wer redet, ist nicht tot

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Jörn Budesheim
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Fr 20. Jul 2018, 10:59

Gottfried Benn hat geschrieben :
KOMMT

Kommt, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not.

Kommt, sagen wir: die Blauen,
kommt, sagen wir: das Rot,
wir hören, lauschen, schauen
wer redet, ist nicht tot.

Allein in deiner Wüste,
in deinem Gobigraun –
du einsamst, keine Büste,
kein Zwiespruch, keine Fraun,

und schon so nah den Klippen,
du kennst dein schwaches Boot –
kommt, öffnet doch die Lippen,
wer redet, ist nicht tot.
Einen Satz verstehen, heißt verstehen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. So oder so ähnlich lautet eine der Bedeutungsanalysen der Sprache. Aber Sprache ist soviel mehr. Wer redet ist nicht tot. Reden ist ein Grundbedürfnis. Dabei geht es doch nicht in vorrangiger Linie um Wahrheit. Sondern ...?

Ja, worum geht es dabei? Diese Frage soll hier beleuchtet werden.




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Stefanie
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Sa 21. Jul 2018, 19:45

...weil wir die Gemeinschaft brauchen. Durch reden, miteinander reden, egal über was, bleibt man in der sozialen Gemeinschaft.


Das Gedicht beginnt ja mit der Aufforderung *Kommt, reden wir zusammen*

Den Artikel habe ich gerade gefunden, da wird das auch angesprochen. Nicht hochgeistig, aber ganz charmant.

https://sz-magazin.sueddeutsche.de/lebe ... eden-77405



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Jörn Budesheim
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Sa 21. Jul 2018, 20:35

Stefanie hat geschrieben :
Sa 21. Jul 2018, 19:45
Durch reden, miteinander reden, egal über was, bleibt man in der sozialen Gemeinschaft.
Ja, das ist ganz sicher ein zentraler Punkt!




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Alethos
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Fr 27. Jul 2018, 23:42

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Fr 20. Jul 2018, 10:59
Einen Satz verstehen, heißt verstehen, was der Fall ist, wenn er wahr ist. So oder so ähnlich lautet eine der Bedeutungsanalysen der Sprache. Aber Sprache ist soviel mehr. Wer redet ist nicht tot. Reden ist ein Grundbedürfnis. Dabei geht es doch nicht in vorrangiger Linie um Wahrheit. Sondern ...?

Ja, worum geht es dabei? Diese Frage soll hier beleuchtet werden.
Es geht sicherlich um Gemeinschaft, wie Stefanie sagte. Das ist, ich würde sagen, eine Grundfunktion von Sprache, dass sie dem Miteinander eine Form bietet, sozusagen die Bedingungen der Möglichkeit von Zweiheit gibt.

Aber die Betonung in diesem Gedicht liegt nicht so sehr auf der Aufforderung zur Gemeinsamkeit oder zum verbindenden Zusammensein. Es scheint eher um etwas Existenzielles zu gehen. Um Leben und Tod. Reden oder Schweigen. Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, heisst es an prominenter Stelle, aber das Schweigen zeigt sich im Lichte dieses Gedichts nicht als attraktive Alternative. Reden heisst doch, ganz nahe an etwas sein: sich selbst, einem Gedanken. Dem Anderen, mit dem man spricht. Es geht um Wärme durch Nähe, es geht um Klang. Um Erfüllung. Reden ist Leben, Schweigen nur Gold.



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Jörn Budesheim
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Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Jul 2018, 23:42
Reden ist Leben
Hier ist der Zettelkasten, ich weiß nicht genau, wie viel Smalltalk mir das erlaubt :)

Wenn ich die Vögel pfeifen höre, stelle ich mir immer vor, dass dieses gemeinschaftliche Pfeifen einen gemeinschaftlichen akustischen Vogel Raum ergibt. Eine Klangwolke. Diese Wolke hält alle, die sie erzeugen, zusammen und gibt jedem an, wo in der Wolke er sich befindet. Ich habe natürlich nicht die geringste Ahnung, ob da was dran ist. Aber mir gefällt die Vorstellung. Und ich denke ganz ähnlich ist es auch mit unserem Sprechen. Der Umstand, dass man überhaupt spricht, erzeugt einen Klangraum, der die, die sprechen umfasst und in irgendeiner Weise - positiv oder negativ - zusammenfügt.

