Die Phänomenologie des Lesens

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Stefanie
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Fr 20. Sep 2019, 11:54

Nicht wirklich.
Ich nehme an, es ist ein erlernter, automatisierter Prozess. Buchstaben erfassen, Wörter bilden und erfassen, Sätze bilden und erfassen, Inhalt erfassen.
Bei Texten, in denen es um Inhalte geht, mit denen ich oft zu tun habe, und ich hohe Kenntnisse habe, lese ich oft den Text überfliegend. Bei Romanen zum Teil auch, also das Satzende habe ich schon erfasst, wenn ich noch am Anfang des Satzes bin. Auch bei philosophischen Texten, wenn sie so geschrieben sind, dass sie - wie beschreibe ich es - fließend sind.
Ich lese nur laut, wenn ich was nicht lesen kann, wie Handschriften (hier muss ich still sein, meine Schrift ist auch ähm schwierig zu lesen) oder der Text in kleiner Schriftgröße ist. Beim Tippen von Wörtern, die kompliziert sind, buchstabiere ich mir diese auch mal laut vor.
Aber das, was Alethos beschrieben hat, ist mir fremd. Das ist ja nicht schlimm, dann gehöre ich eben zu der anderen Gruppe.

Dafür kann ich oft meine Träume steuern, oder sogar mit einem festen Vorsatz einschlafen, dass will ich jetzt träumen. Zählt das auch?



Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter.
Goethe

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Alethos
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Fr 20. Sep 2019, 12:49

Stefanie hat geschrieben :
Fr 20. Sep 2019, 11:54
Dafür kann ich oft meine Träume steuern, oder sogar mit einem festen Vorsatz einschlafen, dass will ich jetzt träumen. Zählt das auch?
Ja, das ist gewiss eine ganz schöne Sache. Etwas, das ich gerne könnte.

Das mit den "Gebrumm", das ist wirklich nur, wenn ich tief in der Story drin stecke..wenn der Text so dahin fliesst. Dann kann meine innere Stimme dem Text in der Geschwindigkeit irgendwie nicht mehr folgen und die echoenden Wörter überlappen sich. Schwierig auszudrücken.

Nur kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Lesen ohne 'inneren Klang' möglich ist. Vielleicht gibt es tatsächlich zwei Gruppen von Menschen, das wäre eine ganz spannende Entdeckung für mich. Das wäre, wie du sagst, nicht schlimm, im Gegenteil, es wäre toll. Ein neues Forschungsgebiet: Die Phänomenologie des Lesens :)



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Friederike
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Fr 20. Sep 2019, 13:28

Alethos hat geschrieben :
Fr 20. Sep 2019, 12:49
Stefanie hat geschrieben :
Fr 20. Sep 2019, 11:54
Dafür kann ich oft meine Träume steuern, oder sogar mit einem festen Vorsatz einschlafen, dass will ich jetzt träumen. Zählt das auch?
Ja, das ist gewiss eine ganz schöne Sache. Etwas, das ich gerne könnte.
Ich kann' s auch. Bild




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Alethos
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Fr 20. Sep 2019, 17:41

Cool. Und das klappt bei euch zuverlässig?



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Stefanie
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Fr 20. Sep 2019, 18:22

Natürlich nicht. : - )



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Friederike
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Fr 20. Sep 2019, 18:25

Alethos hat geschrieben :
Fr 20. Sep 2019, 17:41
Cool. Und das klappt bei euch zuverlässig?

Dochja, signifikant - so häufig, daß ichs für nicht zufällig halte.




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Stefanie
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Fr 20. Sep 2019, 18:41

Es klappt nicht immer. Aber es ist was anderes als lesen.



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Alethos
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Fr 20. Sep 2019, 18:53

Gehe ich davon aus. Ich träume wild und immer, was es mir träumen will.



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Jörn Budesheim
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Fr 20. Sep 2019, 20:18

Stefanie hat geschrieben :
Di 17. Sep 2019, 17:55
Ebenso ein Stil, von dem man merkt, es ist mit Absicht hochtrabend und kompliziert geschrieben worden um das Ganze mehr intellektuell erscheinen zu lassen. Das war bei Herrn Rödel der Fall. Der Stil von Schmitz, den wir bei den Gefühle Themen hatten, ist mir zu...Sorry, kitschig.
Ich kann übrigens beides nur schwer nachvollziehen. Bei Kitsch habe ich überhaupt keine Ahnung, wie du da drauf kommst. Und bei Rödl bin ich mir sicher, dass es nicht zutrifft, was du sagst. Ich glaube, der denkt einfach so. Ich habe mir gerade noch mal einen Leseprobe von ihm besorgt. Und ich "höre" ihn natürlich nicht sprechen... aber irgendwie beeindruckt er mich. Vielleicht weil er mich an irgendwelche Grenzen bringt?




