Hat Rilke recht?

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Jörn Budesheim
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Do 15. Aug 2019, 06:32

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Jörn Budesheim
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Di 20. Aug 2019, 08:13

NATURGEDICHT

Die dinge hören nur, wenn du sie rufst
bei ihrem wahren namen

Getäuscht sein will allein
der mensch

Er täuscht sich
aus der welt hinaus, die dinge
kennen kein verzeihn

Reiner Kunze




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Friederike
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Di 20. Aug 2019, 11:53

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Di 20. Aug 2019, 08:13
NATURGEDICHT

Die dinge hören nur, wenn du sie rufst
bei ihrem wahren namen

Getäuscht sein will allein
der mensch

Er täuscht sich
aus der welt hinaus, die dinge
kennen kein verzeihn

Reiner Kunze
O, der Name. Der wahre Name. Der Mensch hat keinen wahren Namen. Viele vielmehr.
Das ist was für die Sinnen- und Begriffssprache, betr. "Name".




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Jörn Budesheim
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Fr 23. Aug 2019, 08:48

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Rainer Maria Rilke! Alles. Die Adern voll Dasein.




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Friederike
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Fr 23. Aug 2019, 10:52

Ich dachte zunächst, es sei Deine Beschriftung. Aber nein, die 5 Worte, die Zeile, sind der 7. Elegie aus den "Duineser Elegien" entnommen.

Hiersein ist herrlich. Ihr wußtet es, Mädchen, ihr auch,
die ihr scheinbar entbehrtet, versankt -, ihr, in den ärgsten
Gassen der Städte, Schwärende, oder dem Abfall
Offene. Denn eine Stunde war jeder, vielleicht nicht
ganz eine Stunde, ein mit den Maßen der Zeit kaum
Meßliches zwischen zwei Weilen -, da sie ein Dasein
hatte. Alles. Die Adern voll Dasein.
Nur, wir vergessen so leicht, was der lachende Nachbar
uns nicht bestätigt oder beneidet. Sichtbar
wollen wirs heben, wo doch das sichtbarste Glück uns
erst zu erkennen sich giebt, wenn wir es innen verwandeln.




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Jörn Budesheim
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Fr 23. Aug 2019, 11:32

Ja, das ist eine meiner Lieblingsstellen überhaupt.




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Jörn Budesheim
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Mo 13. Apr 2020, 18:00

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im Künftigen sich zum Geschenk.
.
Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als das sich eins im Anderen erkennt?
.
Als dass an uns Gleichgültiges erwarmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.
.
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
.
Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.


---

Wieder Rilke - und ich will versuchen, ein zwei Worte dazu zu sagen, es beschäftigt mich seit einiger Zeit.

Das Gedicht startet mit einer kleinen Ontologie, so scheint es mir fast. Die ersten Zeilen handeln von Dingen, Wendungen (Tatsachen?) und der Zeit (Vergangenheit und Zukunft). heute wird uns von überall eingetrichtert, dass unser Gehirn die Welt konstruiert und Fühlen und Denken irgendwo dort zu finden ist. Ganz anders bei Rilke: Formen des Fühlens und des Denkens wehen und winken in den ersten vier Zeilen von den Dingen und Sachverhalten selbst her! Fühlen und Denken sind nicht irgendwie in uns, gar im Gehirn, sondern sie wenden sich an uns. Die Dinge sprechen uns an: Gedenk! Der Tag ist ein Akteur, er erschließt sich uns, macht sich uns zum Geschenk.


Wer macht mit/weiter?




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Jörn Budesheim
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Mo 13. Apr 2020, 18:45

In diesen ersten vier Zeilen und im Grunde im ganzen Gedicht, sind die Dinge und Wendungen auch nicht einfach Gegenstände unseres naturwissenschaftlichen Forschungsinteresses. Die Welt, um die ist hier geht, ist nicht die sprichwörtlich "entzauberte Welt", in der "wir aufgeklärte Zeitgenossen" zu leben meinen. Es geht um alles, was wert ist: Gefühle, was zu bedenken ist, was fremd ist und was ein Geschenk ist.




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Jörn Budesheim
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So 26. Apr 2020, 07:20

BERNHARD MARX in „MEINE WELT BEGINNT BEI DEN DINGEN“ - Rainer Maria Rilke und die Erfahrung der Dinge hat geschrieben :
Dinge, so scheint es, haben eine je sie kennzeichnende ‚Präsenz‘, lassen aufmerken, wecken Gefühle, fordern den Menschen heraus. Dabei macht es offenbar keinen Unterschied, ob es natürliche oder künstliche, materielle oder geistige Dinge sind. NachEdmund Husserl hat alles „Erfahrbares (…) seine Form, es ist ein Ding.“ Das Ding ist also kein bloßer Gegenstand, keine Sache, sondern es wird zum Ding, durch und in der Beziehung des Menschen zu ihm. Damit ist zugleich mitgesagt, daß das Ding welthaft ist, daß das Ding „nicht für sich, nicht allein, nicht ausschließlich als ein ‚dieses selbst‘ begegnet.

