervolle Sendung.



"Under the most diverse conditions and disparate circumstances, we watch the development of the same phenomena - homelessness on an unprecedented scale, rootlessness to an unprecedented depth." Hannah Arendt

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Stefanie
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Fr 4. Mai 2018, 21:44

Das Zitat von Heidegger passt irgendwie zu ihm.

Einen Philosophen habe ich gestern ausgelassen. Adorno.
Was auch daran liegt, dass ich mich bislang nur mit seinem Auschwitz Zitat beschäftigt habe.
Irgendwo hatte ich gelesen, dass Adorno persönliche Erlebnisse eingebunden hat. Blöderweise weiß ich nicht mehr wo, und finde die Stelle nicht mehr.



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Jörn Budesheim
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Sa 5. Mai 2018, 06:27

Ich hab auch eine vage Erinnerung, so was Mal gehört zu haben :-) Mir fällt dazu Amorbach ein (was für ein Name) wo Theodor Wiesengrund Adorno seine Kindheit verbracht hat. Ich meine, dazu hat er sich wiederholt geäußert. Über das berühmte "Busenattentat" dürfte er wohl weniger geschrieben haben. Aber das ist nur eine Vermutung.




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Stefanie
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Sa 5. Mai 2018, 20:12

Nochmal den Link, aber aus einem andere Blickwinkel.
https://derstandard.at/2000008136024/Sa ... -zu-halten

Der Artikel erwähnt ausdrücklich den biographischen Hintergrund und lässt so den Schluss zu, dass dieser die Philosophie definitiv beeinflusst hat.
Die Ähnlichkeiten mit einem Teil der der Gedanken von Hannah Arendt sind daher nicht verwunderlich, meiner Meinung nach.
Auch der Gedanke, dass ein gemeinsames wir handeln, nur möglich ist, wenn die Fremdheit dessen, was nicht gemeinschaftlich sein kann, die Gemeinschaft begründet, überrascht vor dem Hintergrund nicht. Man kann meiner Meinung nach, dass alles auch mit Levinas verknüpfen.

Diese philosophischen Gedanken und die gemachten Erfahrungen sollte man sich öfters vor Augen halten, gerade in der derzeitigen, aktuellen Situationen.
Natürlich gibt es auch Widerstand, von denen, die Philosophien, die vor einem biographischen Hintergrund entstanden, die Wissenschaftlichkeit absprechen, gerne an andere Stelle von Personen, die scheinbar lieber geschlossene Gesellschaften bevorzugen.



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Jörn Budesheim
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So 6. Mai 2018, 06:50

Was ist eine "biografische Philosophie"?

Dass die eigene Biografie einen zu philosophischen Fragestellungen treibt, würde ich für sich genommen noch nicht darunter rechnen. (Wann sollte es jemals anders sein?)

Und aus dem Umstand, dass die Fragen, die man stellt, sich aus der eigenen Biografie ergeben, folgt ja noch nicht, dass die Antworten, die man zu geben versucht, in irgendeiner Form "biografische" sind. Solange die Biografie nur die Motive zum Philosophieren liefert, kann man meines Erachtens nicht von "Biografischer Philosophie" sprechen finde ich; denn sonst könnte man auch von "biografischer Physik" sprechen, wenn jemand aufgrund eines bestimmten biografischen Datums zur Physik gekommen ist, was - wie gesagt - vermutlich immer der Fall ist.




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Friederike
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So 6. Mai 2018, 10:05

Jörn Budesheim hat geschrieben :
So 6. Mai 2018, 06:50
Was ist eine "biografische Philosophie"?
Da ich nun gerade den Aufsatz von K. Feyertag, "Vom Genre der Biographie"
gelesen habe, zitiere ich eine kurzen Abschnitt aus der "Einleitung":
K.F. hat geschrieben : In Bezug auf ein im Laufe dieses Beitrags zu bestimmendes Genre der Biographie soll hier das Augenmerk auf die Kategorie der Erfahrung gelegt werden, wie sie seit den 1970er Jahren in der feministischen Theorie diskutiert wird. Folgendes Zitat macht den Spannungsbereich zwischen autonomen Subjekten und Subjektivierungsdiskursen deutlich, in den sich auch Kofmans Texte einschreiben: Während zu Beginn der Zweiten Frauenbewegung feministische Wissenschaftlerinnen dafür eingetreten waren, die persönlichen (auch körperlichen) Erfahrungen von Frauen als Grundlage von Wissen und Erkenntnis anzusehen, wurde die kognitive Bedeutung von Erfahrung von post-strukturalistischen Wissenschaftlerinnen mit der Begründung verworfen, dass Erfahrung und Subjektivität als Effekte von Diskursen entstehen.
Unter einer biografischen Philosophie könnte man vielleicht -als eine Möglichkeit unter anderen- verstehen, den von F. aufgegriffenen Dissenz über den Status der Erfahrung zu thematisieren.




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Jörn Budesheim
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Mo 7. Mai 2018, 12:27

Mir ist immer noch nicht so richtig klar, was mit "Biographische Philosophie" eigentlich gemeint ist :-(

Geht es um den Gegenstand der Philosophie? (z.B.: Welche Rolle spielt die Biografie für die Identität eines Wesens)
Ihre Methode? (z.B.: Einfließenlassen eigener biografischer Daten in die philosophische Arbeit)
Den Schreibstil? (z.B.: Stil zwischen Roman und Abhandlung)
Die Motivation zur Philosophie? (z.B.: Aufarbeiten der eigenen Geschichte)
Die Ergebnisse? (z.B.: ...)