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Stefanie
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Fr 20. Sep 2019, 21:41

Schmitz ist stellenweise kitschig. Sorry, und er schrammt mit seinem Stil haarscharf an der Esoterik vorbei. Es geht nicht so sehr um die inhaltlichen Thesen, sondern wie er sie präsentiert.

Hmm, ich kann eine PDF hier nicht hochladen, die Datei wäre zu groß. Und kopieren geht auch nicht, dies ist jetzt blöd. Da gibt es eine gutes Beispiel, was mich meine. Das Beispiel mit der Badewanne finde ich gerade nicht; es war in einem Interview.

Dann eben diese beiden Texte
schmitz_die_Weltspaltung.pdf
(80.33 KiB) 303-mal heruntergeladen
9783895286100.pdf
(2.44 MiB) 304-mal heruntergeladen
Beispiele:

Was sich hier abspielt, ist die Weltspaltung als Selbstspaltung des Menschen im Interesse der Selbstermächtigung gegen die unwillkürlichen Regungen, die in die Seele wie in ein Haus, das das gesamte Erleben eines Bewußthabers
einschließt, eingebaut werden, so dass der Mensch als vernünftige Person Herr im eigenen Hause werden kann und nicht mehr unbeherrschbar einströmenden Impulsen ausgesetzt ist.

Als ich die Weltspaltung durchschaut hatte, wenn auch nicht sogleich ihre geschichtlichen Konsequenzen, erfasste mich die philosophische Aufgabe meines Lebens: die unwillkürliche Lebenserfahrung – d.h. alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne dass sie es sich absichtlich zurechtgelegt haben – zusammenhängendem Begreifen wieder dadurch zugänglich zu machen, daß ich die wichtigsten Massen dieser Lebenserfahrung aus der Introjektion in die privaten Innenwelten zurückholte, aus der Vergessenheit, der sie durch die absichtliche oder vielmehr zum größten Teil unabsichtliche Verpackung in die Seele und Versteckung in deren Ecken und Winkel verfallen waren.

Der Leib ist fast immer – außer z.B. im heftigen Schreck – von solchen Leibesinseln besetzt, ein Gewoge
verschwommener Inseln,
die sich ohne stetigen Zusammenhang meist flüchtig bilden, umbilden und auflösen, in
einigen Fällen aber auch mit mehr oder weniger konstanter Ausrüstung beharren, dies besonders im oralen und analen Bereich und an den Sohlen.

Die ganzheitlichen leiblichen Regungen besetzen einen leiblichen Ganzort, die teilheitlichen leiblichen Regungen
die Orte einzelner Leibesinseln.

Gefühle sind räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären.

atmosphärisch ergossene Räumlichkeit
ortlosen Ergossenheit

das Behagen als Gefühl der Geborgenheit ist dagegen eine Atmosphäre, die den Menschen umhüllt und trägt, wohin er auch geht, und ihm sein Leben leichter macht, wie heiteres Wetter.



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Jörn Budesheim
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Sa 21. Sep 2019, 05:43

Ich kann daran weder etwas kitschiges und noch weniger etwas esoterisches erkennen.

Es gibt bestimmt keine allgemeine Definition von Kitsch ... Aber ich kann mich an einen Vortrag gut erinnern, wo der Autor erläutert hat, dass zum Kitsch stets gehört, dass versucht wird, in uns einen Gefühls-Schalter umzulegen - gleichsam unter Ausschließung der Reflexion. Das, was das Schmitz macht ist sehr weit von entfernt.

Ich kann mich vage an das Badewannen Beispiel entsinnen. Und ich erinnere mich auch, dass ich versucht habe, das nachzuempfinden. So ähnlich wie der Autor es beschrieben hat, ist es auch. Einfach gesagt kann man doch wohl sagen, dass er versucht, das Erleben aus unseren subjektiven Perspektiven möglichst detailgenau nachzuzeichnen. Dass er dafür eigentümliche Begriffe nutzt, liegt auch an den eigentümlichen Erfahrungen, die man dabei macht, wenn man sich wirklich darauf einlässt.




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Jörn Budesheim
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Sa 21. Sep 2019, 19:00

Habe gerade im Park gesessen und ein Aufsatz von Martin Seel gelesen, Titel: "Erscheinendes Gelingen, über das Kunstschöne". Sehr schöner Text übrigens! Leider ist mir erst ganz am Ende eingefallen, mich selbst zu beobachten, wie ich lese. Das ist nämlich gar nicht so einfach, ohne dabei den Vorgang dabei selbst zu verändern.

Ich denke nach wie vor, der Begriff der inneren Stimme trifft es sehr gut. Diese Stimme kann einen auch nicht stören und zwar aus logischen Gründen. Sie ist nämlich das Lesen - das Lesen kann sich nicht selbst stören, sowie das Augenlicht sich nicht selbst die Sicht versperren kann.