Dinge als Dinge befinden sich immer in Zusammenhängen, also je in einer Welt, der sie zugehören und die zu ihnen gehört. (…) Das Ding begegnet – unter anderen Dingen – aus einer Welt heraus und in ihr, es ist, was es ist, nur innerhalb des jeweiligen offenen Weltganzen.“ Die ‚sich zeigenden‘ Dinge sind zugleich die uns in unserer Wahrnehmung ‚zugänglich‘ werdenden Dinge. Maurice Merleau-Ponty schreibt in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung: „Nie ist das Ding von einem es Wahrnehmenden zu trennen, nie kann es wirklich ganz an sich sein, denn all seine Artikulationen sind eben die unserer eigenen Existenz; es ist gesetzt als Ziel unseres Blickes und unserer sinnlichen Erforschung seiner, worin wir es mit Menschlichem bekleiden. Insofern ist jede Wahrnehmung Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns, oder umgekehrt äußere Vollendung unserer Wahrnehmungsvermögen, und also gleich einer Paarung unseres Leibes mit den Dingen. (…)

Ein Ding ist also in der Wahrnehmung nicht wirklich gegeben, sondern von uns innerlich übernommen, rekonstituiert und erlebt, insofern es einer Welt zugehört, deren Grundstrukturen wir in uns selbst tragen und von der es nur eine der möglichen Konkretionen darstellt. “ Michel Serres hat zur Beschreibung dieser Befindlichkeit gar den Begriff der ‚Mischung‘ eingeführt: „Welt und Körper streicheln einander (…) , die Dinge vermischen sich miteinander, und ich bilde darin keine Ausnahme; ich vermische mich mit der Welt, wie sie sich mit mir vermischt. Die Haut tritt zwischen mehrere Dinge der Welt und sorgt dafür, daß sie sich vermischen.“

Die Dinge der Welt sind verwoben mit der Welt der Dinge. Daraus folgert auch Rilke, daß alles ein Ding sein oder ein Ding werden kann: eine Kathedrale, eine Skulptur, ein Bild, ein Gedanke, aber auch eine Pflanze, ein Tier und ein Mensch, ja selbst Gott. Zugleich aber sind dies allererst nur insofern Dinge, als sie einer poetischen Darstellung zugänglich sind.

[Absätze sind von mir]




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Jörn Budesheim
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So 26. Apr 2020, 07:22

szimmer hat geschrieben :
Fr 5. Jul 2019, 21:08
Soweit ich weiß (und wie jeder Mensch weiß ich ja jetzt im Moment und auch immer nicht genug - Sokrates/Platon) kann man Rilke nur schwerlich als Philosophen (im Sinne von "auf der Suche nach einer allgemeingültigen Wahrheit") bezeichnen. Und das meine ich jetzt nicht nur weil er sich bestimmt ungern als Ding bezeichnet sieht.
Bernhard Marx hat geschrieben : Die Dinge der Welt sind verwoben mit der Welt der Dinge. Daraus folgert auch Rilke, daß alles ein Ding sein oder ein Ding werden kann: eine Kathedrale, eine Skulptur, ein Bild, ein Gedanke, aber auch eine Pflanze, ein Tier und ein Mensch, ja selbst Gott. Zugleich aber sind dies allererst nur insofern Dinge, als sie einer poetischen Darstellung zugänglich sind.
Peter Sloterdijk, in Kritik der zynischen Vernunft hat geschrieben : Nicht nur die Wortsprache hat uns etwas zu sagen, auch die Dinge reden zu dem, der seine Sensorien zu gebrauchen versteht. Die Welt ist voller Gestalten, voller Mimik, voller Gesichter; von überall her ergehen an unsere Sinne die Winke der Formen, der Farben, der Atmosphären.
Martin Heidegger, in Das Ding hat geschrieben : Wann und wie kommen die Dinge als Dinge? Sie kommen nicht durch die Machenschaft des Menschen. Sie kommen aber auch nicht ohne die Wachsamkeit der Sterblichen.
Rainer Maria Rilke hat geschrieben : Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im Künftigen sich zum Geschenk.
Rainer Maria Rilke hat geschrieben : Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.




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Jörn Budesheim
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So 26. Apr 2020, 07:43

Irgendwann kam mir der verspätete Gedanke, dass Rilke womöglich ein lyrischer Phänomenologe ist. Und unter den Stichworten Rilke und Phänomenologie wird man im Internet üppig fündig.

Dabei zeigt sich, dass Rilke einen sehr weiten Ding Begriff hat. Alles kann ein Ding sein/werden: "eine Kathedrale, eine Skulptur, ein Bild, ein Gedanke, aber auch eine Pflanze, ein Tier und ein Mensch, ja selbst Gott. Zugleich aber sind dies allererst nur insofern Dinge, als sie einer poetischen Darstellung zugänglich sind." Das verstehe ich so, dass Rilke sich selbst als ein Ding unter Dingen verstehen würde.

