Buchreihe: Analytischer Deutscher Idealismus

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Jörn Budesheim
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Mo 16. Jul 2018, 18:35

Vowort zur Reihe Analytischer Deutscher Idealismus

Die Philosophie des Deutschen Idealismus – und damit meinen
wir die Philosophie von Kant bis Hegel – scheint vielen durch die
analytische Philosophie überholt. Nicht selten wird sie als Gegen-
projekt zu dieser Tradition der Philosophie verstanden. Mit der
Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus wollen wir sichtbar
machen, dass die Philosophie des Deutschen Idealismus keinen
Gegensatz zur analytischen Philosophie darstellt, sondern
umgekehrt ihr Maßstab und Fluchtpunkt ist.

Die Reihe antwortet auf eine intellektuelle und gesellschaftliche
Herausforderung, die durch die Renaissance des Naturalismus in
den Wissenschaften erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit ge-
rückt ist. Sie liegt in der für uns grundlegenden Frage, wie wir es
verstehen können, dass wir geistbegabte Tiere sind, die einerseits
das, was sie tun, aus Freiheit tun, deren Leben aber andererseits
durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, die sie nicht selbst her-
vorgebracht haben. Es ist offenkundig, dass man diese Frage nicht
beantworten kann, indem man ihre eine Seite – die Freiheit des
Menschen – leugnet. Eine Naturalisierung des Geistes, die leug-
net, dass all das, was das menschliche Leben ausmacht – Denken,
Sprechen, Handeln, soziale Institutionen, religiöser Glaube, poli-
tische Ordnungen, Kunstwerke etc. –, Gegenstände sind, die, um
mit Kant zu sprechen, dem Reich der Freiheit angehören, löst das
Problem nicht, sondern kapituliert vor ihm. Doch auch wenn jeder
sieht, dass diese Leugnung, die der Szientismus unablässig predigt,
nicht das Resultat einer Erkenntnis sein kann, sondern vielmehr
Ausdruck einer intellektuellen Hilflosigkeit ist, führt uns diese
Reaktion ebenso vor Augen, dass die Frage nach der Einheit von
Geist und Natur eine echte Frage ist, bei deren Beantwortung unser
Selbstverständnis als geistige Wesen auf dem Spiel steht.
Die beschriebene Situation ist indes nicht neu. Blicken wir ins
18. Jahrhundert zurück, erkennen wir eine ähnliche intellektuelle
Lage. Auch damals war es der Fortschritt der modernen Natur 10
wissenschaften, der unser Selbstverständnis als geistbegabte Tiere
herausgefordert hat. Der Deutsche Idealismus antwortet auf diese
Herausforderung, indem er die Philosophie explizit durch die Fra-
ge nach der Einheit von Geist und Natur definiert. Im Angesicht
der modernen Naturwissenschaft ringt die Philosophie von Kant
bis Hegel darum, die zwei Seiten des Menschen zusammenzu-
bringen: dass er ein Tier ist und doch ein geistiges Wesen, dass er
Natur ist und doch Gesetzen unterliegt, die von anderer Art sind
als die Gesetze der Natur: Gesetzen der Freiheit. Die Philosophie
des Deutschen Idealismus ist von dem Bewusstsein durchdrungen,
dass das Begreifen dieses Verhältnisses – des Verhältnisses von Geist
und Natur, wie Hegel es zu Anfang seiner Enzyklopädie der philoso-
phischen Wissenschaften formuliert – die bestimmende Aufgabe der
Philosophie ist. Wenn wir daher mit der Buchreihe »Analytischer
Deutscher Idealismus« die Philosophie des Deutschen Idealismus
stärken wollen, dann weil wir meinen, dass der Deutsche Idealis-
mus für die intellektuelle Herausforderung, der wir uns gegenüber-
sehen, die maßgebliche Orientierung ist. Der Deutsche Idealismus
liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Damit meinen wir, dass die
Art und Weise, wie der Deutsche Idealismus seine grundlegenden
Begriffe und Ideen, allen voran die Begriffe der Freiheit, der Ver-
nunft und der Selbstbestimmung, entwickelt und artikuliert, dem
gegenwärtigen philosophischen Bewusstsein vielfach unbekannt
und verstellt ist. Das liegt teilweise daran, wie die Philosophie in
Westdeutschland nach 1945 mit diesem philosophischen Erbe um-
gegangen ist. Sie hat ihre durch den Nationalsozialismus verursach-
te Verstümmelung viel zu wenig als solche erfasst und zu heilen
gesucht. Damit hat sie sich in eine Lage gebracht, in der sie aus sich
heraus nicht mehr die Mittel schöpfen konnte, um die Begriffe und
Ideen, in denen sie zu Recht ihre Bedeutung sah, so zu artikulieren,
dass sie als Maßstab der systematischen Arbeit erscheinen konnten.
Für einen großen Teil der Jüngeren wurde dieser Maßstab stattdes-
sen die analytische Philosophie angloamerikanischer Prägung.
So wichtig diese Erneuerung der Philosophie war, so entstand
dadurch doch der falsche Eindruck, die analytische Philosophie
und die Philosophie des Deutschen Idealismus seien Gegensät-
ze, nämlich Orientierungen und Vorgehensweisen, die nicht nur
nichts miteinander zu tun haben, sondern einander ausschließen.
Die Bücher dieser Reihe möchten darum auch sichtbar machen, 11
dass der Deutsche Idealismus von Kant bis Hegel nicht nur kein
Gegensatz zur analytischen Philosophie ist, sondern eine Form,
und zwar eine maßgebliche Form, der analytischen Philosophie.
Der Deutsche Idealismus, als analytische Philosophie, ist eine
Reflexion auf elementare Formen des Denkens und damit auf
die Quelle unserer grundlegenden Begriffe, die diese Begriffe zu-
gleich als notwendig ausweist. Philosophie ist, so sagt es Hegel,
der Versuch, das Denken aus sich selbst zu begreifen. Sie ist ein
Begreifen des Denkens, das von keinen »Voraussetzungen und Ver-
sicherungen« abhängt, wie er sagt, eine radikal voraussetzungslose
Untersuchung der Voraussetzungen des Denkens. Darin liegt der
gemeinsame Zug der Philosophie des Deutschen Idealismus: dass
die Begriffe, die sie durcharbeitet, von nirgendwoher – von keiner
Wissenschaft und keinem Common Sense – übernommen werden,
sondern diese Begriffe nur dann verwendet werden, wenn sie als
notwendig für das Denken erkannt werden. Diese Einsicht, dass
die Philosophie ihre Begriffe nur aus dem Denken selbst nehmen
kann, macht den radikalen Anspruch des Deutschen Idealismus
aus. Und so ist die Idee der analytischen Philosophie, die Idee der
Philosophie als logischer Analyse der grundlegenden Formen des
Denkens und der Aussage, nirgends so streng durchgeführt worden
wie im Deutschen Idealismus.

