Knipser-Blick, Poster-Blick, Erzähler-Blick

Im Zettelkasten können Zitate und Begriffe hinterlegt werden, auf die du andere Mitglieder des Forums aufmerksam machen möchtest.
Antworten
Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23566
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Sa 8. Sep 2018, 15:59

Nehmen wir an, wir sind im Urlaub, machen einen Spaziergang und haben die Kamera in der Hand - auf der Suche nach Motiven. Nach meiner Erfahrung verändert das den Blick. Man scannt die Landschaft nach Kameramotiven; schaut, ob sie sich als Bild eignet. Im Grunde eine Form der Erblindung, man sieht nicht die Landschaft, sondern nur ihre Eignung zum Motiv. Ähnliches gilt für den Poster-Blick. Der Poster-Blick zeigt uns unsere Umgebung nur im Hinblick auf ihre Brauchbarkeit für ein Facebook-Post oder für Instagram und dergleichen mehr. Das Medium lenkt den Blick ... ab. Der Erzähler-Blick ist das selbe in Wort. Was man erlebt, ist in Gedanken gleich eine Geschichte, die man an den Mann oder die Frau bringen kann.

Ist das so?

Oder ist der Fotoblick vielmehr etwas, was uns dazu bringt, genauer hinzusehen? Der Poster-Blick eröffnet uns Aspekte der Welt, die uns sonst verborgen geblieben wären. Gleiches gilt für Erzählungen ...

Welche der beiden Versionen trifft zu? Oder liegt die Wahrheit knapp neben der Mitte?




Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23566
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Di 11. Sep 2018, 19:41

Hier ein paar interessante Antworten von Facebook Freunden
Dierk Doelle hat geschrieben : Beides - je nach Situation. Aber natürlich begrenzt der Blick durch den Sucher, fokussiert dafür mehr.
Regina Oesterling hat geschrieben : Beides! Es macht nicht nur blind, es lässt auch anders, und dadurch wieder mehr sehen. Und, hinterher, "nachverarbeiten" 🙂
Veronika Olma hat geschrieben : hochspannende Frage, die mich täglich beschäftigt...Ich denke, dass ich genauer schaue, wenn ich den Kamerablick habe. Und Bazi riecht genauer...grins...
Jörn Peter Budesheim hat geschrieben : Wahrscheinlich stimmt das. Dennoch habe ich manchmal das Gefühl, dass ich mich freier fühle und freier sehe, wenn ich weder Kamera noch Handy dabei habe beim Spazierengehen... Dennoch habe ich meistens eins von beiden dabei :) vielleicht steckt manchmal das Gefühl dahinter, dass einem die pure Präsenz des Erlebten nicht genügt, man möchte es auch noch festhalten...

Frei nach Goethe: Verweile doch (in meinem Handy) du bist so schön :)
Albert Herbig hat geschrieben : das wird in der theorie der fotografie viel diskutiert... durch den versuch des festhaltens selektiver wahrnehmungsprozesse, verändert sich die wahrnehmung auf jeden fall
Marie Dix hat geschrieben : ich kanns nicht beantworten, die kamera war schon meine begleitung, da war an posten nicht zu denken, nochnichmal an poster. aber das bewußte weglassen der knipse war auch schon damals lustvoll. einige male hab ichs auch bereut, ohne zu sein.
Dominik von Loesch hat geschrieben : Vielleicht ist Lomografie die Lösung .
Jörn Peter Budesheim hat geschrieben : Warum?
Dominik von Loesch hat geschrieben : weil du einfach drauf los knipst und dir später anschaust was daraus geworden ist. Der Zufall ist der Artdirector..
Veronika Olma hat geschrieben : Spannend finde ich auch die Frage, was man nicht erzählt bzw. zeigt...und warum
Sonja Becher hat geschrieben : Ja, ich denke auch beides, situationsbedingt.