"... er sich bestimmt ungern als Ding bezeichnet sieht." (szimmer) wenn Bernhard Marx mit seiner Deutung Recht hat, dann verhält es sich genau umgekehrt wie szimmer vermutet. Und die folgenden berühmten Zeilen Rilkes unterstützen diese Deutung:

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Rilke sagt, dass seine Welt mit den Dingen anfängt und ich würde es so deuten, dass er selbst sich zu diesem Weltinnenraum zählt. Das Zitat von Sloterdijk scheint geradezu eine Interpretation des Gedichtes von Rilke zu sein, mit dem dieser Faden eröffnet hat: "Nicht nur die Wortsprache hat uns etwas zu sagen, auch die Dinge reden zu dem, der seine Sensorien zu gebrauchen versteht. Die Welt ist voller Gestalten, voller Mimik, voller Gesichter; von überall her ergehen an unsere Sinne die Winke der Formen, der Farben, der Atmosphären." (Und das wiederum erinnert mich an den Faden über Walter Benjamin und die Sprache der Dinge.)

In einem ersten Versuch würde ich sagen, dass der Weltinnenraum der Raum ist, der sich einem eröffnet, wenn man - wie Sloterdijk es sagt -seine Sensorien zu gebrauchen versteht. Und das wiederum erinnert mich an die John McDowell Interpretation von David Lauer.
Die heutzutage weithin vorherrschende Auffassung, dass Werte nicht objektiv und nicht natürlich sein können, beruht, so McDowell, auf einer verfehlten Metaphysik, die sich als common sense ausgibt. Es handelt sich um das mit der europäischen Moderne vorherrschend gewordene „entzauberte“ Verständnis der Natur, dem zufolge es Werte, Normen, Gründe und Bedeutung in der Natur nicht geben kann.

Diese Metaphysik setzt ungerechtfertigterweise „was objektiv ist“ bzw. „was natürlich ist“ mit „was sich im Vokabular der Naturwissenschaft beschreiben lässt“ gleich. Sie ist auch in jenen Positionen noch wirksam, die zwar die Irreduzibilität ethischen Diskurses zugestehen, aber dennoch denken, dass dessen metaphysische Respektabilität dadurch erwiesen werden muss, dass die mittels seiner herausgegriffenen Entitäten zumindest auch im Vokabular der Naturwissenschaft individuiert werden können.

McDowell weist jedoch auch hier das Ansinnen einer Fundierung des Normativen im Nicht-Normativen zurück. Es gibt keine Möglichkeit, die ethische Wirklichkeit von außerhalb des ethischen Diskurses – von der Seitenlinie her – zu beschreiben oder zu erfahren. Aber das macht diese Wirklichkeit nicht weniger objektiv. Wieso sollte nur das als objektiv gelten, was unabhängig davon individuierbar und beschreibbar ist, wie sich die Welt für ein menschliches Wesen präsentiert – für ein Wesen mit einer bestimmten leiblichen, sprachlichen und kulturellen Lebensform? Es gibt keinerlei Grund, die Grenzen des Objektiven derart eng zu ziehen.

Objektiv sind alle Beschaffenheiten, die wir als Beschaffenheiten der von uns unterschiedenen Welt erfahren. Es sind aber gerade die irreduzibel an die Perspektive eines menschlichen Wesens gebundenen Qualitäten, die in der Wahrnehmung als von uns unabhängige Beschaffenheiten der Welt erfahren werden. Dinge und Sachverhalte in der Welt präsentieren sich uns als objektiv begehrenswert oder abstoßend, schön oder hässlich, gerecht oder grausam. Es handelt sich dabei nicht um subjektive Projektionen auf eine objektiv nicht-normative Welt, sondern um die Entdeckung immer neuer objektiver Qualitäten der Welt selbst.

Dass die Welt manche ihrer Eigenschaften nur Lebewesen mit einer bestimmten sinnlichen und begrifflichen Ausstattung enthüllt, nicht jedoch anderen, steht nicht im Widerspruch zu der These, dass diese Eigenschaften den Dingen objektiv zukommen und ihr Vorhandensein auch dann eine Tatsache wäre, d.h.: von entsprechenden Lebewesen würde entdeckt werden können, wenn es entsprechende Wesen faktisch nicht (mehr) gäbe oder nie gegeben hätte.

Quelle: http://www.information-philosophie.de/? ... =2&y=1&c=4
[Absätze von mir]
"McDowell weist jedoch auch hier das Ansinnen einer Fundierung des Normativen im Nicht-Normativen zurück." Das schließt im übrigen direkt an den Faden zur aporetischen Existenz an.




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Jörn Budesheim
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So 26. Apr 2020, 08:42

Die Frage lautete ja, ob Rilke recht hat. Das ist natürlich schwer zu sagen, aber falls er der sprichwörtlich entzauberten Welt eine verzauberte gegenüberstellt, die nicht einfach unsere Projektion ist, möchte ich ihm gerne zustimmen!




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