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Friederike
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Mo 7. Mai 2018, 15:59

Falls ich nichts übersehen habe, dann ist es zu diesem Ausdruck so gekommen (aus dem einleitenden Beitrag):
Stefanie hat geschrieben : Gut, der Titel ist etwas seltsam; vielleicht fällt jemanden ein besserer Titel ein.
Und was Stefanie interessiert, das schreibt sie doch anschließend. :lol:




Tosa Inu
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Mo 7. Mai 2018, 16:57

Es gibt zu dem Thema übrigens ein schönes Buch von Ralf Dahrendorf: Versuchungen der Unfreiheit - Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung.

Anhand von Erasmus von Rotterdam, den Dahrendorf als Archetypen sieht, beschreibt er die Rolle Intellektueller im Ansicht totalitärer Herausforderungen und nennt diejenigen, die sie bestanden haben Erasmier. Vorne dabei: Karl Popper, Raymond Aron und Isaiah Berlin.
Hannah Arendt und Theodor W. Adorno spielen (letzterer soweit ich mich erinnere mit Abzügen in der B-Note) auch ihre Rolle.

Ein insgesamt originelles und lesenswertes Buch.



„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“ (Gottfried Benn, im Brief, nach Zoobesuch der Affen)

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Stefanie
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Mo 7. Mai 2018, 19:28

Mir ist nur aufgefallen, dass einige Philosophen/innen mit einem ähnlichen Lebenshintergrund und einem gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund (1933 - 1945) ähnliche philosophische Gedanken entwickelt haben.
Die eigene Lebensgeschichte als Basis für ihre Philosophie, auch als Motivation, als Aufarbeitung und Bearbeitung dessen, was erlebt wurde. Eine Erklärung, warum es passiert ist. Mit dem Ergebnis, ein Gedankengerüst zu haben, dass zukünftig aufzeigt, wie sowas verhindert werden kann.

Die Frage, welche Rolle spielt die Biographie für die Identität eines Wesens ist, ist unterschwellig mit dabei. Im Hintergrund habe ich auch die Methode der Biographiearbeit im Kopf, und frage mich, ob nicht die Philosophie einiger philosophen/innen eine Art der Biographiearbeit waren.



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Jörn Budesheim
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Mo 7. Mai 2018, 19:39

Ergibt sich daraus nicht eine gewisse Spannung? Denn die Philosophie ist die Wissenschaft von den allgemeinsten Begriffen überhaupt. Während eine Biografie eher zum gegenseitigen Pol gehört, eine Biografie ist ganz besonders, es ist eben diese Biografie und keine andere.




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Stefanie
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Di 8. Mai 2018, 19:58

Es hat etwas gedauert, aber ich habe den Artikel wieder gefunden, in dem anhand eines Buches das Verhältnis von Biographie und der Theorie in der Philosophie angesprochen wird.
Es wird auch Adorno zitiert, ist aber nicht die Stelle, die ich in Erinnerung habe.



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Joachim
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Di 8. Mai 2018, 22:55

Ich muss im Zusammenhang mit dem Thema dieses Threads auch an Augustinus und seine "Confessiones" denken. Anhand seiner Biographie entwickelt er hier ja auch seine Philosophie weiter. Gerade die Kapitel über die Zeit sind ja ziemlich berühmt.

Joachim



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Stefanie
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Mi 9. Mai 2018, 06:06

Tja, wenn Frau einen Link findet, sollte sie diesen auch posten.

http://www.deutschlandfunk.de/philosoph ... or=AD-251-[]-[]-[]-[dlf-mobil]-[]-[]



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Friederike
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Mi 9. Mai 2018, 11:53

Stefanie hat geschrieben :
Mi 9. Mai 2018, 06:06
Tja, wenn Frau einen Link findet, sollte sie diesen auch posten.
Danke für den Hinweis. Nur ein Satz aus der Besprechung von Walter van Rossum über das Buch von Dieter Thomä, Ulrich Schmid, Vincent Kaufmann: "Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie":
WvR hat geschrieben : Es geht bei solchen Beobachtungen nicht darum, ganze Theorie-Gebäude auf biografische Episoden zurückzuführen, um sie damit zum Einsturz zu bringen. Es geht darum, wie die Denker selbst den Zusammenhang von Theorie und Leben thematisieren.




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Friederike
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Mi 9. Mai 2018, 12:02

Am Ende der Rezension:
WvR" hat geschrieben : Manchmal findet das St. Gallener Autorenkollektiv hinreißende Anekdoten oder anekdotische Zugänge, in denen sich Theoriearbeit und Lebensweg wunderbar verschlingen. Bei Michel Foucault zum Beispiel entwickeln sie ihren Faden aus einem einzigen kurzen Text, nämlich der autobiografischen Notiz Foucaults, die sich allerdings nur in der ersten Ausgabe seines ersten Hauptwerks "Folie et déraison" ("Wahnsinn und Vernunft") von 1961 findet. Und die paar Zeilen taugen tatsächlich als Scheinwerfer im Labyrinth.
Das ist bestimmt eine Gemeinheit in voller Absicht, :lol: man wird um die autobiografischen Zeilen gebracht. Hat irgendjemand von Euch die erste Auflage von "W + V"? Oder kann vielleicht geschickter googeln als ich?




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Friederike
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Mi 9. Mai 2018, 17:54

Ich habe sie gefunden, die autobiografische Notiz. Hier, S. 107 in dt. Übersetzung von D. Thomä, einem der Autoren des von Rossums besprochenen Buches.




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Jörn Budesheim
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Mi 9. Mai 2018, 19:05

Man könnte das übrigens als fast nahtlose Fortsetzung des Themas von Thomas Nagel "das objektive Selbst" verstehen.




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