Und der Dialog besteht (neben dem "sich selbst Vorlesen", was ein wenig wie das Hören des Autors sein kann) wirklich darin, meine ich, dass man das Buch gelegentlich zur Seite tut, in der Regeln den Kopf etwas hebt, dabei ins Nichts schaut, um über das Gelesene nachzusinnen, Einwände zu erheben, Fragen zu stellen, Lust zu haben, etwas im Forum darüber zu schreiben und dann wieder zum Buch zurückkehrt. Und ich finde, dabei ist der Autor in irgendeiner Form präsent, wenn er nicht wie ein Telefonbuch schreibt oder bloß für das Papier.

Und es ist natürlich, wenn der Text gut ist, eine intellektuelle Lust dabei. wobei ich nicht sicher bin, ob Lust das richtige Wort ist. Es ist eine gewisse Form der Aufregung im positiven Sinn. Warum? Erstens fand ich seine These einfach, gut und sehr passend. Und zweitens ist mir dabei etwas klar geworden über eine Ausstellung bei uns in der Kunsthalle, was mir zuvor nicht klar war. Das ist kein schlechter Ertrag für 10 bis 20 Seiten :)




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Jörn Budesheim
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Mi 25. Sep 2019, 08:47

Nehmen wir mal ein Beispiel:
Georg Henrik von Wright
Das, was da den Buchstaben nach da steht und die Aussprache divergieren ja oftmals. Welche Rolle spielt das, wenn man keine "innere Stimme" hat?




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Alethos
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Mi 25. Sep 2019, 12:02

Jörn Budesheim hat geschrieben :
Sa 21. Sep 2019, 19:00
Und der Dialog besteht (neben dem "sich selbst Vorlesen", was ein wenig wie das Hören des Autors sein kann) wirklich darin, meine ich, dass man das Buch gelegentlich zur Seite tut, in der Regeln den Kopf etwas hebt, dabei ins Nichts schaut, um über das Gelesene nachzusinnen, Einwände zu erheben, Fragen zu stellen, Lust zu haben, etwas im Forum darüber zu schreiben und dann wieder zum Buch zurückkehrt.
Das ist eine schöne Beschreibung des Vorgangs, wie ich ihn auch erlebe. Insbesondere, wenn ich viel Zeit habe zum Lesen, dann lege ich das Buch zur Seite, schaue durch die Dinge hindurch (manchmal schliesse ich auch die Augen) und meine Gedanken drehen um den Text. Der Text klingt immer nach (wörtlich für Klang) und meine Gedanken klingen auch. Gleichzeitig überlagert sich aber auch die Vorstellung ans Forum und an die Personen hier. Es entsteht ein virtueller Dialog unter Vorwegnahme des tatsächlichen Dialogs :) Manchmal höre ich Jörn schon widersprechen, noch bevor ich hier schreibe. Oder Friederike, sanft nachfragen. Das ist ganz verrückt, wenn man es sich so überlegt: Lesen ist nicht bloss die Registrierung von semantischen Gehalten und die Rekonstruktion durch Denken - es ist ein Vergnügen der vollen Sinne. :)

NS: Lust trifft es gut. Lust in einem allgemeinen Sinn verstanden als Wohlgefühl.



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Jörn Budesheim
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Mi 25. Sep 2019, 12:10

Wann hätte ich jemals widersprochen? 😌




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Alethos
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Mi 25. Sep 2019, 12:22

Bis auf wenige Ausnahmen: immer. Es ist sozusagen dein Erkennungszeichen :), so wie bei mir der Hang zur Schwurbelei...



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Mi 2. Okt 2019, 06:23

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Jan Vermeers lesende Frau: Eine Phänomenologie des Lesens?




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Friederike
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Mi 2. Okt 2019, 09:46

Die junge Frau hat ihre morgendliche Aufräumarbeit unterbrochen, um in einem Brief oder auch in ihren eigenen Notizen zu lesen. Warum? Sie will in eine Wirklichkeit eintauchen, die eine völlig andere ist als die ihrer alltäglichen Pflichten. Das geöffnete Fenster läßt nicht nur ein besseres Leselicht in das Zimmer, sondern es ist vor allem das äußere Zeichen, was im Inneren der jungen Frau geschieht. Nichts Aufregendes, vielmehr konzentrierte Aufmerksamkeit, fast Stille.

Ich habe mir das Bild in moderner Version vorzustellen versucht -und ja, es "geht" genau so. Im Handy zu lesen oder auf einem Stuhl vor dem PC-Bildschirm, das Versenken und Versinken in eine andere Welt.




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Friederike
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Mi 2. Okt 2019, 09:54

Ein Liebesbrief ist es, glaube ich, nicht. Irgendetwas in den Gesichtszügen, dem Blick, scheint mir nicht so, als läse sie einen Brief des geliebten Mannes. Vielleicht fehlt das Verklärte ... ich weiß es nicht genau.

Hm, die "Distel meint es ernst" ist natürlich einigermaßen doppeldeutig. Liebessymbol und ziemlich hervorstechend.




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