Unter dem Label »Analytischer Deutscher Idealismus« versam-
melt die Buchreihe Texte und Bücher, die auf exemplarische Weise
Philosophie als analytische Aufklärung verstehen, im Geist und mit
den Begriffen des Deutschen Idealismus. Die analytische Philoso-
phie kommt erst da zu sich selbst, wo sie sich nicht von der ide-
alistischen Philosophie abwendet, sondern auf diese ausgerichtet
ist: in ihren Grundbegriffen und in der Radikalität ihrer Methode.
Das mag manchem als provokante These anmuten, doch es gibt
viele Beispiele, die ihr entsprechen. Gottlob Freges Begriffsschrift,
die vielen als Gründungsdokument der analytischen Philosophie
gilt, ist kein Gegenprojekt zum Deutschen Idealismus, sondern
eine Weiterführung der kritischen Philosophie Kants. Und wenn
wir uns zwei andere große Werke der analytischen Philosophie
vergegenwärtigen, Wilfrid Sellars’ Empiricism and the Philosophy
of Mind (dt.: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes) und
Peter Strawsons The Bounds of Sense (dt.: Die Grenzen des Sinns),
sehen wir, dass sich die herausragenden Repräsentanten der analyti12
schen Philosophie niemals vom Deutschen Idealismus abgewendet,
sondern stets dessen Nähe gesucht haben. Das offizielle Selbstver-
ständnis der analytischen Philosophie, in dem sie sich dem Empi-
rismus verschreibt und sich damit dem Deutschen Idealismus ent-
gegensetzt, ist ein Selbstmissverständnis. Der Empirismus, der sich
für aufgeklärt hält, weil er die empirischen Wissenschaften zum
Maß der Erkenntnis erklärt, ist in Wahrheit der Widersacher der
analytischen Philosophie, nämlich der radikalen, der grundlegen-
den Analyse der Formen unseres Denkens und Verstehens. Soweit
der Empirismus die analytische Philosophie dominiert, verdeckt er
deren eigentliche Orientierung, die dieselbe ist wie die des Deut-
schen Idealismus.

https://www.suhrkamp.de/themen/analytis ... s_303.html




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