Ich habe mal gelesen, das Sprechen eine Art Grooming (so wie bei den anderen Affen) ist, welches auch auf Distanz funktioniert. Reden wäre dann ein sich gegenseitiges Hegen und Pflegen :) im positiven Fall, oftmals aber auch ein Hauen und Stechen.




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Jörn Budesheim
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So 16. Dez 2018, 06:59

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Wer redet ist nicht tot (Gottfried Benn)

Zu sehen sind Leonard Dowdy und Juanita Morgan im Gespräch mit der Methode Tadoma. Tadoma ist der Name einer Kunstsprache, mit deren Hilfe man mit Menschen kommunizieren kann, die sowohl blind als auch gehörlos geboren wurden (Taubblindheit)




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Alethos
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Mo 9. Sep 2019, 19:56

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 28. Jul 2018, 06:32
Alethos hat geschrieben :
Fr 27. Jul 2018, 23:42
Reden ist Leben
Hier ist der Zettelkasten, ich weiß nicht genau, wie viel Smalltalk mir das erlaubt :)

Wenn ich die Vögel pfeifen höre, stelle ich mir immer vor, dass dieses gemeinschaftliche Pfeifen einen gemeinschaftlichen akustischen Vogel Raum ergibt. Eine Klangwolke. Diese Wolke hält alle, die sie erzeugen, zusammen und gibt jedem an, wo in der Wolke er sich befindet. Ich habe natürlich nicht die geringste Ahnung, ob da was dran ist. Aber mir gefällt die Vorstellung. Und ich denke ganz ähnlich ist es auch mit unserem Sprechen. Der Umstand, dass man überhaupt spricht, erzeugt einen Klangraum, der die, die sprechen umfasst und in irgendeiner Weise - positiv oder negativ - zusammenfügt.

Ich habe mal gelesen, das Sprechen eine Art Grooming (so wie bei den anderen Affen) ist, welches auch auf Distanz funktioniert. Reden wäre dann ein sich gegenseitiges Hegen und Pflegen :) im positiven Fall, oftmals aber auch ein Hauen und Stechen.
Damit dieser Thread nicht stirbt, rede ich. Es ist ein Reden auf Biegen und Brechen, ein Aufbrechen der Stille, ein Biegen des Raums, damit er sich wölbe zum Klangraum. Darin ertöne die Stimme die leise alles ergreift und sagt: Hier. Da. Überall.



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Jörn Budesheim
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Schön gesagt!




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Jörn Budesheim
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Ulla Hahn hat geschrieben : Benn schrieb dieses Gedicht im April 1955, wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tod. Knapp einen Monat zuvor hatte er das viel bekanntere Gedicht „Worte“ abgeschlossen: „Allein du mit den Worten / und das ist wirklich allein“, lauten die ersten Zeilen; und die letzten: „bis in die Träume Silben – / doch schweigend gehst du hin.“ Das ist der gewohnte Bennsche Ton, die selbstgewählte Einsamkeit des Dichters.
Davon hier nichts. Im Gegenteil. „Kommt –“ verlangt nach Austausch, Gespräch. Reden – miteinander reden, die rechten Worte finden – nicht anders als beim Schreiben von Gedichten, diesen Selbstgesprächen des Autors. „Kommt, reden wir zusammen“ – ungeschrieben steht das als Appell vor jedem Gedicht. Jedes Gedicht ist auch eine Aufforderung zum Dialog mit seinem Leser. Ohne Leser vermodert das Gedicht.
Ein gutes Gespräch ist selten: ...

http://www.planetlyrik.de/ulla-hahn-zu- ... t/2015/01/




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