Mir ist beim Wahrnehmen von Orten, Häusern, Landschaften z.B. aufgefallen, dass ich mittlerweile weniger Größe und Weite wahrnehme (trotz Brille 😉). Ich fühle mich weniger verloren und klein in Umgebungen, die ich vor Jahren noch als mächtig wahrgenommen habe. Dadurch habe ich mehr Blick für Details, die mir, als ich jünger war, einfach nicht aufgefallen sind. Ein schönes Gefühl - aufgehoben sein.
Erika Theilacker hat geschrieben : Ich sehe viel genauer, gehe in die Tiefe durchwühle beim Finden und habe unbändige Freude Schätze zu Finden! Danach erst kommt der Kamerablick...
Anja Diederich hat geschrieben : Interessante Frage. Mein Blick verändert sich auch, wenn ich mit der Kamera unterwegs bin. Und nicht nur der: ich mag dann keine Gesellschaft haben. Fotografieren macht also auch einsam..
Dierk Doell hat geschrieben : Quatsch - nicht,wenn noch ein Knipser dabei ist ;-)
Anja Diederich hat geschrieben : das stimmt. Aber gegenüber jemandem ohne Kamera habe ich immer ein schlechtes Gewissen
.
Stephan Cordes hat geschrieben : Wenn ich einige Tage mit Kamera unterwegs war und dann ohne, sehe ich dauernd Dinge, die so schön sind, dass man sie fotografieren müsste, es nun aber nicht kann. Mit Kamera suche ich zu sehr danach, als dass es mir auffallen würde. Jedoch ohne zuvor mit der Kamera unterwegs gewesen zu sein, würde ich diese schönen Dinge gar nicht sehen und sie würden im allgemeinen Hintergrungdrauschen des Alltags untergehen.
Thomas Kalbreier hat geschrieben : Die wahren Abenteuer sind im Kopf... (A.Heller)
Susanne Ramm-Weber hat geschrieben : oh, bei mir ists umgekehrt, wenn ich durch die landschaft geh und mich etwas anblickt, fotografiere ich
Jörn Peter Budesheim hat geschrieben : Guter Punkt!
Claudio Lo Gatto hat geschrieben : ... und am ende verändert/bestimmt/konstruiert/generiert das bild auch noch die erinnerung an das wahrgenommene/erlebte
Thilo Moessner hat geschrieben : ich bin blind und sehe trotzdem alles.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 7322
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Di 11. Sep 2018, 22:37

Erstaunlich. Trotz dieser Antworten kann ich die Ausgangsfrage immer noch nicht wirklich beantworten. Mir fällt es schwer, sich die Ausgangslage - die Kamera mitzunehmen auf der Suche nach einem Motiv - vorzustellen.
Das habe ich nie so gemacht. Es wird dann photographiert, wenn es was zu sehen gibt, was man festhalten möchte. Oft denke ich mittlerweile nicht mehr daran, und vergesse das Smartphone herauszuholen.
Als Jugendliche und junge Erwachsene habe ich viel mit einer Spiegelreflexkamera geknipst. Das war anders als jetzt mit einer Digitalkamera oder Smartphone. Vielleicht auch, weil es erstmal keine Papierbilder mehr sind. Keine Ahnung.
Ausser statische Gegenstände wirkt kein Bild so, wie es in Wirklichkeit aussah, und warum man es festhalten wollte. Das geknipste Bild entspricht nicht der Erinnerung an die Situation. Es fehlt was. Manchmal ist das auch so bei Gegenständen.
Weil mir etwas fehlt, denke ich, dass ich genauer schaue und auch höre und fühle, wenn ich keine Kamera dabei habe. Das hören und fühlen fehlt auf einem Bild. Die gesamtzusammenhange fehlen auf einem Bild.
Ich bin allerdings keine professionelle oder semi professionelle knipserin.

Geschichten erzählen ich gerne, aber nur wenn ich merke, es besteht Interesse oder es könnte Interesse bestehen. Also selten im realen Leben. Hier ist es etwas anders. Aber auch hier erzähle ich nicht alles, was ich alles als Geschichte einstufe.


Erstaunliches Thema.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Benutzeravatar
Jörn Budesheim
Beiträge: 23566
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 09:24
Wohnort: Kassel
Kontaktdaten:

Mi 12. Sep 2018, 18:38

Stefanie hat geschrieben :
Di 11. Sep 2018, 22:37
Ausser statische Gegenstände wirkt kein Bild so, wie es in Wirklichkeit aussah, und warum man es festhalten wollte. Das geknipste Bild entspricht nicht der Erinnerung an die Situation. Es fehlt was. Manchmal ist das auch so bei Gegenständen.
Weil mir etwas fehlt, denke ich, dass ich genauer schaue und auch höre und fühle, wenn ich keine Kamera dabei habe. Das hören und fühlen fehlt auf einem Bild. Die gesamtzusammenhange fehlen auf einem Bild.
Mir fällt dazu ein "Nebensatz" eines Profs ein, dessen Ästhetik-Vorlesungen ich oft besucht habe. Am Rande bemerkte er mal, dass es in der Philosophie eine ausführliche Debatte darüber gegeben hat, ob Photos unseren Wahrnehmungen ähneln. Nach seiner Erläuterung gibt es einen weiten Konsens darüber, dass sie es nicht tun. Ich schätze deine Beschreibung oben dürfte einige wichtige Argumente dafür liefern.




Benutzeravatar
Stefanie
Beiträge: 7322
Registriert: Mi 19. Jul 2017, 20:09

Mi 12. Sep 2018, 20:14

Wenn sich beim fotographieren bzw. bei der Suche nach Motiven der Blick sich ändert, ändert sich auch die Wahrnehmung, so dass doch eigentlich das fertige Bild der Wahrnehmung der Wirklichkeit dann doch entspricht. Oder? Es ist der gewollte Ausschnitt von einer Szene.



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

Antworten